10
Eine Woche nach der Prüfung zog ich in ein Haus im Rhakotisviertel um. Es war mir von dem Dekan Theophilos vermittelt worden. Er war sehr froh, daß ich jetzt mehr in der Nähe des Erzbischofs und schnell zu erreichen sein würde, falls er erneut erkrankte. »Außerdem ist es besser, daß du mit Christen zusammenlebst und nicht mit Juden«, meinte er. »Ich will damit nichts gegen deinen Lehrmeister sagen, aber es schickt sich für den Arzt seiner Heiligkeit nicht, aus einem jüdischen Haus geholt zu werden.« Ganz zu schweigen davon, wie sehr Philons jüdische Patienten über das dauernde Ein und Ausgehen der Mönche beunruhigt waren.
Ich erklärte Theophilos, im Augenblick ein einfaches Zimmer zu bevorzugen, um keinen Ärger mit einer Haushälterin zu haben. Ich sagte, ich könne mir noch keinen Sklaven leisten und wolle ganz bescheiden leben. Er machte ein Haus ausfindig, daß einer reichen alexandrinischen Nonne gehörte. Sie überließ mir ein Zimmer, ohne Geld dafür zu verlangen, und zeigte sich nur überrascht, daß ich nicht mehr als dieses eine Zimmer wollte. Mein Zimmer lag wieder einmal im obersten Stock; in den unteren Stockwerken wohnten einige andere Nonnen. Meine Vermieterin war darüber ein wenig besorgt; sie war sich nicht sicher, ob die anderen Nonnen einen Mann im Haus haben wollten, selbst wenn es ein Eunuch war, der ihren guten Ruf nicht gefährden konnte. Doch die Nonnen äußerten übereinstimmend die Ansicht, der persönliche Arzt des Erzbischofs sei ein willkommener Hausgenosse, und sie erklärten sich dazu bereit, die täglichen Hausarbeiten, wie das Reinigen meiner Sachen, das Wasserholen und Kochen gegen eine geringe Entlohnung zu übernehmen – auch wenn sie selbst sehr einfach lebten und nur eine Mahlzeit am Tag zu sich nahmen. Ich kaufte einen großen Teil meiner Essenszutaten auf dem Markt, war mindestens einmal wöchentlich bei Philon zum Abendbrot, um Fälle mit ihm zu besprechen, und manchmal traf ich Theogenes zum Mittagessen in der Taverne.
Doch ich fand die Nonnen sehr viel netter, als ich erwartet hatte. Es waren drei: Anastasia, Agata und Amundora. Sie stammten allesamt aus dem gemeinen Volk (ganz anders als die Vermieterin, die einen Stammbaum hatte, der meinen Vater hätte beschämen können), und sie waren fanatisch fromm. Dabei hatten sie jedoch allesamt einen gesunden und überraschend derben Sinn für Humor und traten nicht im mindesten zurückhaltend oder damenhaft auf. »He, Chariton!« meinte Amundora, als ich ihr ein Mittel gegen ihre Hühneraugen gab. »Ich dachte immer, ein Eunuch sei zu nichts nutze, dabei hast du schon mehr für mich getan, als das wochenlange Beten der Mönche vermocht hat. Da sieht man mal wieder: Verstand geht über Eier, oder? Womit ich nicht sagen will, diese Mönche hätten auch nur eins von beiden, die armen Kerle.« Und sie gluckste wie immer, wenn sie eine derbe Bemerkung über die Mönche machte. Das tat sie oft und gerne, vielleicht gerade deshalb, weil sie die Mönche als ihre Brüder betrachtete, schwatzhafte und hochmütige jüngere Brüder, die jemanden brauchten, der sie in ihre Schranken verwies. Die Nonnen kümmerten sich überall in der Stadt um die Armen; sie webten Kleidungsstücke und verkauften diese, um für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, und sie arbeiteten für die Kirche. Sie waren stolz auf ihre Unabhängigkeit und verübelten den Mönchen deren höhere gesellschaftliche Stellung. Ich war kaum eingezogen, als sie mir bereits darlegten, daß sie genausoviel von Krankenpflege verstünden wie die Mönche im Hospital, und mich baten, in diesem Sinne mit seiner Heiligkeit zu sprechen.
