EINS

1.


Einen Tag früher als geplant brach Hunt Jackson auf. Mitten in der Nacht fuhr er los, während im Fernsehen noch die Conan-O'Brian-Show lief. Zwei Stunden später jagte er mit weit überhöhter Geschwindigkeit an Palm Springs vorbei und weiter in Richtung Osten. Nachdem jetzt endlich die Scheidung rechtskräftig war und Hunt obendrein seinen Job bei Boeing verloren hatte, hielt ihn nichts mehr. Er konnte tun und lassen, was er wollte, und gehen, wohin es ihm gefiel. Er war nicht mehr im alltäglichen Einerlei des Ehelebens gefangen, in den Verhaltensmustern und dem Trott, in die er verfallen war. Er fühlte sich herrlich frei, als er nun über den noch leeren, windgepeitschten Highway raste. Es war eine mondlose Nacht; zahllose Sterne funkelten am Himmel. Klar und deutlich konnte Hunt das Schimmern der Milchstraße sogar durch die getönte Windschutzscheibe des Saab hindurch erkennen.

Ein Saab.

Wann hatte Hunt sich eigentlich in einen Saab-Fahrer verwandelt? Er wusste es nicht, doch es lag schon so weit in der Vergangenheit, dass die Frage ihm beinahe müßig erschien - als gehöre es einfach dazu, sie jetzt zu stellen, auch wenn er eigentlich gar keine Antwort darauf erwartete. Durch die Windschutzscheibe sah er hoch über sich eine Sternschnuppe. Während seiner Kindheit in Tucson waren Sternschnuppen ein fester Bestandteil seines Lebens gewesen, doch erst jetzt ging ihm auf, dass er keine mehr gesehen hatte, seit er nach Süd-Kalifornien gezogen war. In den Nachrichten waren Meteoritenschauer erwähnt worden, fiel ihm jetzt wieder ein; Fernseh-Wetterfrösche hatten dieses Phänomen angekündigt und zugleich erklärt, warum man sie über Los Angeles und dem Gebiet von Orange County nicht würde sehen können - wegen der Luftverschmutzung, der Inversionswetterlage oder der »Lichtverschmutzung«. Hunt war es egal gewesen; er hatte nicht mehr darüber nachgedacht. Doch jetzt, hier draußen auf der Landstraße, begriff er, wie sehr ein sternenklarer Himmel ihm gefehlt hatte.

Mit dröhnender Hupe donnerte ein Sattelschlepper an ihm vorbei. Übermütig hupte Hunt seinerseits und ließ dazu die Lichthupe aufflammen, doch der Truck war schon weit vor ihm, und Hunts Versuch der Aufsässigkeit missglückte. Matt und kraftlos strahlte sein Fernlicht nur noch die Heckklappe des Lasters an, der in der Ferne verschwand.

Gegen drei Uhr früh erreichte er Blythe, und ehe die Sonne über Casa Grande aufging, hatte Hunt bereits Phoenix passiert und hielt Richtung Süden auf Tucson zu. Er frühstückte in einem Fast-Food-Schuppen für Trucker und bestellte eine übermäßig fettige Mahlzeit, die Eileen ihm niemals hätte durchgehen lassen; schließlich war so etwas nicht gut für die Arterien. Und so saß er hier, in einem Fernfahrer-Imbiss mitten in der Wüste, stopfte sich mit Fett und Kalorien voll und starrte auf ein handgemaltes Schild draußen, auf dem »HOLT DIE US AUS DER UN« stand.

Auch wenn die Trennung in beiderseitigem Einvernehmen erfolgt war - verzweifelt hatten sie beide versucht, dieser Hölle aus Streitereien, Geschrei und noch unschöneren Dingen zu entrinnen, zu der ihre Beziehung verkommen war -, musste Hunt in letzter Zeit doch oft an Eileen denken. Er dachte daran, wie er mit ihr zusammengelebt hatte, und versuchte jetzt, sich eine Zukunft ohne sie vorzustellen, doch es wollte ihm nicht gelingen.

