1.
Montagmorgen.
Steve saß hinter einem fleckigen, ramponierten Schreibtisch im Büro gleich neben dem Hof der Abteilung Landschaftspflege und verzog mürrisch das Gesicht. »Wenn es nach mir gegangen wäre, wärst du nicht wieder zurückgekommen«, sagte er. »Ich hätte dich am gleichen Tag rausgeschmissen, an dem du in den Knast gewandert bist. Und glaub mir - wenn du für irgendeine private Firma arbeiten würdest, wäre genau das geschehen.« Seine Stimme bebte vor Abscheu. »Aber wir sind hier nun mal ein staatlicher Verein. Und das bedeutet, dass jeder Loser auf diesem beschissenen Planeten sich am Trog sattfressen kann. Zumindest so lange, bis die Bosse eure Arbeitsplätze an Fremdfirmen vergeben.«
»Wenn du es so schlimm findest, warum arbeitest du dann eigentlich hier?«, fragte Hunt.
»Ich will hier keine markigen Sprüche hören! Ich muss dir vielleicht deinen alten Job zurückgeben, aber ich brauche mir nicht auch noch deine Aufsässigkeit gefallen zu lassen!« Der Chef der Abteilung Landschaftspflege warf Hunt einen finsteren Blick zu, worauf diese respektvoll schwieg. »Wie ich schon sagte, wird dir das Gehalt für die vier Tage abgezogen, die du nicht gearbeitet hast. Für diese Tage hast du deine Karte nicht abstempeln lassen können - wenn du also deinen Zeitplan in die Finger kriegst, dann trag die Fehltage ein, bevor du unterschreibst.«
Hunt hatte recht gehabt. Dass er festgenommen worden war, hatte sich unter sämtlichen Angestellten der Bezirksverwaltung wie ein Lauffeuer verbreitet. Einer von ihnen war ein Kinderschänder! Glücklicherweise glaubte das keiner von denen, die Hunt persönlich kannte: Niemand aus der Baumbeschnitt-Abteilung hatte diesen Vorwürfen Glauben geschenkt. Doch außerhalb dieses kleinen Kreises nahm der Glaube an Hunts Unschuld rapide ab, und zweifellos glaubte jeder bei den anderen Abteilungen der Landschaftspflege - wie auch die Mitarbeiter in den anderen Fachbereichen - fest an die alte Regel: »Wo Rauch ist, da ist auch Feuer.« Folglich war Hunt schuldig. Und zu den Leuten, die ihn für schuldig hielten, gehörte auch Steve.
»Rein persönlich«, sagte der Abteilungsleiter, »widerst du mich an. Ich will dein Gesicht hier morgens nicht mehr sehen, und ich will auch nicht, dass du mich ansprichst. Wenn ich dir irgendetwas zu sagen habe, bekommst du es schriftlich.«
Edward steckte den Kopf durch die offene Tür. »Hey, Steve! Wie läuft's mit dem Haus?«
Vom Hof waren spöttisches Glucksen und laute Lacher zu vernehmen. »Wenn es nach mir ginge, würden eure Arbeitsplätze extern vergeben! Und ich werde jeden Tag aufs Neue lachen, wenn ich mir die Berichte der Firmen ansehe, die eure Jobs übernommen haben, ihr nutzlosen Clowns!«
»Wenn wir fliegen, dann fliegst du auch, Steve!«, rief Chris Hewitt. »Niemand braucht einen Chef der Abteilung Landschaftspflege, wenn es keine Abteilung Landschaftspflege mehr gibt!«
Steve wandte sich wieder Hunt zu. »Mir reicht es schon, wenn die Baumbeschneider verschwinden. Und jetzt mach, dass du rauskommst und an die Arbeit gehst!«
Die Trupps machten sich abfahrbereit. Edward und Jorge hatten den Mulcher an ihren Laster gehängt und standen nun da, ans Fahrerhaus gelehnt, tranken Kaffee und warteten. »Können wir los, Jungs?«, fragte Hunt und ging über den asphaltierten Hof zu ihnen.
