16
Ich verließ Alexandria eine Woche später. Ein Versorgungsschiff der Armee hatte mich aufgenommen, und wir segelten aus dem Großen Hafen hinaus. Ich hatte weder Theophilos noch einen der anderen Kirchenführer noch einmal gesehen. Es gelang mir, meine drei Nonnen aus dem Gefängnis freizubekommen, doch ich blieb nicht in ihrem Haus. Philon hatte von meiner Verhaftung gehört. Als ich den Vertrag unterschrieben hatte und mir erlaubt wurde, die Präfektur zu verlassen, wartete er im Atrium auf mich: Er hatte vergeblich um die Erlaubnis nachgesucht, mich zu besuchen. Als ich immer noch stinkend und voller Gefängnisschmutz auftauchte, kam er auf mich zugerannt und ergriff mich bei den Schultern. »Gott sei gedankt!« rief er und umarmte mich.
Er nahm mich sofort mit zu sich nach Hause, und als wir dort ankamen, fanden wir Theogenes und Theophila vor, die aus ihrer Wohnung im Broucheionviertel herübergekommen waren und ängstlich auf Neuigkeiten von mir gewartet hatten. Alle waren überglücklich, daß ich frei war und daß ich nicht gefoltert worden war. Sie wollten alle Einzelheiten von mir erfahren, und ich hatte große Mühe, mir Zeit genug für ein Bad zu nehmen. Meine letzte Woche in der Stadt verbrachte ich in Philons Haus. Es war vielleicht ein Fehler, denn ich spürte, wie der Wunsch immer stärker wurde, nicht fortgehen zu müssen. Alles, was mir ans Herz gewachsen war, befand sich in Alexandria: Philon und seine Familie, die Medizin und die Bücher. Und die Freiheit. Alexandrias Freiheit ist wie der Friede der Christen: »Anders als in der übrigen Welt.« Alexandrias Freiheit ist das Privileg, nach Wahrheit zu suchen und sein eigenes Gesetz zu bestimmen. Die Stadt hat hundert verschiedene Gesetze, die alle im Widerspruch zueinander stehen und die sich gegeneinander durchsetzen, gewalttätig und lebendig. In jener letzten Woche in Philons Haus wurde mir klar, daß ich – falls ich in Alexandria blieb – eines Tages in der Lage sein würde, meinen Traum zu erfüllen, nämlich ganz einfach zu sagen: »Ich bin eine Frau, aber ich werde trotzdem Medizin praktizieren.« Und mein Wille würde akzeptiert werden, ich hätte mein eigenes Gesetz geschaffen, und es wäre fremdartiger gewesen als die Thora oder die Hierarchien des Plotin. Aber solange Lucius Erzbischof war, hatte ich keine Chance. Und Alexandria war ein trauriger Ort für mich geworden. Zu viele Leute waren tot oder im Gefängnis. Zu vieles war zusammen mit Athanasios gestorben.
Ich hatte keine große Angst davor, nach Thrazien zu gehen und dort in einem Hospital zu arbeiten. Philon hatte recht: Mein wichtigster Lehrer würde von jetzt an die Erfahrung sein. Der große Dioskurides war ebenfalls Armeearzt gewesen, und gegen Arbeit hatte ich nichts einzuwenden. Ich wußte, daß ich die Anregung vermissen würde, am Tempel Vorlesungen hören zu können. Auch den vielen Buchläden würde ich nachtrauern. Die Beratungen mit Philon würden mir fehlen, und auch auf die »anregende Gesellschaft« der anderen Ärzte des Museums würde ich verzichten müssen. Ich konnte mir vorstellen, daß es dort oben an der Grenze nicht ganz einfach sein würde, manche der üblichen Arzneien zu finden. Die Armeeärzte und die meisten Soldaten würden mich wahrscheinlich – zumindest am Anfang – als verweichlichten asiatischen Eunuchen verachten. Aber all das war unendlich viel besser als die Folter – besser natürlich auch, als nach Ephesus zurückgeschickt und gezwungen zu werden, dort als eine vornehme, aber in Unehre gefallene Frau zu leben. Ich würde auch etwas von der Welt sehen, vor allem, falls es mir gelang, mich während eines Feldzuges einer mobilen Einheit anzuschließen.
Ich war fast ohne eine Kupferdrachme in Alexandria angekommen, lediglich mit einer Truhe, in der sich mein Schmuck, drei Bücher, zwei Ersatztunikas und ein paar Stiefel befanden. Ich verließ die Stadt in einem etwas besseren Aufzug, nach wie vor mit dem größten Teil des Schmucks, mit 63 Büchern, drei Tunikas, zwei Ersatzumhängen, einem kompletten Satz medizinischer Gerätschaften und fast fünfzig Solidi in bar. Außerdem hatte ich ein Arztdiplom des Museums und die zweifelhafte Auszeichnung, der Leibarzt des Erzbischofs gewesen zu sein. Alles in allem hatte ich meine Sache gar nicht so schlecht gemacht. Und ein paar Jahre Erfahrung an der Donaufront – so sagte ich mir – könnten nicht von Schaden sein. Laut Athanaric waren gute Ärzte dort Mangelware, und ich würde eine Chance haben, mein Können zu beweisen. Es gelang mir, ein fröhliches Gesicht zu machen und tapfer zu lächeln, als ich mich von Philon und seiner Familie verabschiedete.
Aber als das Schiff am Leuchtturm des Pharos vorbeiglitt und seine Segel in den Wind stellte, blickte ich zurück auf die rings um den Hafen aufblitzende Stadt und mußte weinen. Alexandria, die brodelndste Stadt des Imperiums: schmutzig, gefährlich, gewalttätig – und als ich sie verlassen mußte, weinte ich, wie ich nicht einmal geweint hatte, als ich mein eigenes Zuhause verließ. Die Stadt ist weitaus mehr als nur die Heimat ihrer Bewohner. Genau wie der Pharos erhebt sie sich auf spröden Felsen und wirft ihr Licht weit hinaus in die Wüste der Dunkelheit.