»Davon bin ich überzeugt«, meinte Athanasios, als ich ihm die Sache erzählte. »Aber wenn ich sowohl Nonnen als auch Mönche in die Hospitäler schicken würde, würden die Heiden darüber tuscheln und klatschen. Vielleicht sollte ich noch ein Hospital gründen und den Nonnen die Leitung anvertrauen.«
Von Zeit zu Zeit hustete er noch, und er ermüdete schneller, als er eigentlich sollte, obwohl er inzwischen schon seit über einem Monat wieder gesund war. Aber er hatte sich nie richtig geschont. Er hatte inzwischen die Leitung der Kirche wieder ganz übernommen: Er kümmerte sich um die Fälle, die vor das geistliche Gericht gebracht wurden, sorgte für die Verteilung der kirchlichen Gelder, ernannte Bischöfe und Geistliche, predigte und organisierte und schrieb lange Briefe an die Bischöfe der nizäischen Glaubensrichtung im ganzen Ostreich (die kaiserlichen Beamten waren äußerst neugierig, wem er schrieb und was er schrieb, und mir wurden mehrfach Bestechungsgelder angeboten, falls ich derartige Informationen beschaffen könnte. Ich behauptete, er gewähre mir keinen Einblick in seine Korrespondenz, und bemühte mich daraufhin, auch tatsächlich nichts von ihr mitzubekommen). Er arbeitete wie verrückt, stand früh am Morgen auf und stürzte sich wie ein Wirbelwind auf die Angelegenheiten der Kirche. Er führte nach wie vor ein äußerst asketisches Leben, aß ähnlich einfach wie meine Nonnen und lag stundenlang auf dem Fußboden der Kirche und betete. Dies gefiel mir überhaupt nicht, und ich sagte es ihm auch in aller Deutlichkeit. »Du tust alles dafür, wieder krank zu werden. Wenn du schon so hart arbeiten mußt, behandle wenigstens deinen armen Körper etwas freundlicher. Nimm zwei oder drei Mahlzeiten täglich zu dir, nicht nur eine, und trink ein bißchen Wein. Wasser ist schlecht für dich.«
Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Es gibt einfach zuviel zu tun. Ich muß die Kirche so stark wie möglich machen, damit sie nicht auseinander bricht, wenn ich einmal nicht mehr bin.«
»Ich habe nicht über die kirchliche Arbeit gesprochen, sondern über deine asketische Lebensweise.«
»Chariton, mein Lieber« – es befand sich ein Schreiber im Zimmer, so daß er meinen offiziellen Namen benutzte –, »auch du arbeitest zu schwer. Ein zarter, in einem vornehmen Elternhaus aufgewachsener junger Mann wie du, der Patienten mit Durchfall und Darmgrippe behandelt, von denen die meisten dem gemeinen Volk angehören, die ihn noch nicht einmal bezahlen können! Warum schonst du dich nicht etwas, so wie jene hervorragenden Ärzte oben am Tempel: ein Höflichkeitsbesuch bei ein oder zwei reichen Patienten täglich, ein wenig Oribasios lesen und die Sternbilder bewundern?«
»Was willst du damit sagen?« fragte ich, obwohl ich seinen beißenden Sarkasmus inzwischen kannte.
»Du bist ein Arzt aus Liebe, nicht für Geld oder Ruhm. Und ich bin ein Asket aus Liebe. Was ich sonst noch tue, tue ich der Kirche zuliebe. Dies aber tue ich für Gott und für mich selbst. Wenn es mir bestimmt ist, bald zu sterben, laß mich Gott um so eifriger suchen, selbst wenn es meiner Gesundheit schadet. Du bist wie ein Arzt, der kurz vor einem großen Rennen zu einem Athleten kommt und ihm rät, er solle vorsichtig sein und sich beim Training nicht zu sehr anstrengen. ›Meine Seele dürstet nach Gott, dem lebendigen Gott.‹ Glaubst du denn, ich bin so furchtbar erpicht darauf, mir dauernd über die Perser und den ägyptischen Heerführer Gedanken zu machen, über einen Streit zwischen den Mönchen von Nitria und dem Bischof von Karanis, wo die Mönche ihre Strohmatten verkaufen dürfen? Ich nehme mir nicht viel Zeit für Gebete; aber laß mich auf meine Art beten.«
»Warum mußt du denn unbedingt dich selbst mißhandeln, um Gott zu lieben? Du gehörst doch nicht zu den Leuten, die glauben, daß das Fleisch des Teufels ist. Ich lese gerade dein Buch: Du läßt dich darin stundenlang darüber aus, daß die materielle Welt von Gott geschaffen ist und daß der Körper des Menschen durch die Fleischwerdung geheiligt wird. Weshalb mußt du dich also auf diese Weise selbst bestrafen?«
Athanasios seufzte und blickte sich im Zimmer um. Das Schreibpult quoll von Büchern und Briefen über; der Privatsekretär wartete mit seiner Schreibtafel und dem Griffel; ein goldgesäumter Umhang für die Predigt war über die Ruhebank geworfen worden. »Unser Leben ist ein solches Wirrwarr«, erwiderte er und tat es mit der Bewegung seiner Hand ab wie ein Mann, der eine Schreibtafel abwischt. »Wir benötigen Einfachheit und Ruhe, doch wir erfinden unaufhörlich Bedürfnisse für nichtige Dinge. Und diese häufen sich um uns auf und lenken uns von der Wahrheit ab. Der Eremit Antonius sagte einst zu mir, ein Mönch ähnele einem Fisch: Beraube ihn seines Elements, und er stirbt. Schweigen ist sein Element. In der Stille kann man diese unechte Welt für den Himmel eintauschen.«
Ich verstand ihn nicht, aber die Sehnsucht, die in seiner Stimme nachklang, wenn er vom mönchischen Leben sprach, war nicht mißzuverstehen, und so blieb mir nichts anderes übrig, als ihn in Ruhe zu lassen. Statt dessen fragte ich Petrus, ob er dem Erzbischof nicht ein bißchen mehr von den Kirchengeschäften abnehmen könne.