Edward grinste. »Du bist wieder da?«
»Ich bin wieder da, Baby!«
Edward lachte, und Jorge gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »Nichts wie weg hier, Kumpel!«
Auf dem Weg hinaus nach Tanque Verde, wo sie die nächste Woche arbeiten sollten, war Hunt sehr schweigsam. Er saß vorne neben Edward, doch es war Jorge, der von der Rückbank aus das Gespräch in Gang hielt und Hunt immer weiter nach Details ausfragte, während sie sich langsam ihren Weg durch den morgendlichen Stop-and-Go-Verkehr bahnten. Schließlich lieferte Hunt ihnen eine verkürzte Zusammenfassung der Geschehnisse - sogar eine leicht entschärfte Version der Wahrheit -, doch Jorge war immer noch nicht zufrieden, und Hunt wusste genau, was Sache war: Sein Freund spürte, dass er noch etwas verbarg.
Sie erreichten das Stück Land, auf dem sie die kommende Woche arbeiten sollten. Edward fuhr an den Randstreifen und stellte den Wagen neben einem verbrannten Grünholzbaum ab. Die drei stiegen aus. Hunt schüttete den Rest seines kalten Kaffees auf den Boden und warf den leeren Becher einfach in den Laster. Während er den Mulcher von der Anhängerkupplung löste, schaute Edward zu ihm hinüber. »Du kannst es uns ruhig erzählen, wenn du willst«, sagte er. »Egal was du sagst, keiner von uns wird es weitererzählen.«
Hunt war sich immer noch nicht sicher, dass selbst seine Freunde die wilde Geschichte glauben würden, doch er sah die Mienen von Edward und Jorge und beschloss, ins kalte Wasser zu springen.
Er erzählte ihnen alles. Vom ersten Angebot einer Zusatzversicherung, die ihn vor einer Festnahme schützen sollte, bis zu Kates Tod und dem Verschwinden sämtlicher Videokassetten, auf denen sich ihre Aussage befunden hatte.
»Das ist ein bisschen schwer zu glauben«, gab Edward zu, als Hunt fertig war. »Dein Versicherungsvertreter als Schutzengel?«
»Engel trifft es nun gar nicht. Vielleicht ist Teufel das passende Wort.«
»Bestimmt sogar«, erklärte Jorge etwas zu laut und zu nachdrücklich.
Hunt und Edward drehten sich zu ihm um.
»Der Vertreter hat uns bedrängt, eine zusätzliche Krankenversicherung abzuschließen, bevor das Baby zur Welt kommt. Er hat Ynez ein Flugblatt mit Bildern missgestalteter Kinder gegeben.«
Hunt spürte, wie sich auf seinen Unterarmen Gänsehaut ausbreitete.
»Wartet mal!« Edward legte die Stirn in Falten. »Ist das der gleiche Kerl? Der Klinkenputzer?«
»Ja«, bestätigten Hunt und Jorge wie aus einem Munde.
Edward schüttelte den Kopf. »Oh Mann! Ich wusste, dass ihr euch mit dem nicht hättet einlassen sollen.«
»Dann glaubst du uns?«, fragte Hunt.
»Zumindest bezweifle ich nicht, was ihr erzählt.« Er wandte sich Jorge zu. »Hast du dieses Flugblatt aufgehoben? Für so was könnte der Typ in den Knast wandern. Wegen Belästigung oder Erpressung. Ihr könntet den Schrieb ans Justizministerium weiterleiten. Der Staat untersucht zweifelhafte Versicherungspraktiken.«
»Die untersuchen Versicherungsbetrug«, gab Hunt zurück. »Das ist aber kein Betrug. Das ist echt.«
»Was wisst ihr über die Versicherung, für die der Kerl arbeitet?«
»Die Insurance Group? Nicht viel. Angeblich ist es eine Interessensgemeinschaft verschiedener Versicherungsträger, alle sehr alt und sehr angesehen. Ich hab den Eindruck, als hätten die schon zahlreiche Preise für die Qualität ihrer Leistungen und für die Kundenzufriedenheit erhalten.«
»Ihr habt nicht mal was über die in Erfahrung gebracht? Ihr habt noch nicht einmal rausgekriegt, wer die eigentlich sind?«
»Das wollte ich ja«, gab Hunt zurück. »Aber dann ist mir etwas dazwischengekommen.«
»Ich weiß noch nicht mal, wie die heißen«, gestand Jorge. »Auf der Karte, die der Typ mir gegeben hat, stand nur ›Quality Insurance‹.«
»Ich werde mal sehen, was ich heute Abend rauskriegen kann«, versprach Hunt.