Sicher, er fühlte sich freier, als er jemals gewesen war und vielleicht jemals wieder sein würde. Die ganze Welt stand ihm offen. Er konnte hingehen, wohin er wollte. Er konnte nach New Orleans oder nach New York, nach Miami oder Seattle, Chicago oder Honolulu. Aber das wollte er gar nicht, erkannte er nun. Er wollte nach Tucson. Dort war er geboren, dort war er aufgewachsen und zur Schule gegangen, dort hatte er Eileen kennen gelernt. Und jetzt zog er wie ein geprügelter Hund mit eingekniffenem Schwanz ab ...

Sollte er nicht lieber versuchen, ein neues Leben anzufangen und das eintönige Dasein abzuwerfen, in dem er sich verfangen hatte? Noch einmal von vorne anfangen? Vielleicht konnte er sein Leben in die Richtung lenken, in die er es schon längst hätte führen sollen.

Zwanzig Minuten später war Hunt wieder unterwegs, vorbei an der einsamen Schroffheit des Picacho Peak, auf dem Weg in sein altes Zuhause - nach Tucson.


In den zehn Jahren, die er fort gewesen war, hatte Tucson sich sehr verändert. Hunt fuhr durch die Außenbezirke der Stadt und versuchte sich zunächst einmal dort zurechtzufinden, ehe er sich in die Innenstadt wagen wollte. Vom Freeway aus hatte er gesehen, dass sich neue Wohnanlagen und Einkaufszentren entlang der Catalinas im Norden bis weit hinter die Ina Road erstreckten; neue Häuser kletterten im Westen immer höher in die Tucson Mountains in Richtung Gate's Pass hinauf; eine völlig neue Stadt schien südlich der I-10-Auffahrt auf dem Weg zur Mission aus dem Boden geschossen zu sein, und der Rincon District des Saguaro-Nationalparks lag jetzt nicht mehr außerhalb der Stadt, sondern unmittelbar an deren östlichem Rand.

In der Innenstadt waren viele Läden und Restaurants verschwunden; Gebäude waren abgerissen und durch neue ersetzt worden. Der ehemals einzigartige Charakter der Stadt schien einer allgemeinen Gleichförmigkeit gewichen zu sein, den typischen Zeichen der allgemeinen Kalifornisierung Amerikas, die bewirkte, dass es an jeder zweiten Ampel einen Burger King gab und jedes neu errichtete Bürogebäude leicht mediterrane Züge aufwies.

Die Gegend, in der Hunt aufgewachsen war, gab es zwar noch, aber sie sah viel schäbiger aus, als er sie in Erinnerung hatte, regelrecht heruntergekommen. Das Haus, das früher seinen Eltern gehört hatte, machte da keine Ausnahme. Wer immer jetzt dort wohnte, hatte den Vorgarten mittels Gussbeton in einen Parkplatz verwandelt. Jetzt standen dort drei Muscle-Cars aus den Sechzigerjahren in unterschiedlichen Phasen der Restaurierung; die Veranda, die Hunts Vater an der Seite des Hauses angebaut hatte, war abgerissen. Seine Eltern wären entsetzt gewesen, hätten sie das Haus jetzt sehen können. Hunt war versucht, sie anzurufen und ihnen die Bruchbude zu beschreiben, zu der das Haus verkommen war, damit sie sich noch schuldiger fühlten, es verkauft zu haben und fortgezogen zu sein. Doch dann wurde ihm klar, wie kleinlich dies wäre. In Minnesota waren seine Eltern glücklicher. Und wenn ihm das Haus wirklich so wichtig gewesen wäre - warum hatte er es seinen Eltern dann nicht abgekauft, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte?

Nein, das Haus war ihm gar nicht so wichtig. Er wünschte sich einfach nur, seine Eltern wären jetzt hier, weil er sich ein Zuhause wünschte - einen Ort, an den er zurückkehren konnte.

Die Nacht verbrachte er in einem Motel; im Nebenzimmer lag ein Pärchen, das sich lautstark über den Kauf eines Außenbordmotors stritt und dann ebenso lautstark zu Liebesspielchen überging. Am nächsten Morgen kaufte sich Hunt in der Lobby eine Tageszeitung und schaute beim Frühstück die Kleinanzeigen nach einem Haus oder einem Apartment durch, das er mieten konnte.