»Glaubst du denn, ich versuche das nicht?« fragte er. »Aber niemand kann Thanassi sagen, was er tun soll, vor allem nicht, wenn es ihm zugute kommen soll.«
»Thanassi?« fragte ich belustigt. Ich hatte diesen Spitznamen noch nie gehört.
Petrus lächelte ein wenig einfältig. Ich lernte den alten Mann allmählich besser kennen, und ich mochte ihn: Er war eher ein gewissenhafter als ein feuriger Gläubiger, und er war durch und durch gutmütig, eifrig darauf bedacht, jedermann zu helfen. »Wir pflegten ihn so zu nennen, als er noch Dekan war. Niemand konnte ihm damals Vernunft beibringen, genausowenig wie heute. Weißt du, daß ich ihm einmal eins über den Schädel geben und ihn aus der Kirche herauszerren mußte, um ihn vor den Soldaten zu retten? Auf der einen Seite stand der Heerführer Syrianus mit seinen Männern, bereit, auf den Altar loszumarschieren, um ihn gefangenzunehmen und jeden niederzuschlagen, der sich ihnen in den Weg stellte, und auf der anderen Seite stand Thanassi oben auf dem bischöflichen Thronsessel und brüllte, er werde die Kirche nicht verlassen, bis alle anderen sicher hinausgelangt seien. Ich versetzte ihm einen Schlag mit einer der großen Altarkerzen, und wir schleiften ihn durch die Hintertür hinaus. Als er zu sich kam, dachte er, Gott müsse ein Wunder bewirkt und ihm das Entkommen ermöglicht haben. Und wir ließen ihn in diesem Glauben. Manchmal kann man eben nicht vernünftig mit ihm reden. Auf dich hört er jedenfalls mehr als auf die meisten Menschen.« Er kicherte stillvergnügt in sich hinein, dann wurde er sehr ernst.
»Wird er sich wieder erholen, auch wenn er sich nicht schont?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht sehr viel mehr, als er sich bereits erholt hat. In dem Zustand, in dem er sich im Augenblick befindet, kann ihn die erstbeste Krankheit umbringen.«
Petrus biß sich auf die Lippen. »Nun, Theophilos und ich werden tun, was wir können, und wir verlassen uns auf dich, Doktor.«
Das war nicht sehr beruhigend. Noch weniger tröstlich war der Brief, den ich in bezug auf den Erzbischof von Thorion erhielt. Ich hatte ihm geschrieben, was passiert war – einiges davon zumindest –, und sein Antwortbrief war der letzte von ihm, der mich vor dem Winter erreichte. »Ich habe mit großer Verwunderung deinen Bericht gelesen, in dem du schilderst, wie du Erzbischof Athanasios von einer Lungenentzündung geheilt hast«, schrieb Thorion. »Ich habe ein wenig nachgeforscht und erfahren, daß dieser Erzbischof bei Hof zutiefst verhaßt ist: Der Prätorianerpräfekt nennt ihn einen eingebildeten Volksverhetzer, und der oberste Hofbeamte hält ihn für lasterhaft und gefährlich. Ich höre, daß er früher einmal wegen Mord, Vergewaltigung und Zauberei angeklagt worden ist, obwohl Maia sagt, diese Anklagen waren ungerechtfertigt. Wie dem auch sei, es ist einigermaßen offensichtlich, daß unsere Erhabene Majestät vorhat, die nizäische Partei in Alexandria zu vernichten, und nur auf Athanasios’ Tod wartet, um loszuschlagen. Er hat bereits einen Nachfolger für den Erzbischof ausersehen – einen gewissen Lucius, einen guten Arianer –, und er hat überall in der Stadt seine Spione, die ihm berichten sollen, was der Erzbischof im Schilde führt. Man hält es nämlich für möglich, daß Athanasios Alexandria und ganz Ägypten zu einem Aufstand anstiften und das Auslaufen der Kornschiffe nach Konstantinopel verhindern wird, was uns eine Menge Ärger bereiten könnte. Wenn ich du wäre, Charition, würde ich mich von einem solchen Unruhestifter unbedingt fernhalten.«
»Lucius?« fragte Athanasios, als ich ihm von Thorions Brief berichtete (auf meine Weise war ich ja auch eine Art Spion). »Ja, ich wußte davon, daß sie Überlegungen anstellen, ihn herzuschicken. Ein paar Bischöfe in Antiochia haben ihn aus sicherer Entfernung zum Erzbischof von St. Markus geweiht, und als mich Valens damals zum erstenmal verbannte, haben sie versucht, ihn in mein Amt einzusetzen. Aber er mußte unter starker Bewachung aus der Stadt eskortiert werden: Es ist ein Wunder, daß man ihn nicht gelyncht hat. Einfach so, mit nur ein paar Mann Gefolge hier aufzutauchen! Wenn er noch einmal kommen will, muß er erst einmal sicherstellen, daß er sich mit genügend Truppen umgibt.«