»Mir fällt da gerade was ein«, sagte Jorge. »Meinst du, das könnte mit deinen anderen Versicherungsproblemen zusammenhängen? Mit dem Haus, das du gemietet hast, und deinem Auto und so? Meinst du, da könnte es einen Zusammenhang geben?«
Darüber hatte Hunt noch gar nicht nachgedacht. Er war so brutal und unvermittelt in diese neue Welt geschleudert worden, dass er kaum Zeit gefunden hatte, zu Atem zu kommen - geschweige denn zu analysieren, ob es vielleicht einen Zusammenhang zwischen den bizarren Policen dieses Versicherungsvertreters und allem anderen gab, was vorher geschehen war. Aber jetzt, wo er darüber nachdachte ...
Halb Affenarsch, viertel vor Ho-den-sack.
Ja. Sie konnten definitiv zusammenhängen.
»Wahrscheinlich«, sagte er.
Edward nickte. »Wenn Jorge recht hat, hat man dich vielleicht mit diesen Schwierigkeiten mürbe gemacht, damit du bei diesem Klinkenputzer irgendwelche Policen unterschreibst.«
So hatte Hunt das Ganze noch gar nicht gesehen, aber es ergab verdammt viel Sinn.
Das Funkgerät des Lasters knackte, als Steve versuchte, Verbindung mit ihnen aufzunehmen und sich den Stand der Dinge melden zu lassen.
Niemand machte sich die Mühe, ihm zu antworten, und sie ignorierten auch die gebrüllte Aufforderung des Abteilungsleiters, sich endlich zu melden. Stattdessen hob Edward die Deichsel des Anhängers an und machte sich daran, die Maschine über den unkrautüberwucherten Weg zu dem verbrannten Grünholzbaum zu schieben. »Wir sollten loslegen. Wir haben heute viel zu tun. Wir können ja während des Schneidens weiterreden.«
Jorge griff nach den Werkzeugen, die auf der Ladefläche des Trucks lagen. »Und was willst du jetzt tun?«, fragte Jorge. »Willst du diese Zusatz-Krankenversicherung abschließen?«
Hunt seufzte schwer. »Hab ich 'ne andere Wahl?«
Nach Feierabend wählte Hunt sich ins Internet ein, um festzustellen, was er über die Insurance Group herausfinden konnte. Die Gesellschaft hatte keine eigene Homepage - das alleine war schon verdächtig -, doch die Suche, die er dann einleitete, ergab ungefähr 25.000 Treffer für »Insurance Group«. Bedauerlicherweise erwiesen sich die einzelnen Einträge, wie es bei Internet-Recherchen nur allzu oft der Fall war, als kaum oder gar nicht zum eigentlichen Suchobjekt gehörig. Er fand Anzeigen für Firmen, die in ihrem Titel die Worte »Insurance Group« führten - wie »The Hartford Insurance Group« oder »The Insurance Group of Maine« -, und Informationen sowie Artikel über praktisch jede andere Versicherung, die es gab. Er stieß auch auf die Homepage von »The Group«, eine Pornoseite für Swinger.
Beth brachte ihm das Abendessen an seinen Schreibtisch, und Hunt machte weiter. Als er schließlich nach Mitternacht seine Suche beendete - er hatte gerade mal ein paar Hundert Einträge überprüft -, hatte er keinen einzigen Hinweis auf die Insurance Group gefunden. Wie konnte so etwas möglich sein?
Doch Hunt war Hardware-Experte, kein Software-Spezialist, und er war schon versucht, einen seiner alten Bekannten aus Kalifornien anzurufen, einen Programmierer bei Boeing, um ihn zu fragen, wie man eine Suche so weit einschränken konnte, dass nur die Artikel aufgelistet wurden, in denen explizit »The Insurance Group« erwähnt wurde, ohne weitere Modifikatoren oder Qualifikatoren. Doch es war schon zu spät, um jetzt noch jemanden damit zu belästigen. Außerdem ahnte Hunt schon jetzt, dass auch dieser Versuch vergeblich sein würde, also ließ er es bleiben.
»The Insurance Group« ließ sich im Internet nicht finden. Und auch nicht im Telefonbuch.
Man konnte sie nur über ihren Versicherungsvertreter erreichen.
Hunt wusste nicht, woher er so sicher war, dass es stimmte. Aber er wusste es.
Und das machte ihm Angst.