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In jenem Herbst verstand ich, warum es für Philon von Nutzen sein würde, einen christlichen Assistenten zu haben. Wir hatten unter unseren Patienten – und zwar vor allem unter jenen der ärmeren Klasse – plötzlich einen Haufen Leute mit Viertagefieber, Wassersucht und Typhus. Ein Patient in einer einigermaßen ordentlichen Familie, selbst ein Sklave in einem anständigen Haus hat durchaus die Möglichkeit, sich von solchen Leiden zu erholen. Aber wenn arme Männer oder Frauen krank wurden, hatten sie oft niemanden, der sie pflegen oder ihnen etwas zu essen bringen konnte. Sie versuchten, nach wie vor zu arbeiten, schwächten sich damit nur immer weiter und starben schließlich, falls sie nicht in ein Hospital geschafft werden konnten.
Die großen Hospitäler Alexandriens waren barmherzige Einrichtungen, die von dem beim Volk sehr beliebten Erzbischof Athanasios geleitet wurden. Sie wurden auf Kosten der Kirche unterhalten, und man pflegte und ernährte dort viele schwerkranke Menschen, bis sie sich entweder erholten oder starben. Insofern waren sie angesehene und bewundernswerte Einrichtungen.
Doch sie bereiteten Philon ununterbrochen Ärger. Das Problem bestand darin, daß die Krankenpfleger in diesen Hospitälern fast alle Mönche waren. Bevor ich nach Alexandria kam, hatte ich keine Mönche kennengelernt. Ich hatte zwar von ihnen gehört, doch man sprach von ihnen immer nur als schmutzige, dumme Bauern, als Männer, die von zu Hause fortgelaufen waren, um keine Steuern bezahlen zu müssen. Die Ägypter jedoch bewunderten die Mönche außerordentlich – sie bewundern alle Asketen, mögen es nun Heiden oder Christen sein. Nachdem ich ein paar von ihnen kennengelernt hatte, mußte ich zugeben, daß sie mehr als nur faule Steuerflüchtlinge waren. Sie waren aus dem Stoff, aus dem Märtyrer gemacht werden: voller Hingabe gottesfürchtig, redlich und selbstlos. Mit bewundernswertem Mut und großer Geduld pflegten sie die Opfer der ansteckendsten und gefährlichsten Krankheiten. Aber auf der anderen Seite waren sie schmutzig, ungebildet, unwissend und, was das Schlimmste von allem war, fanatisch. Sie nahmen nicht gerne Patienten auf, wenn ein jüdischer Arzt sie empfohlen hatte.
Eines Abends in der Taverne versuchte ich, Theogenes und den anderen die Situation zu erklären.
»Wir hatten einen armen alten Wasserverkäufer zum Patienten«, erzählte ich. »Er bekam Typhus, und seine einzig lebende Verwandte war eine Tochter in irgendeinem Dorf am oberen Nil. Philon und ich gingen zu dem Hospital in der Nähe der Kirche von St. Markus und versuchten, die Mönche dazu zu bringen, den Mann aufzunehmen. Aber Philon mußte sich Schmähreden über die Juden anhören und brauchte seine ganze Geduld und Überredungskunst, ehe die Mönche sich schließlich beruhigten und unseren Patienten aufnahmen.«
»Willst du damit sagen, daß sie gegenüber vernünftigen Argumenten offen sind?« wollte Theogenes mit spöttischem Erstaunen wissen. »Ich dachte immer, sie sind wie wilde Tiere. Mein Urgroßvater wurde von solchen Männern hier in Alexandria ermordet. Das war auch der Grund dafür, warum meine Familie nach Antiochia gezogen ist.«
»Was meinst du mit ›solchen Männern‹? Zu Lebzeiten deines Urgroßvaters gab es doch noch gar keine Mönche. Das Christentum war vor dem Gesetz noch nicht einmal anerkannt.«
»Dann eben von unwissenden ägyptischen Bauern.«
»Das ist keineswegs dasselbe.«
»Sie benehmen sich aber so, als ob es dasselbe wäre.«
»Du hast Glück, daß du nichts mit ihnen zu tun hast«, warf ein anderer Student, Kallisthenes aus Sidonia, ein: »Du würdest bestimmt deine Beherrschung verlieren, und es würde einen regelrechten Aufstand geben.« Theogenes grinste, doch die Alexandriner, die mit uns am Tisch saßen, runzelten die Stirn.