Jetzt, wo er hier war, erschien ihm die Vorstellung, sämtliche Brücken hinter sich abzubrechen, längst nicht mehr so romantisch. Plötzlich gingen ihm all die lästigen Kleinigkeiten durch den Kopf, die ein solcher Umzug unweigerlich mit sich brachte. Er würde ein Adressänderungsformular beim Postamt ausfüllen und sicherstellen müssen, dass während des Umzugs keine Rechnungen oder wichtigen Briefe verloren gingen; er musste eine neue Telefonnummer beantragen und die Familie und Freunde benachrichtigen; er musste das Abonnement der Los Angeles Times kündigen. Ganz zu schweigen davon, dass er seine Möbel und seine Habseligkeiten hierherschaffen musste.

Vielleicht war das alles den Aufwand gar nicht wert.

Doch.

Es musste sein.

Zumal es Vorteile gab. Zum Beispiel, dass die Mieten in Arizona viel niedriger waren als in Kalifornien. Für den Preis seines kleinen Ein-Zimmer-Apartments dort konnte er hier nicht bloß eine Maisonette-Wohnung mieten, sondern ein richtiges Haus - wenn auch vielleicht nicht gerade in der besten Lage der Stadt.

Genau so etwas fand Hunt dann auch bereits an diesem Morgen nach kurzer Suche: ein Lehmsteinhaus mit drei Zimmern in einer Straße im Südosten der Stadt. Das Haus stand zwischen einer heruntergekommenen Villa im Ranch-Stil und einem Bau, der kaum mehr war als eine Sperrholzhütte, die zu einer erst kürzlich erbauten, schmucken Doppelgarage gehörte. Das einzige weitere Gebäude auf dieser Straßenseite war ein Laden der Circle-K-Kette an der Ecke. Gegenüber erstreckte sich ein Baumwollfeld auf einem der Grundstücke, die irgendwelchen Großunternehmen gehörten, sodass dort weder Häuser noch Scheunen oder Schuppen benötigt wurden.

Doch so ärmlich die Gegend auch sein mochte, irgendetwas daran sprach ihn an. Es mochte nicht der eleganteste Stadtteil sein, aber die Gegend war ländlich und bodenständig, und sie erinnerte Hunt an das Tucson, in dem er aufgewachsen war. Vom kleinen Vorgarten aus konnte er im Osten die Rincons sehen, im Norden die Catalinas, und über sich einen großen Ausschnitt des Himmels. Was konnte er sich mehr wünschen?

Also hatte Hunt sein Handy gezückt und die Nummer gewählt, die unten auf dem ZU-VERMIETEN-Schild stand. Dann hatte er in der Auffahrt gewartet, dass der Eigentümer eintraf.

Fünfundvierzig Minuten später, nach einer kurzen gemeinsamen Begehung des Hauses und einem Abstecher zum Geldautomaten im Circle K, um eine Anzahlung abzuheben, konnte er das Haus haben. Natürlich musste noch seine Kreditwürdigkeit überprüft werden, aber Hunt wusste, dass er da keine Probleme zu erwarten hatte.

Eigentlich war das Haus größer, als notwendig gewesen wäre, doch Hunt gefiel der Gedanke, wieder in einem richtigen Haus zu wohnen. Es gab ihm das Gefühl, wieder solide und sesshaft zu sein, und auch wenn er nur zur Miete wohnte, hatte er jetzt ein willkommenes Gefühl der Beständigkeit, wie er es seit der Trennung von Eileen lange nicht erlebt hatte.

In Hochstimmung fuhr er zum Motel zurück. Jetzt musste er erst einmal nach Kalifornien zurück und seine Habseligkeiten zusammenpacken. Jemanden zu finden, der ihm dabei half, sollte kein Problem darstellen - in seinem Apartmentkomplex gab es ein paar Nachbarn, die er flüchtig kannte -, aber das Ausladen hier in Tucson mochte kniffliger werden. Er dachte an die Sperrholzhütte und die heruntergekommene Villa, die sich wie Buchstützen an sein neues Heim quetschten. Natürlich hätte er die Leute dort fragen können, ob sie ihm halfen, aber er wollte seine neuen Nachbarn nicht gleich mit einer Bitte belästigen.