»Was wird er tun, wenn er herkommt?« fragte ich bedrückt. Athanasios seufzte, dann zuckte er müde die Achseln. »Er wird wohl kaum kommen, um Frieden zu stiften, falls es das ist, was du wissen möchtest. Er ist ein stolzer, jähzorniger Mann und ein leidenschaftlicher Arianer; er wird sich nicht die Mühe geben, die Menschen miteinander zu versöhnen, und es wird ihm Spaß machen, Gewalt anzuwenden.« Er sah mich einen Augenblick lang an; seine Miene heiterte sich auf, der Ausdruck heimlicher Belustigung trat in seine Augen, und er fügte hinzu: »Aber ich glaube nicht, daß du dir persönlich Sorgen machen mußt. Er wird sich kaum die Mühe machen, Ärzte zu jagen, wenn er Mönche auspeitschen kann – aber natürlich nur, wenn du es vermeidest, die Aufmerksamkeit seiner Spione zu erregen.«
Anfangs, als ich zum erstenmal in den bischöflichen Palast gekommen war, hatte ich die Spione nicht bemerkt, aber nach diesem Gespräch und Thorions Brief bemerkte ich sie überall. Dauernd schlichen irgendwo merkwürdige Geistliche herum, Leute, die nicht aus Ägypten waren; einige überbrachten Briefe von fremden Bischöfen, einige hatten noch unbestimmtere Aufträge. Und sie stellten einen Haufen Fragen. Dann gab es noch die durchsichtigeren Leute aus dem Büro des Präfekten, des Statthalters Palladios. Und schließlich die Agenten. Agentes in rebus: »Agenten in gewissen Angelegenheiten«, ein wunderbar vager lateinischer Titel. Es sind Kuriere, die offizielle Botschaften und Informationen aus verschiedenen Teilen des Imperiums an die Höfe ihrer Erhabenen Majestäten bringen. Doch im Grunde genommen sind sie – vor allem aber ihre Inspektoren, die Curiosi – nichts als Spione. Sie können in das Haus jedes reichen Mannes einquartiert werden, sie schreiben Berichte über alles, was sie dort hören, tragen dem obersten Hofbeamten allen Klatsch und sämtliche Gerüchte zu. Kurz nachdem es offensichtlich geworden war, daß Athanasios nicht sofort sterben werde, verließ ein Agent den Palast, und der nächste tauchte nur sechs Wochen später auf.
Als ich eines Novembermorgens meinen Routinebesuch beim Erzbischof gerade beenden wollte, klopfte es, und ohne eine Antwort abzuwarten, stolzierte ein großgewachsener junger Mann mit einem kurzen Militärmantel großspurig herein, gefolgt von einem unglücklich aussehenden Theophilos.
»Athanaricus aus Sardica, Curiosus der Agentes in rebus, möchte Erzbischof Athanasios sprechen«, verkündete der Fremde.
Athanasios betrachtete ihn mit Abscheu und bat mich mit einer Geste, ihm seinen Umhang zu reichen. Er hatte ihn abgenommen, damit ich seine Brust abhorchen konnte. Der Name Athanaricus oder Athanaric war – obwohl er mit den gleichen Silben wie derjenige des Erzbischofs begann – weder griechisch noch römisch, sondern eindeutig gotisch. Doch die Agenten standen der Armee in vielerlei Hinsicht näher als den zivilen Beamten, und in der Armee sind Goten recht häufig. Dieser Agent sah auf alle Fälle aus wie ein Gote. Er hatte blonde, ziemlich lange Haare und einen kurzen Bart; er war mit einem Schwert gegürtet, und zu seinem kurzen Militärmantel trug er Hosen. Diese waren staubig, und der Agent roch nach Pferd: Er war offensichtlich gerade in der Stadt angekommen. Breitbeinig stand er in der Türschwelle, den Daumen in den Gurt seines Schwertes geklemmt, während Theophilos ihm verärgert über die Schulter blickte.
»Seid gegrüßt, vortrefflicher Athanaricus«, sagte Athanasios und erhob sich. Der Agent überragte ihn auch im Stehen bei weitem. »Darf ich deine Beglaubigung sehen?«
Athanaric händigte ihm ein an einer Kette befestigtes Siegel und einen mit einer offiziellen Unterschrift versehenen Brief aus. Athanasios untersuchte das Siegel, las den Brief und gab ihm beides zurück. »Die Behörden fordern also deine Unterbringung hier im Palast?« stellte er resigniert fest. »Wie lange wirst du dafür benötigen, die… Militärposten zu inspizieren?« Das war nämlich die offizielle Aufgabe eines Curiosus.
»Oh, bis zum Frühjahr, wahrscheinlich«, entgegnete der Gote gutgelaunt. Er hatte einen eigenartigen Akzent, er verschluckte einige Silben und sprach in einem abgehackten Tonfall, wobei er die Worte deutlich voneinander trennte, statt sie, so wie die Griechen, zusammenzuziehen. »Vielleicht auch länger. Man kann nie wissen.« Er sah mich an und zog seine Augenbrauen in die Höhe. »Hat Eure Heiligkeit jetzt einen eigenen Eunuchen als Kammerherrn?« Ich war an derartige Blicke gewöhnt, an diesen Abscheu, mit dem ein normaler Mann einen Eunuchen ansieht, und beschäftigte mich damit, meine medizinischen Instrumente wegzupacken. »Dies ist mein Arzt, Chariton aus Ephesus. Gottesfürchtiger Theophilos, kannst du bitte ein Zimmer für den vortrefflichen Kurier ausfindig machen?«
Athanaric schnaubte verächtlich und stolzierte mit Theophilos von dannen. Als ich jedoch den Palast am nächsten Vormittag verließ, ergriff er mich im Hof am Arm und zog mich beiseite.