»Ihr Fremden wißt überhaupt nichts von Aufständen«, meinte Nikias. »Beim nächsten Aufstand werden die Mönche mitten drin stecken. Und dann wird man nichts mehr zu lachen haben.«
Wir hörten auf zu lachen. »Was willst du damit sagen?« fragte Kallisthenes. »Warum glaubst du wohl, haben diese Mönche soviel Angst davor, verraten zu werden?« fragte Nikias ungehalten. »Sie erinnern sich nur allzugut an die letzten Male, als der Erzbischof des Landes verwiesen wurde. Oder hast du in Sidon nichts davon gehört? Es gab Auspeitschungen, Folterungen und eine Hinrichtung nach der anderen, doch das beendete den Aufstand keineswegs. Der Kaiser und einige seiner Bischöfe versuchten, fremde Bischöfe auf dem Thron von St. Markus zu installieren, doch die hiesigen Christen, vor allem jedoch die Mönche, wollten nichts von ihnen wissen. Das letztemal ging das über vier Monate so. Schließlich wurden sogar die Kornlieferungen nach Konstantinopel eingestellt, so daß der Kaiser nachgab und dem Erzbischof die Rückkehr erlaubte. Aber alle wissen, daß die ganze Sache von vorne beginnt, sobald seine Heiligkeit Athanasios stirbt. Der Hof sympathisiert mit der arianischen Partei, die hiesigen Christen sind jedoch meistens Nizäer. Darüber hinaus wollen die geistlichen Behörden nicht, daß noch einmal ein Bischof so mächtig wird wie Bischof Athanasios. Natürlich sind die Mönche gegenüber Juden und Eunuchen mißtrauisch; sie sind jedem gegenüber mißtrauisch, von dem sie glauben, er sei vielleicht dem Kaiser oder sonst einem ihrer Feinde treu ergeben.«
»Ist es denn wahrscheinlich, daß Athanasios bald stirbt?« fragte Kallisthenes ängstlich.
Nikias zuckte mit den Schultern und goß sich noch etwas Wein ein. »Ich weiß nicht, er ist immerhin ein alter Mann und glaubt nicht an Ärzte, das heißt, er vertraut ihnen nicht. Er kann jeden Augenblick sterben. Auf der anderen Seite ist er ein Schüler des heiligen Antonius, des Einsiedlers, und der wurde über hundert Jahre alt.«
»Wie viele Christen gibt es in Alexandria?« fragte Theogenes nachdenklich.
»Das mögen die Götter wissen!« rief Nikias geringschätzig aus.
»Die halbe Stadt besteht aus irgendwelchen Galiläern dieser oder jener Glaubensrichtung, obwohl sie nicht alle derart brave orthodoxe Nizäer sind, wie seine Heiligkeit gerne glauben möchte. Aber du darfst dabei nicht nur an die Alexandriner denken. Der Erzbischof ist der Metropolit der gesamten Diözese, nicht nur dieser Stadt, ja nicht einmal nur dieser Provinz. Und er ist überall populär. Du findest hier in Alexandria nun einmal nicht viele Leute, welchen Glaubens auch immer, die die Behörden unterstützen und sich gegen ihn stellen würden. Was nach seinem Tode auch immer passiert, die Christen werden keinen solchen Bischof mehr bekommen.«
»Aber ich dachte immer, er sei ein absoluter Niemand!« protestierte Kallisthenes, ein Neoplatoniker aus guter Familie.
»Man behauptet, daß er manchmal sogar auf koptisch predigt und nicht einmal ein richtiger Grieche ist!«
»Das stimmt auch«, gab Nikias zu. »Aber er ist Alexandriner. Und wenn ich eine gerichtliche Auseinandersetzung hätte, würde ich meine Sache vor dem bischöflichen Stuhl vertreten und nicht etwa vor den Statthalter bringen. Beim Bischof brauchst du nicht Unsummen an Bestechungsgeldern zu zahlen. Die Sache nimmt sehr viel weniger Zeit in Anspruch als vor dem Provinzialgericht, und du wirst nicht von irgendwelchen Wärtern geschlagen. Außerdem ist der Erzbischof unparteiisch. Und Athanasios und seine Mönche und Nonnen kümmern sich um das einfache Volk – da gibt es zum Beispiel außer den Hospitälern auch die mildtätigen Einrichtungen, die armen Mädchen zu einer Mitgift, den Armen zu billiger Kleidung und den Bettlern zu Nahrung verhelfen. Gut, der Pöbel ist dankbar dafür. Jedesmal, wenn auch nur das Gerücht umgeht, seine Heiligkeit sei krank, ist die Lage in der ganzen Gegend sofort gespannt. Du wirst es ja erleben. Es wird kein Jahr dauern bis zum nächsten Aufstand.«
»Wie ist der Erzbischof denn so?« fragte ich, als die Anwesenden diese Behauptung verdaut hatten.