Also versuchte er, ein paar seiner alten Kumpel anzurufen, doch keiner schien im Telefonbuch zu stehen. Hunt wurde nur zu deutlich klar, wie sehr er die Freunde von einst aus seinem Leben verbannt hatte; er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie im Auge zu behalten oder mit ihnen in Verbindung zu bleiben. Er hatte fast ausschließlich in der Gegenwart gelebt, hatte zugelassen, dass seine Vergangenheit sich von selbst auslöschte, und nur selten hatte er an seine Freunde aus der Kindheit, der Jugend und den ersten Jahren des Erwachsenseins gedacht.

Nun, so schien es, waren die meisten von ihnen verschwunden. Mike arbeitete als Feuerwehrmann in New York, Jordan und Eck waren beide nach Phoenix gezogen, und bei Victor wussten selbst dessen Eltern nicht, was aus ihm geworden war. Aber Joel war noch da, und dafür war Hunt sehr dankbar. Während der Grundschulzeit und in der Junior High School war Joel McCain sein bester Freund gewesen, und auch wenn sie sich später in andere Richtungen entwickelt hatten, hatte es doch immer noch eine gewisse Verbundenheit zwischen ihnen gegeben. Nun rief Hunt ihn an - dankbar, dass es noch jemand Vertrauten in dieser plötzlich so fremden Stadt gab.

Joel war Lehrer geworden und unterrichtete Sozialwissenschaften am Mountain Valley Junior College. Das war bemerkenswert, weil Joel ein gleichgültiger Schüler gewesen war - »faul« war vermutlich das bessere Wort -, und dass er selbst einmal Lehrer würde, hätte Hunt am wenigsten erwartet. Während der Junior-High-Zeit hatte Joel immer gesagt, er wolle Trucker werden. Es gäbe nichts Schöneres, hatte er behauptet, als kreuz und quer durchs Land zu fahren, dabei Musik zu hören und dafür auch noch bezahlt zu werden. Offenbar hatte Joel seine Meinung geändert, nachdem er seinen Abschluss an der High School gemacht hatte.

Joel lachte, als Hunt ihm sagte, er sei überrascht, dass Joel Lehrer geworden sei. »Ich habe mich einfach an diesen Schul-Zeitplan gewöhnt. Ich konnte mir wirklich kein Leben vorstellen, bei dem ich den Sommer über nicht frei habe. Außerdem würde es aus jedem einen vorbildlichen Collegestudenten machen, einen ganzen Sommer lang mit meinem Vater in der Sonne zu ackern. Und was ist mit dir? Was treibst du jetzt so? Bist du nur zu Besuch hier, oder wirst du bleiben?«

Hunt erzählte ihm die ganze Geschichte: Trennung, Scheidung, Verlust des Arbeitsplatzes und wie er sich aus einer Laune heraus dafür entschieden hatte, nach Tucson zurückzukehren.

»Weißt du schon, wo du wohnen kannst?«, wollte Joel wissen.

»Na ja ...«, setzte Hunt an, dem das Ganze jetzt ein wenig peinlich wurde. »Eigentlich rufe ich deswegen an. Ich habe gerade heute etwas gefunden und muss erst wieder nach Kalifornien, um meine Klamotten, Bücher und Platten zu holen - und die paar Möbel, die mir nach der Scheidung geblieben sind. Das ist nicht genug, dass sich ein Umzugsunternehmen lohnen würde, und ich dachte, dann mache ich das eben selbst, und deshalb ...«

»Deshalb brauchst du jemanden, der dir hilft.«

»Ja. Aber viel ist es nicht. Ein Bett. Ein Schlafsofa. Ein großer Fernseher. Ein Esstisch. Den Rest kann ich wahrscheinlich alleine ausräumen. Das wird vielleicht 'ne halbe Stunde dauern.«

»Mach dir keine Sorgen. Ich bin dabei. Ich wollte sowieso vorschlagen, dass wir uns mal wieder sehen.«

»Danke, Joel.«

»Was machst du heute Abend?«

»Hab noch nichts vor.«

»Warum kommst du dann nicht vorbei? Meine Frau und meine Tochter sind auf einem Pfadfindertreffen. Wir könnten über die alten Zeiten reden, ohne aufpassen zu müssen, was wir sagen.«

»Du hast eine Tochter?«

»Lilly. Ist jetzt acht.«

»Meine Güte, ich kann mich noch erinnern, als wir acht waren«, sagte Hunt. Und es kam ihm vor, als wäre das noch nicht einmal so lange her.