»Chariton aus Ephesus!« sagte er beinahe freundlich und hielt meinen Umhang fest. »Wie geht es seiner Heiligkeit heute morgen?«
»Genauso wie seit einem Monat«, erwiderte ich. »Könntest du mich bitte gehen lassen, Vortrefflicher? Ich muß zu einem Patienten.«
»Was, noch andere neben dem Erzbischof! Bezahlen sie dich auch ordentlich?«
Jetzt kam gleich das Angebot eines Bestechungsgeldes. »Einige«, sagte ich. »Andere zahlen überhaupt nicht. Ich habe genug Geld.«
»Niemand hat das. Hör zu, Eunuch, die Gesundheit des Erzbischofs ist in Antiochia und Konstantinopel genau wie in Alexandria ein Thema von äußerst großem Interesse. Und meine Vorgesetzten würden gerne wissen, was die alexandrinische Kirche wegen Bischof Athanasios’ Gesundheit unternimmt. Wir sind natürlich darauf eingestellt, für dieses Wissen zu bezahlen. Was würdest du zu einem… einem Beratungshonorar von jedesmal zehn Solidi sagen, wie? Ich wette, das ist mehr, als der alte Nizäer dir bezahlt.«
Natürlich war es das. Niemand bezahlt seine Ärzte so gut wie seine Spione. »Es tut mir leid, Vortrefflicher«, sagte ich behutsam. »Ich habe einen Eid geschworen und kann dein großzügiges Angebot nicht annehmen.«
»Was für einen Eid?« fragte er und sah mich verblüfft und mißtrauisch an. »Den Eid des Hippokrates. Ich bin ein Anhänger des Hippokrates, und zwar sowohl aufgrund meiner Ausbildung als auch aus Neigung.«
Er lachte. »Ich dachte schon, du wolltest sagen, der Erzbischof habe dich zur Verschwiegenheit verpflichtet. Also schön, fünfzehn Solidi. Ist der Eid jetzt nicht mehr so bindend?«
»Der Eid ist unter allen Umständen bindend«, entgegnete ich ihm. »Bitte entschuldige mich jetzt. Wie gesagt, ich habe einen Patienten.«
»Sei doch nicht so schlecht gelaunt!« sagte er, doch sein Gesicht hatte sich ein wenig gerötet. »Du erwartest doch nicht etwa, daß ich glaube, ein Eunuch nehme den hippokratischen Eid ernst, oder? Wofür gibst du denn dein Geld aus, wenn du angeblich genug davon hast, wie? Mädchen nützen dir nichts! Was ist mit Wein, Schminke, schönen Gewändern?«
Ich fand es ausgesprochen dumm, ausgerechnet schöne Gewänder zu erwähnen, da ich zur Arbeit meine alte blaue Tunika anhatte, die kaum auf Eitelkeit schließen ließ. Auch Geld konnte mich wirklich nicht in Versuchung führen, selbst wenn ich mich dem Erzbischof gegenüber nicht verpflichtet gefühlt hätte. Ich verdiente bereits beträchtlich mehr, als ich ausgab. Alles, was ich wollte, war, soviel wie möglich über die Kunst des Heilens zu lernen. »Bücher«, sagte ich. »Aber ich habe genug Geld dafür.«
»Ich bin sicher, daß du genug Geld hast, aber ich bin ebenso sicher, daß du noch mehr davon brauchen könntest. Zwanzig Solidi. Schön, fünfundzwanzig. Ich warne dich, höher werde ich nicht gehen.«
»Mein Patient erwartet mich«, entgegnete ich scharf. »Bitte laß meinen Umhang los.«
Er ließ ihn los. »Was hat der Erzbischof gegen dich in der Hand?«
»Er ist mein Patient. Ich wünsche dir gute Gesundheit, Vortrefflicher.« Damit ging ich davon und ließ ihn mit einem überraschten Gesichtsausdruck stehen und hinter mir herstarren.
Nicht lange danach wurde ich eines Nachts durch ein Klopfen an der Tür geweckt. Ich stieg aus dem Bett. Die Kohlenpfanne war ausgegangen, und das Zimmer war kalt; selbst während ich schlief, trug ich meine Tunika, wenn auch ohne das Schnürleibchen. »Wer ist da?« fragte ich und suchte meine Sandalen.
Es war einer der Sklaven aus dem bischöflichen Palast. Jemand war krank geworden; ich sollte sofort kommen. Ich sagte ihm, er möge so lange warten, bis ich mich angezogen hätte. Dann band ich mein Schnürleibchen um, warf mir die Tunika und den Umhang über, ergriff meine Arzttasche, und wir machten uns auf den Weg.