»Du bist doch hier der Christ!« sagte Nikias. »Bist du denn nicht in der Kathedrale gewesen und hast ihm zugehört?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich halte mit meinem Lehrmeister zusammen schon den Sabbat ein. Ich kann mir nicht noch einen weiteren Ruhetag in der Woche leisten. Ein oder zweimal bin ich in der Kirche von St. Markus gewesen, wenn die Vorlesungen etwas später begannen, mehr nicht. Hast du ihn niemals gesehen?«
Nikias sah ertappt aus. »Ich war ein paarmal in seinen Andachten«, gab er zu. »Er kann reden. Ich glaube nicht, daß er weitere Unruhen wünscht – aber er ist alt. Bis zum Frühjahr wird es einen Aufstand geben, ich könnte jede Wette eingehen.«
Aber in jenem Herbst und auch in dem darauffolgenden Winter gab es keinerlei Aufstände. Die alexandrinischen Winter sind kalt und naß. Die Schiffe bleiben im Hafen, machen an den Kais fest oder werden auf den Strand hinaufgezogen, um sie vor den Stürmen in Sicherheit zu bringen. Nebel steigen aus dem Mareotis-See und vermengen sich mit dem Rauch der unzähligen Kohlenbecken der Stadt: Über Alexandria liegt dann ständig ein naßkalter Dunst. Unsere Patienten bekamen fiebrige Krankheiten, die jetzt mehr auf die Lunge als auf den Magen schlugen. Es gab Lungenentzündungen, Brustfellentzündungen und unzählige Erkältungen, die uns in Trab hielten, dazu die üblichen Knochenbrüche oder schwierige Geburten. Aber keine Aufstände.
Ende Januar überließ Philon es mir, mich um einen seiner Patienten zu kümmern. Er hatte dies bereits ein paarmal zuvor erlaubt, doch die anderen hatten lediglich an leichten Krankheiten oder kleineren Verletzungen gelitten. Diesmal handelte es sich um einen schwerkranken Mann. Es war der alte Händler, der einen so guten Preis für die Ohrringe meiner Mutter gezahlt hatte. Er hieß Timon, war Witwer und hatte einen Sohn und zwei Töchter. Ihn quälte ein Fieber sowie ein starker, trockener Husten, und er war schon länger krank, als sein Sohn Philon um Hilfe bat.
Philon nahm die erste Untersuchung vor und blickte ziemlich finster in die Welt, als er fertig war. »Du hättest mich früher rufen lassen sollen«, sagte er dem alten Mann.
Der alte Timon hob seine Hände in einer hilflosen Geste. »Ich wollte meine Arbeit nicht im Stich lassen. Du kennst mich ja.«
Philon schnaubte verächtlich, flößte ihm etwas Wein mit Iriswurzel ein, dann bat er den Sohn, mit ihm in die Diele zu kommen, wo der Patient sie nicht hören konnte. »Dein Vater hat eine Lungenentzündung«, sagte er. »Seine Atemgeräusche gefallen mir gar nicht, und seine Brust sieht ebenfalls nicht gut aus. Die Infektion ist schon ziemlich weit fortgeschritten. Es tut mir leid, aber ich glaube nicht, daß er am Leben bleiben wird.«
Ich war erschrocken und deprimiert. Ich mochte den alten Timon. »Glaubst du nicht, ein wenig Dampf könnte…?« fing ich an, dann hielt ich inne.
»Was wolltest du vorschlagen?« fragte Philon und sah mich nachdenklich an.
»Dampf und heiße Umschläge, Hyoscyamin und Iriswurzeln. Außerdem sehr viel Flüssigkeit«, sagte ich. »Genau das, womit du die Tochter des Flavius behandelt hast.«
»Sie war sehr viel jünger, und die Krankheit war noch nicht so weit fortgeschritten«, entgegnete Philon. Dann seufzte er und kratzte sich am Bart. »Aber immerhin, es ist die richtige Behandlung. Warum nimmst du ihn nicht in deine Obhut, Chariton? Wenn du und dein Vater nichts dagegen habt«, fügte er hinzu und wandte sich an Timons Sohn.
Sie hatten nichts dagegen. Der Sohn merkte, daß ich mehr Hoffnung für seinen Vater hegte als Philon, und ich hoffte, daß Philon sich geirrt hatte. Heimlich schwor ich mir, keinerlei Anstrengungen zu scheuen, um den alten Mann gesund zu machen.
Ich begann sogleich mit der Behandlung. Anfangs schien alles recht gut voranzugehen. Der Dampf und die heißen Kompressen linderten die Schmerzen, die der alte Mann in seiner Brust verspürte, beträchtlich, und der trockene Husten wurde locker und schleimig. Nach drei Tagen hatte ich den Eindruck, es gehe ihm schon ein bißchen besser.