»Ja. Ist schon irre, wie schnell die Zeit vergeht, was?«

»Allerdings«, sagte Hunt.

Joel gab ihm die Adresse und eine Wegbeschreibung zu seinem Haus. Nachdem Hunt einen Hotel-Notizblock und einen Stift gefunden hatte, schrieb er sich alles auf. Dann verabschiedeten sich die beiden. Bis sieben Uhr - auf die Zeit hatte er sich mit Joel geeinigt - hatte er noch Zeit, also beschloss er, ein wenig durch die Gegend zu fahren und ein paar seiner Lieblingsplätze von früher aufzusuchen.

Hunt verspürte das Bedürfnis, Eileen anzurufen und ihr zu erzählen, dass er umziehen werde - warum, wusste er selbst nicht. In den letzten anderthalb Jahren waren sie nicht gerade gut miteinander ausgekommen. Außerdem waren ihre Vermögenswerte aufgeteilt; Alimente standen Eileen nicht zu, und laut Gesetz gab es keine wechselseitigen Verpflichtungen mehr. Dennoch erschien es Hunt sonderbar, dass er sich überhaupt nicht mehr um sie kümmern sollte; dass er nicht mehr verpflichtet sein sollte, sie über seinen aktuellen Aufenthaltsort in Kenntnis zu setzen. Er war es nicht gewohnt, alleine zu sein.

Den Nachmittag verbrachte er damit, durch Antiquariate und Schallplattenläden zu streunen. Ein paar seiner Lieblingsgeschäfte von früher gab es nicht mehr, doch zwei Läden der Bookmans-Kette existierten noch, und er fand ein paar Chick-Corea-Alben und den Roman Das Geheimnis der Goldmine, den er als Teenager einmal gelesen hatte. Dann schaute er sich in einem Möbellager der Heilsarmee und einem Secondhand-Laden der St. Vincent-dePaul-Society um, fand aber nicht das Richtige. Nachdem er zu seinem Motel zurückgekehrt und kurz in den Swimmingpool gesprungen war, bestellte er sich eine Pizza und aß sie, während er sich die Nachrichten anschaute. Dann machte er sich auf den Weg.

Joel wohnte in einem relativ neuen Stadtviertel, nur wenige Meilen von Hunts neuem Haus entfernt. Die Häuser waren ziemlich groß, die Vorgärten jedoch kaum der Rede wert. Das gleichförmige Aussehen der Bäume und Hecken, die aufeinander abgestimmten Briefkästen und das für die gesamte Siedlung gleiche Farbschema ließen Hunt vermuten, dass hier eine Eigentümervereinigung das Sagen hatte. Auch wenn diese Häuser offensichtlich deutlich teurer waren als das, was Hunt gerade erst angemietet hatte, hätte wohl keine Macht der Welt ihn dazu bringen können, hier einzuziehen.

Die gleichförmigen Nachbarhäuser und der weiße Geländewagen, der in Joels Einfahrt stand - und der sich kein bisschen von den Wagen unterschied, die vor den umliegenden Häusern geparkt waren -, machten Hunt anfangs skeptisch, doch Joel erwies sich als der gleiche verschrobene, lustige, ein wenig zynische Kerl, den er von früher kannte. Die Einrichtung des Hauses strafte das konventionelle Äußere Lügen, als wäre die Fassade nur eine geschickte Tarnung, um niemanden erahnen zu lassen, was sich dahinter verbarg. Das Mobiliar war auf unkonventionelle Weise bunt zusammengewürfelt. Als Bücherschrank im Wohnzimmer diente eine riesige Hausbar, von der Joel berichtete, er habe sie aus der Bar einer alten Geisterstadt hinter McGuane »gerettet«, und das Wüsten-Terrarium, das gleich daneben stand, befand sich in der übergroßen Glaskugel einer alten Zapfsäule. Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers war ein vertrockneter Saguaro-Kaktus zu einer Stehlampe umgearbeitet worden. In Joels Arbeitszimmer stand eine Rohleder-Couch neben einem Beistelltisch, der aus einem schwarzen Felsbrocken und einer Glasscheibe bestand. Eine Wand des Zimmers wurde vom Neonschild einer vermutlich abgerissenen Hamburger-Bude eingenommen, auf dem BURGERS, FRIES, SHAKES stand.