Es war eine kalte Nacht; in den Straßen lag ein feuchter Nebel, der aus dem Hafen heraufzog. Zur Rechten warf der Leuchtturm von Pharos seine Strahlen mit Hilfe von Spiegeln weit auf das Meer hinaus. Es war bereits nach Mitternacht, und es waren keine anderen Lichter mehr zu sehen. Die Straßen waren menschenleer, nur eine Ratte, die von einer der streunenden Katzen erwischt worden war, quietschte irgendwo. Ich stolperte in der Dunkelheit über einen Abfallhaufen, den jemand mitten auf den Weg geworfen hatte, und der Palastsklave machte eine Bemerkung darüber, wie scheußlich die Nacht sei. Ich dachte plötzlich an Ephesus, was ich seit Jahren nicht mehr getan hatte. Dort konnte ich so lange schlafen, wie ich wollte, und mußte nicht in kalten Nächten oder an heißen Sommernachmittagen arbeiten; dort waren Gärten, in die man sich setzen konnte, überall behagliche Winkel, Sauberkeit, Frieden. Ich stellte mir vor, wie ich nach einem Bad in dem kleinen weißen Zimmer, das ich mit Maia teilte, im Bett lag (seit ich in Alexandria angekommen war, hatte ich kein richtiges Bad mehr gehabt), wie ich zuhörte, während mein Kindermädchen mir etwas vorsang, und wie ich mir Gedanken darüber machte, was wohl passieren würde, wenn ich heiratete. Nun, sagte ich zu mir selbst, du könntest ja zurück nach Ephesus, oder du könntest nach Konstantinopel gehen und dort mit Thorion zusammenleben. Willst du das?
Natürlich nicht. Ich achtete wieder auf den Weg vor mir, und wir stolperten weiter zum bischöflichen Palast.
In der Eingangshalle warteten Theophilos und Athanasios auf mich. Wie Kopisten hockten sie auf dem Fußboden und flüsterten intensiv miteinander. Theophilos schüttelte den Kopf. Ich freute mich, den Erzbischof zu sehen: Der Sklave hatte nicht gesagt, wer krank war, und ich war zu verstört gewesen, ihn danach zu fragen. »Chariton«, erkundigte sich Athanasios bei mir, als der Sklave mir die Tür öffnete, »ist eine Darmentzündung zu dieser Jahreszeit normal?«
»Wir haben bald die Sonnenwende«, erwiderte ich ein wenig überrascht. »Das ist eine schlechte Zeit für die Gesundheit. Ach ja, und ich habe neulich erst ein paar Fälle gehabt. Aber im Augenblick grassiert das Darmfieber nicht so schlimm wie im Herbst.«
»Es würde auch nicht viel nützen, wenn die ganze Stadt daran umkäme«, meinte Theophilos ungeduldig. »Sie werden auf alle Fälle behaupten, wir hätten ihn vergiftet.«
»Vergiftet, wen?« fragte ich.
»Diesen Goten«, erwiderte Theophilos verächtlich. »Diesen arianischen Agenten.«
Athanasios schüttelte mißbilligend den Kopf. »Tu dein Bestes, ihn wieder gesund zu machen«, bat er mich. »Ich möchte dem Präfekten keinerlei Vorwand bieten, eine Untersuchung gegen uns einzuleiten.«
»Ich tue bei jedem Patienten mein Bestes«, erwiderte ich.
»Doch könnte Eure Heiligkeit jetzt bitte zu Bett gehen? Du solltest nicht so lange aufbleiben. Du wirst ebenfalls an irgend etwas erkranken, und deine Chancen zu überleben, sind nicht so groß wie die eines kräftigen jungen Mannes. Ich lasse dich rufen, falls etwas passiert.«
»Heiliger Gott, heiliger Unsterblicher!« brauste Athanasios auf. »Ärzte! Wenn man sie erst mal in sein Haus gelassen hat, glauben sie sofort, es sei ihr eigenes! Ich gehe jetzt mit und will von dir wissen, ob der Mann am Leben bleiben wird.«
Athanaric hatte sein eigenes kleines Zimmer im Palast. Wir traten ein und fanden den Agenten zusammengekrümmt auf der Seite liegend vor; er zitterte. Seine ganze Kraft und all sein forsches Getue waren hinweg; er war völlig erschöpft und dämmerte dumpf vor sich hin. Ich hatte ihn nicht ausstehen können, aber es ist immer schmerzlich, einen kräftigen jungen Menschen angesichts des drohenden Todes in einer derart verzweifelten Lage zu sehen. Das Bett war abgezogen worden, doch der Gestank von Erbrochenem lag noch in der Luft. Schwacher und unregelmäßiger Puls; hohes Fieber. Seine Augen waren halb geschlossen, und unter den Lidern war das Weiß der Augäpfel zu sehen: ein sehr schlechtes Zeichen: »Hat er auch Durchfall?« fragte ich die Pfleger und war erleichtert, als sie meine Vermutung bejahten: Derartig verdrehte Augen bedeuten für gewöhnlich den sicheren Tod, aber Durchfall kann ebenfalls so etwas bewirken. Ich war über die schlechte Verfassung des Agenten überrascht: Entweder hatte sich sein Zustand unerwartet schnell verschlechtert, oder niemand hatte daran gedacht, mich früher zu rufen. Ich befragte die Pfleger deswegen. Sie erzählten, er habe sich bereits am Morgen krank gefühlt, sei wieder zu Bett gegangen, habe dann angefangen, sich zu erbrechen, und nicht mehr damit aufgehört, bis er plötzlich regelrecht zusammengebrochen sei. Aber soweit ich sehen konnte, hatte er weder Blut noch Eiter von sich gegeben, und kein Körperteil schien besonders druckempfindlich zu sein, so daß ich ein akutes Darmfieber diagnostizierte und nicht etwa eine Infektion. Ich sagte dem Erzbischof, Athanaric habe eine gute Chance, zu gesunden. Daraufhin erklärte sich Athanasios damit einverstanden, das Krankenzimmer zu verlassen und zu Bett zu gehen, und ich sagte den Pflegern, sie sollten ihn nicht wieder ins Krankenzimmer lassen.
