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Das ganze Frühjahr hindurch arbeitete ich hart und kümmerte mich um die Kranken von Carragines. Die meisten Verwundeten überließ ich Edico. Dies geschah zum Teil deswegen, weil er jetzt der ranghöhere Arzt war und aus diesem Grunde die angeseheneren Patienten übernahm, teils weil man es für schicklicher hielt, wenn eine Frau Frauen und Kinder als Patienten hatte, teils aber auch, weil ich die Verwundeten nicht pflegen wollte. Mir behagte der Gedanke gar nicht, Männer gesund zu machen, die, sobald es ihnen besser ging, losziehen und Soldaten meines eigenen Volkes töten würden. Frauen, Kinder, Sklaven, die Alten und die Schwachen – ich hatte nichts dagegen, diesen Menschen zu helfen, selbst wenn sie zum Feind gehörten. Ich hatte mich inzwischen mit meiner neuen Stellung abgefunden und dachte nicht mehr an Flucht. Nach den ersten paar Wochen verschwanden mein Umhang und meine Schuhe auch nicht mehr jede Nacht, und ich hätte aus dem Lager schlüpfen können – nur, wohin hätte ich mich wenden sollen? Salices war nicht weit, aber durch die römischen Sklaven, die den Goten entkamen, und die gotischen Sklaven, die den Römern entkamen, verbreiteten sich Neuigkeiten in Thrazien schnell. Wahrscheinlich wußten inzwischen sämtliche Soldaten Skythiens, daß Chariton von Ephesus in Wirklichkeit eine Frau war, so daß mich unter den Römern nichts als Schande erwartete. Vielleicht wußten sie sogar noch mehr: nämlich daß Chariton von Ephesus in Wirklichkeit Charis war, die Tochter des Theodoros, etwas, was ich den Goten noch nicht erzählt hatte. Es hing davon ab, was Athanaric entdeckt und wem er es erzählt hatte. Ich hoffte, daß er entweder nichts entdeckt oder aber nichts ausgeplaudert hatte, denn ich wollte nicht, daß Frithigern erfuhr, daß der Statthalter von Skythien mein Bruder war. Es war schlimm genug, eine Gefangene zu sein; ich wollte nicht auch noch eine Geisel sein. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, daß der König mir etwas antun würde, aber er könnte Thorion zumindest damit drohen, und daraus würde nur Ärger entstehen.

Mit Amalberga und den Edelfrauen aus ihrem Gefolge sowie mit den Pflegern im Hospital und einigen der Patienten kam ich gut zurecht – obwohl es zu viele gab, um einen von ihnen wirklich gut kennenzulernen. Ich mußte die ganze Zeit über gotisch sprechen und kam inzwischen schon besser damit zurecht; nach etwa einem Monat unterhielt ich mich sogar mit Amalberga und Edico auf gotisch. Ich vermißte meine Freunde und dachte an sie, wenn ich einmal Zeit hatte. Ich hatte jedoch keinerlei Möglichkeit, mit ihnen in Verbindung zu treten, und war so beschäftigt, daß mir die Welt außerhalb von Carragines allmählich unwirklich erschien. Ich hörte einige Neuigkeiten über Sebastianus: Die Goten sprachen viel davon, was die römischen Befehlshaber taten. Obwohl keiner von ihnen viel mehr tun konnte, als auf Verstärkung zu warten.

Ich dachte oft an Athanaric und fragte mich, was er entdeckt haben mochte und wo er jetzt wohl war. Ich konnte es nicht ändern: Ich verspürte den Wunsch, ihn zu sehen, jetzt, da man mich als Frau entlarvt hatte. Obwohl ich Angst hatte, er werde mich ganz einfach lächerlich finden, oder schlimmer noch, er werde mich als irgendeine x-beliebige Edelfrau behandeln, wollte ich ihn doch gerne sehen und ihm sagen: »Sieh her, so bin ich, und vielleicht hast du es vermutet. Magst du mich so?« Aber ich hörte nichts von ihm. Amalberga und Frithigern waren ebenfalls sehr begierig, ihn zu sehen, und wollten unbedingt wissen, wo er sich aufhielt. Die erste Wut des Plünderns und Rachenehmens war allmählich verraucht, und die Goten wollten mit dem Kaiserreich einen Waffenstillstand aushandeln. Sie hofften, Athanaric werde auftauchen und mit ihnen darüber sprechen. Doch es hatte den Anschein, als sei das Kaiserreich dazu entschlossen, nicht mit den Goten zu verhandeln, bis es genug Streitkräfte zusammengezogen hatte, um sie zu zerschmettern. So warteten auch wir in Carragines auf Verstärkung, und im Grunde genommen war ich viel zu beschäftigt, um mir über mich selbst oder darüber, wie dies alles enden sollte, Gedanken zu machen.