»Coole Bude«, sagte Hunt, und seine Stimme verriet ehrliche Bewunderung.

»Nicht wahr?«

»Erinnerst du dich an unser Clubhaus? Roland hatte das Stoppschild vom Highway geklaut, und dann hatten wir noch diesen alten Spiegel, den wir im Sperrmüll gefunden und neben das Mötley-Crüe-Poster gehängt hatten, das uns Mikes Bruder geschenkt hat. Das hier«, er machte eine Armbewegung, die den ganzen Raum einschloss, »ist genau das, was wir immer wollten.«

»Ja. Das hätte uns wirklich gefallen. Vor allem das Neonschild.« Joel lachte. »Ich habe das ästhetische Empfinden eines Achtjährigen!«

»Nein, du hast es einfach nur geschafft«, sagte Hunt. »Und dafür hast du dich nicht selbst verraten müssen.«

Joel klopfte Hunt auf die Schulter. »Ich freue mich, dass du wieder da bist, alter Junge. Ich hab's bisher nicht gewusst, aber ich habe dich vermisst.«

»Ich dich auch.«

Sie gingen ins Wohnzimmer zurück.

»Hast du noch Kontakt zu den Jungs von früher?«, fragte Hunt.

Joel schüttelte den Kopf. »Nee. Ich kriege jedes Jahr eine Weihnachtskarte von Jordan, und ich schicke ihm auch eine, aber damit hat es sich auch schon.« Hunt merkte ihm an, dass ihm das Thema unangenehm war. »Ich weiß gar nicht warum. Ich habe bisher nie darüber nachgedacht, und es gibt auch keine Entschuldigung dafür.«

»Das sagt mir alles, das sagt mir alles!«, gab Hunt zurück und klang wie in alten Zeiten nach Monty Python.

»Hast du vor, die alte Truppe wieder zusammenzutrommeln?«, fragte Joel.

»Eigentlich nicht. Ich habe ein bisschen herumtelefoniert. Die meisten Jungs sind weg, in alle Himmelsrichtungen verstreut. Bei Victor wissen nicht mal die Eltern, wo er abgeblieben ist.«

Joel legte die Stirn in Falten. »Victor?«

»Ach ja, den kannte ich erst seit der Highschool. Victor hast du wahrscheinlich gar nicht kennen gelernt.«

Joel legte Musik auf und holte Bier, und die nächste Stunde saßen sie zusammen und sprachen über die alten Zeiten.

Als Hunt auf die Uhr schaute, war es schon nach acht. »Ist spät geworden«, sagte er und stand auf.

»Du musst doch nicht schon weg?«, fragte Joel.

»Nun ja, ich ...«

»Komm, bleib noch!«

»Mein Motel ist am anderen Ende der Stadt, und ich muss morgen früh raus. Bis Seal Beach ist es weit.«

»Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass du morgen schon zurück willst«, sagte Joel.

Einen Augenblick dachte Hunt nach; dann setzte er sich wieder. »Ach, was soll's.« Er betrachtete die eingerahmten Fotos der Familie, die auf dem Schrank der Stereoanlage aufgestellt waren. »Sind das deine beiden Frauen?«

»Ja.«

Hunt stand auf, um sich Joels Familie genauer anzuschauen. Er betrachtete ein Foto, das Joel zusammen mit einem hübschen jungen Mädchen in Disneyland vor dem Matterhorn zeigte, und ein weiteres Bild von demselben Mädchen, diesmal zusammen mit ihrer lächelnden Mutter am Grand Canyon, und schließlich ein Foto von allen dreien vor dem Giraffen-Gehege in einem Zoo. Irgendetwas an der Frau kam Hunt bekannt vor, und er schaute sich die Bilder genauer an, bis ihm ein Gedanke kam.