Der Agent benötigte eine außerordentlich sorgfältige Pflege. Am Morgen erwartete ich halb und halb, er werde im Verlauf dieses ersten Tages sterben, denn er konnte nichts bei sich behalten, und seinem Körper wurde bedenklich viel Wasser entzogen. Ich versuchte es mit Zäpfchen und hielt das Zimmer möglichst kühl. Ich rieb ihn wiederholt ab und gab ihm Honigwasser mit Aloe auf einem Schwamm. Schließlich veranlaßte ich die Pfleger, etwas Opium unter seiner Nase zu verbrennen, um seine Schmerzen ein wenig erträglicher zu machen und den Schüttelfrost zu mildern. Aber es war eine heikle Sache. Wenn Erbrechen, Durchfall und hohes Fieber zusammenkommen, bedeutet dies stets höchste Gefahr, und man braucht eine äußerst kräftige Konstitution, um so etwas zu überleben. Glücklicherweise war Athanaric kräftig. Außerdem war er gesund und gut genährt gewesen, und so kam er durch. Es gelang mir, ihm etwas Honigwasser einzuflößen und dann eine ordentliche Dosis Opium und dann noch ein wenig Honigwasser. Am Abend fing er endlich an zu schwitzen, so daß das Fieber herunterging. Danach handelte es sich im Grunde genommen nur noch darum, ihm vernünftige Ernährung und Ruhe zu verordnen, bis es ihm besser ging. Aber um sicherzugehen, wachte ich in jener Nacht an seinem Krankenbett. Mitten in der Nacht wachte er auf und murmelte etwas auf lateinisch, die Sprache seines Geburtsortes Sardica. Sein Fieber war erneut gestiegen, und er phantasierte. Als ich versuchte, ihm eine Dosis gefleckten Schierling zu verabreichen, weigerte er sich, ihn zu schlucken, und nannte mich einen Giftmischer – zumindest glaubte ich, etwas in dieser Richtung zu verstehen. Ich hatte nur ein wenig von Thorions lateinischer Amtssprache gelernt und das meiste davon seit Jahren vergessen. Ich stammelte ein paar Worte und sagte ihm, das Getränk sei medicina. »Medicus sum«, beruhigte ich ihn, woraufhin er erwiderte: »Non medicus, mulier venafica!«
»Medicus«, beharrte ich, und es gelang mir schließlich, ihm den gefleckten Schierling einzuflößen. Der Brechreiz schien nicht mehr so schlimm zu sein, denn er behielt die Medizin bei sich und schlief endlich wieder ein, wobei er sich nach wie vor hin und her wälzte und im Schlaf vor sich hin murmelte. Aber der gefleckte Schierling senkte, genau wie erwartet, das Fieber.
Als er am Morgen aufwachte, machte er einen klaren Eindruck. Einer der Pfleger rüttelte mich wach, sobald er bemerkte, daß der Patient die Augen geöffnet hatte, und ich trat zu ihm und prüfte seinen Puls. Er starrte mich verständnislos an. Die Morgensonne blitzte golden in seinen Haaren; seine Augen waren wieder völlig klar, sie leuchteten in einem kräftigen Blau. Zum erstenmal bemerkte ich, daß er sehr gut aussah. »Chariton aus Ephesus«, flüsterte er endlich. Er sah irgendwie enttäuscht aus.
»Dein Arzt«, sagte ich zu ihm. »Wie fühlst du dich?« Der Puls war regelmäßig, und das Fieber war inzwischen so niedrig, daß es kein Problem mehr darstellte.
Er runzelte die Stirn. »Man hat mich vergiftet.«
»Du hattest einen akuten Anfall von Darmfieber«, korrigierte ich. »Wahrscheinlich hast du Wasser getrunken, an das du nicht gewöhnt bist. Seine Heiligkeit hat mich angewiesen, mein Bestes zu geben, um dich gesund zu machen, und genau das habe ich getan.«
Er warf mir erneut einen finsteren Blick zu, dann sah er sich unsicher um. »Heute nacht war eine Frau hier.«
»Ich war letzte Nacht hier. Und während ich versuchte, dir eine Dosis gefleckten Schierling einzuflößen, hast du die ganze Zeit von einer Frau phantasiert, die dich angeblich vergiften wollte.«
»Ist denn Schierling kein Gift?«
»Das kommt darauf an. Die meisten guten Arzneimittel sind giftig. Es hängt alles von der Dosis ab. Möchtest du etwas essen?«
Hippokrates ist der Ansicht, daß klare Brühe die bei weitem geeignetste Nahrung für Genesende ist, und ich achtete darauf, daß Athanaric eine Woche lang klare Brühe trank, die nach und nach mit etwas Brot ergänzt wurde, später mit Wein und der üblichen Diät. Doch der Agent erholte sich ebenso rasch, wie er sich seine Krankheit zugezogen hatte. Er wollte aufstehen und etwas tun. Er kümmerte sich auch schon wieder um seine eigentliche Aufgabe. Noch bevor ich ihm erlaubte aufzustehen, stellte er den Pflegern Fragen und versuchte auch bei mir erneut sein Glück. »Ich habe gehört, Erzbischof Athanasios hat in bezug auf dich eine göttliche Offenbarung gehabt«, sagte er. Nun gut, er hatte also davon gehört; alle im Palast wußten es und berichteten voller Stolz davon. Die meisten vermuteten, ich sei im Verlauf unserer Unterhaltung von einem arianischen zu einem nizäischen Christen bekehrt worden.