Doch dann stieg das Fieber, und der Husten verschlimmerte sich wieder. Die Schmerzen kehrten zurück, quälender als je zuvor. Er hielt es kaum aus, wenn ich ihm die Brust abklopfte, um zu sehen, wie weit die Infektion bereits fortgeschritten war.
»Wenn du mir nur etwas geben könntest, damit ich schlafen kann…«, bat mich Timon eines Abends beinahe entschuldigend.
Ich verabreichte ihm Kräuter und ein wenig Opium, doch er konnte nur wenig davon trinken. Die ganze Nacht über hielt ich Wache an seinem Bett, horchte auf seinen keuchenden, schwächer werdenden Atem und fühlte mich hilflos. Eine Stunde vor der Morgendämmerung, gerade als die Stadt zu einem neuen Tag erwachte, schlief er friedlich ein.
Mühsam schleppte ich mich durch die morgendliche Menge nach Hause.
Als ich ankam, saßen Philon und seine Familie beim Frühstück. »Er ist tot«, erzählte ich ihnen.
Philon seufzte mitleidig und sagte mir, ich solle mich setzen. Ich setzte mich und begann von neuem zu weinen. »Du hättest mir diesen Fall nicht geben sollen«, meinte ich und schluchzte.
Philon schüttelte den Kopf. »Kein Mensch hätte es besser machen können. Der gesamte linke Lungenflügel Timons war infiziert, und er hatte eine beginnende Brustfellentzündung. Ich habe es noch nie erlebt, daß ein Patient in einem derart schlechten Zustand überlebt, aber ich hatte einfach gehofft, daß du mehr Glück hast als ich. Du warst so voller Ideen, während ich bereits aufgegeben hatte.«
Ich schluchzte wieder, und Philon legte mir die Hand auf die Schulter. »Geh zu Bett«, sagte er freundlich. »Du mußt dich ausruhen. Heute nachmittag müssen wir noch ein paar Patienten besuchen.«
Ein paar Wochen lang war ich sehr niedergeschlagen. Philon jedoch fuhr damit fort, mir Patienten anzuvertrauen, von denen er dachte, ich würde gut mit ihnen fertig. Und so war ich zwischen Studium und Arbeit viel zu beschäftigt, um allzulange über meinen Fehlschlag zu brüten.
Der alexandrinische Frühling kommt langsam. Die Schwalben waren im Winter überhaupt nicht fortgeflogen, so daß ich auch nicht auf ihre Rückkehr wartete. Die Erde ergrünte nicht; das geschieht erst spät im Sommer, wenn der Nil über die Ufer tritt. Aber die Luft wurde ganz allmählich immer wärmer, der Himmel wurde blasser, und die Nebel und die würgenden Rauchwolken des Winters verschwanden. Die Tage wurden länger; in den Sümpfen um den Mareotis-See herum quakten die Frösche; die Feigenbäume und die Weinstöcke in den Gärten streckten klebrige grüne Knospen heraus. Ich vergaß allmählich, daß ich jemals ein Mädchen namens Charis gewesen war, daß ich jemals auf andere Art und Weise gelebt hatte als jetzt, daß es jemals eine Zeit gegeben hatte, in der ich nichts von der richtigen Dosierung von Nieswurz oder den Schriften des Erasistratos wußte.
Eines Abends im März nahm ich einem Kind die Armschiene ab. Ich hatte den Knochen selbst gerichtet – es war ein komplizierter Bruch beider Unterarmknochen gewesen. Während ich den Arm schiente, war mir bewußt, daß mir die Prozedur wirklich sehr gut gelingen mußte, andernfalls würde das Kind sein Leben lang ein Krüppel bleiben. Ich hielt den Atem an, als ich den Arm freilegte. Das kleine Mädchen bewegte sein Handgelenk, so wie ich es ihm sagte, hielt den von der Schiene befreiten Arm neben seinen anderen, beantwortete mein Lächeln mit einem Lächeln, dann tanzte es durch das Zimmer, wedelte mit beiden Armen in der Luft und jauchzte vergnügt. Ich hätte ebenfalls jauchzen können. Stärke, Gesundheit, Lebenskraft: Genesung. Und ich hatte es bewerkstelligt, hatte mich mit der Natur zusammengetan, um es zu bewirken. Die Medizin mag ihre Grenzen haben, dachte ich, aber sie ist besser als gar nichts.
Und erst jetzt wurde mir klar, daß ich niemals nach Ephesus zurückkehren und einen von Thorions Freunden heiraten würde. Ich wollte mein ganzes Leben lang in Alexandria bleiben und die Kunst des Heilens praktizieren.