Ungläubig drehte er sich zu Joel um. »Du hast Stacy Williams geheiratet?«

Sein Freund grinste. »Jou.«

»Wow!«

»Das sage ich mir auch dauernd, jeden Tag auf's Neue.«

Die Stacy, die Hunt von früher kannte, war ausnehmend hübsch gewesen, Jahrgangsbeste an der Highschool, Cheerleaderin, Chefredakteurin der Schülerzeitung und umschwärmter Star der Schule. Sie hatte zu den Girls gehört, an die Hunt und Joel niemals herangekommen wären. Stacy Williams spielte in einer anderen Liga und hatte wahrscheinlich nicht einmal von der Existenz ihrer Bewunderer gewusst.

Und nun hatte Joel sie geheiratet!

Hunt stellte die einzige Frage, die in diesem Zusammenhang logisch war: »Wie ist das denn passiert?«

»Wir sind beide auf die University of Arizona gegangen, und da haben wir uns im Soziologiekurs wiedergetroffen. Oder besser, da hat sie mich zum ersten Mal gesehen. Ich wusste natürlich ganz genau, wer sie war, deswegen hatte ich mich neben sie gesetzt. Als ich dann beiläufig erwähnte, dass ich auf der John Adams gewesen war, hatte ich so gut wie gewonnen, denn Stacy hatte zu der Zeit niemanden und fühlte sich überfordert. Deshalb war sie froh, einen Bekannten zu treffen, mit dem sie reden konnte. Na ja, vielleicht nicht gerade einen Bekannten, aber doch jemanden, der aus der gleichen Ecke kam. Wir sind gut miteinander ausgekommen, haben zusammen gebüffelt und sind ein paarmal was trinken gegangen. Ich hätte nicht gedacht, dass daraus mehr würde oder dass ich überhaupt eine Chance bei ihr habe - schließlich war Stacy die heißeste Braut an unserer alten Schule. Dann, nach dem letzten Kurs, habe ich eine Weihnachtskarte von ihr bekommen. Sie hat sich bedankt, jemanden gehabt zu haben, mit dem sie reden konnte, und der ihr geholfen hat, ein hartes Semester zu überstehen. Unten auf die Karte hatte sie ihre Telefonnummer geschrieben. Tja, da hab ich sie kurz entschlossen zum Essen eingeladen. Bald darauf waren wir zusammen. Und nachdem wir beide unseren Abschluss hatten, habe ich sie geheiratet.«

In diesem Augenblick wurde die Haustür geöffnet, und mit großen Schritten betraten Joels Frau und seine Tochter die Diele. Sie redeten, lachten und stellten lautstark Plastiktüten vor der Garderobe ab. Stacy war noch hübscher als auf den Fotos und noch schöner als während der Highschoolzeit, und sie hatte eine sachliche, nüchterne Art, die ihren Charme nur noch betonte.

»Sie müssen Hunt sein«, sagte sie und streckte ihren Arm an Lilly vorbei, um ihm die Hand zu schütteln. »Schön, Sie kennen zu lernen. Joel hat erzählt, Sie hätten angerufen und würden vorbeikommen. Sie waren auch auf der John Adams, oder?«

Er nickte. »Und auf der Bodie Junior High.«

»Ich auch!« Stacy schob ihre Tochter zur Treppe. »Tut mir leid, dass ich hier so eine Hektik mache, aber das Treffen hat länger gedauert als erwartet, und Lilly sollte längst schlafen. Morgen ist Schule«, erklärte sie. »Ich bring sie rasch ins Bett, dann komme ich zu euch. Sag gute Nacht, Lilly!«

»Gute Nacht«, sagte das Mädchen artig.

»Gute Nacht«, sagte Hunt.

Die beiden eilten die Treppe hinauf.

Hunt schüttelte den Kopf. »Stacy Williams.«

»Jetzt Stacy McCain.«

»Du hast echt Schwein, weißt du das?«

»Oh ja, ich weiß. Warte 'nen Augenblick. Ich gehe eben rauf und sage Lilly gute Nacht. Bin gleich wieder da.«

»Okay.«

Joel ging zur Treppe.

»Sag mal, deine Frau hat nicht zufällig Single-Freundinnen?«, fragte Hunt.

Grinsend wandte Joel sich um. »Kann schon sein«, sagte er. »Gut möglich.«

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