»Seine Heiligkeit hat es so genannt«, antwortete ich. »Hast du heute schon Stuhlgang gehabt?«
»Lenk nicht vom Thema ab«, beklagte sich Athanaric.
»Was hat er entdeckt?«
»Nichts, womit er mir schaden könnte«, sagte ich. »Noch irgendwelche Krämpfe, Blähungen, Brechreiz?«
Er murmelte etwas auf Latein. »Dann bist du also wirklich ein fanatischer Nizäer?« erkundigte er sich.
»Wie soll ich dich denn behandeln, wenn du meine Fragen nicht beantwortest?« wollte ich wissen. »Bist du wirklich ein fanatischer Arianer?«
Er zuckte die Achseln. »Um die Wahrheit zu sagen, ich interessiere mich nicht so furchtbar für theologische Fragen. Aber ich bin unseren Erhabenen Majestäten treu ergeben. Jede Instabilität in der reichsten Diözese des Imperiums ist höchst gefährlich. Dieser alte, eifernde Demagoge, der seine eigenen Vorstellungen von Göttlichkeit über das allgemeine Wohl stellt und die römische Armee angesichts der angriffslustigen Perser einem Risiko aussetzt, nur weil er mit dem Kaiser nicht über das Verwandtschaftsverhältnis dieses oder jenes Gottes in der Heiligen Dreifaltigkeit übereinstimmt. Wenn man sieht, wie er sich aufführt, könnte man meinen, er sei selbst der Kaiser! Dabei hat er keinerlei Machtbefugnisse: Die heilige Kongregation verleiht ihm noch lange nicht das Recht, über Ägypten zu herrschen. Man kann unmöglich zwei unabhängige Mächte im Staat dulden; dergleichen beeinträchtigt die öffentliche Sicherheit. Von seinem Fanatismus einmal abgesehen, verstehe ich nicht, warum ihn auch nur ein einziger Mensch unterstützt.«
Ich erwiderte nichts und begann, meine medizinischen Instrumente zusammenzupacken. Was meine religiösen Neigungen anbetraf, fühlte ich mich inzwischen durchaus zu den Nizäern hingezogen. Ich war von Athanasios’ Buch hinreichend beeindruckt, um in diesem Punkt mit ihm überein zu stimmen. Doch das Thema interessierte mich im Grunde genommen nicht so sehr. Dennoch war ich unseren Erhabenen Majestäten wohl nicht wirklich treu ergeben. Zwar gefiel mir der Gedanke auch nicht, daß römische Truppen durch die Perser gefährdet waren, aber der überall spürbaren Willkürherrschaft, der allgegenwärtigen kaiserlichen Tyrannei, vor der es keine Berufung gibt und die nur durch Gewalt herrscht und ihre Verordnungen unter Androhung von Folter und Tod durchsetzt – dieser Macht gegenüber verspürte ich keinerlei Zuneigung. Ich war der Ansicht, es müsse der Kirche erlaubt sein, ihre eigenen Geschicke zu bestimmen, sich ihre eigene theologische Glaubensrichtung zu wählen, sich ihre eigenen Bischöfe auszusuchen und sie sich nicht von Konstantinopel aufzwingen zu lassen. Abgesehen von der Kirche gab es in der ganzen Welt keine Macht, die sich den beiden Kaisern entgegenstellen konnte. Abgesehen von Athanasios gab es keinen Menschen, dem es je gelungen wäre, als ein Gleichgestellter gegen sie anzutreten, ohne den Purpur für sich selbst zu beanspruchen. Das war auch der eigentliche Grund dafür, warum sämtliche Ägypter und nicht nur die Christen den Erzbischof unterstützten. Und deshalb würde auch ich ihn unterstützen.
Aber all dies konnte ich Athanaric kaum sagen. »Du solltest dich noch ein paar Tage lang ausruhen«, forderte ich ihn auf.
»Und deine klare Brühe trinken. Ich komme dich morgen besuchen.«
Er fluchte erneut auf lateinisch. »Warum muß der einzige rechtschaffene Eunuch der Welt«, klagte er, als ich das Zimmer verließ, »ausgerechnet dem Erzbischof dienen?«
»Du hast wohl kaum alle Eunuchen der Welt kennengelernt«, erwiderte ich und sah mich noch einmal nach ihm um. »Woher willst du wissen, daß die übrigen nicht ebenfalls rechtschaffen sind?«