Dann, eines schönen Maimorgens, als ich ein paar neue Patienten außerhalb des Hospitals besuchte, kam Edico und sagte, er müsse mich sprechen. Da eine Menge Leute darauf warteten, daß ich mich um sie kümmerte, fragte ich ihn, ob es dringend sei. Er wich meinem Blick aus und murmelte, daß sei es nicht. »Dann können wir während des Mittagessens darüber sprechen«, entgegnete ich und wandte mich wieder meinen Patienten zu. Er stand da und sah mich lange und verlegen an, dann ging er davon.

Beim Mittagessen, das wir im Arzneimittelhaus des Hospitals einnahmen, erwartete ich, daß er die Sache, worum es sich auch immer handeln mochte, gleich zur Sprache bringen werde. Aber nein, er saß da und mampfte sein Wurstbrot und vermied meinen Blick, bis ich ihn fragte, weshalb er mich denn sprechen müsse. Daraufhin sah er nur noch verlegener aus.

»Bist du eine Jungfrau?« fragte er schließlich.

Ich sah ihn verblüfft an und fragte mich, worauf er hinauswollte. »Ja«, antwortete ich endlich. »Aber was sexuelle Fragen anbetrifft, so habe ich meinen Hippokrates gelesen. Warum?«

Jetzt blickte er auf und sah mir kurz in die Augen, dann sah er wieder zu Boden. »Ich muß es wissen«, sagte er. »König Frithigern wünscht, daß ich dich heirate, und ich habe ihm geantwortet, ich sei einverstanden, vorausgesetzt, du bist eine Jungfrau.«

Ich war völlig sprachlos und saß nur da und starrte Edico an.

Ich spürte, wie ich rot wurde. »Das ist ja wirklich eine ganz schöne Zumutung von Frithigern, so etwas von dir zu verlangen, nicht wahr?« sagte ich. »Eine Fremde von zweifelhaftem Ruf und unbekannter Herkunft zu heiraten. Und außerdem stammst du aus einer guten Familie – was werden deine Leute davon halten?«

Er zuckte die Achseln. »Meiner Tante wäre es egal, und mein Vater ist tot. Meine Mutter hat in dieser Angelegenheit nichts zu vermelden. Du brauchst sowieso nicht mir ihr zusammen zu wohnen.«

»Ah, wunderbar! Und der König wird doch sicherlich für eine Mitgift sorgen? Eine große Mitgift als kleinen Ausgleich für das Opfer, das du bringst?«

»Nun… ja.« Edico biß erneut in sein Brot. »Eine ziemlich große. Aber es ist kein Opfer, wirklich nicht. Du siehst sehr gut aus und bist außerdem eine ausgezeichnete Ärztin.«

»Es schmeichelt mir, daß du so denkst. Aber du kannst Frithigern ausrichten, bevor er wieder den Ehestifter spielen möchte, sollte er sich besser erkundigen, ob die Braut den Vereinbarungen auch zustimmt.« Edico warf mir erneut einen prüfenden Blick zu, und ich wurde endlich richtig wütend. »Ich werde dich nicht heiraten, und ich finde Frithigerns Einfall höchst dumm.«

Er sah beleidigt aus. »Daran ist überhaupt nichts dumm! Wir sind Kollegen, ich bin ein Edelmann, und der König weiß, daß du eine ausgezeichnete Ärztin bist. Er möchte dich an uns binden und als eine seines Volkes aufnehmen. Es gibt nichts, was natürlicher wäre als das.«

»Oh, bei Artemis der Großen! Wir sind Kollegen und dabei sollte es bleiben. Geh und erzähl dem König, daß aus dieser Heirat nichts wird.« Edico ging davon und sah erleichtert aus. Ich blieb noch einen Augenblick lang sitzen und versuchte, mich zu beruhigen. Jetzt, da Edico gegangen war, war ich nicht länger nur wütend, sondern ich hatte Angst. Frithigern würde von nun an nicht mehr ausschließlich auf Amalbergas Kunst der Menschenführung und meine Liebe zur Heilkunst vertrauen; er wollte mich unter die Kontrolle eines seiner Männer bringen, um mich dadurch fester an sich zu ketten. Verheiratet und zweifellos schon bald mit einem gotischen Kind schwanger. Ich war gezwungen worden, den Namen Chariton abzulegen, und er wollte mir auch noch den Namen Charis nehmen und mich zu »Edicos Frau« machen. Vielleicht könnte ich weiterhin die Heilkunst ausüben, aber auf diese Weise würde ich mich selbst für immer verlieren. Würde Frithigern versuchen, einen anderen zu finden?

»Ich werde mit allen Mitteln dagegen kämpfen«, sagte ich laut, um mir Mut zuzusprechen, und verließ den nach Efeu riechenden Arzneimittelraum. Ein Haufen Patienten wartete vor dem Hospital darauf, daß ich mich um sie kümmerte: müde, alte Männer, die steif auf dem Boden saßen; ein paar verwundete Krieger, die etwas abseits von ihnen hockten und sich als etwas Besseres vorkamen; magere, erschöpfte Frauen, die kranke Säuglinge an sich preßten. Ich wischte mir die Hände an meinem Kleid ab und winkte sie zu mir hinüber.

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