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Einen Monat später, etwa ein Jahr nach meinem Fortgang aus Ephesus, erhielt ich den ersten Brief von Thorion. Eines Abends, als Philon und ich von unserer Runde heimkehrten, händigte Deborah ihn mir aus. Sie erzählte mir, ein Seemann habe ihn im Laufe des Tages abgeliefert. Ich erstattete ihr das Geld, das sie ihm dafür gegeben hatte, und setzte mich an den Tisch des Wohnzimmers, um den Brief zu lesen. Mir schlug das Herz in der Kehle, als ich das Siegel aufbrach. Ich war genauso nervös, als stünde Thorion neben mir, bereit, mich wegen des Lebens, das ich führte, auszuzanken.
Aber Thorion wußte natürlich nicht mehr als das, was ich ihm in meinem Brief erzählt hatte. Seine Antwort war ziemlich lang ausgefallen: Er hatte offensichtlich schon im Herbst, nachdem er meinen Brief erhalten hatte, zu schreiben angefangen, dann den ganzen Winter über in Abständen weitergeschrieben, bis die Schiffe im Frühjahr lossegelten und er den Brief aufgeben konnte. Er hatte viel über die Hauptstadt, seine Studien und seine Freunde zu erzählen: Er war gesund, bekleidete jedoch kein Amt mehr bei dem prätorianischen Präfekten. Festinus und der Präfekt, ein gewisser Modestus, hielten zusammen wie »Pech und Schwefel«, und kurz nachdem er mit seiner Arbeit begonnen hatte, war er seines Postens auch schon wieder enthoben worden. Aber er hatte inzwischen einen anderen Posten, und zwar im Amt eines Provinzrichters, und er machte sich Hoffnungen, befördert zu werden. »Wenn ich erst einmal befördert bin, werde ich genug Geld haben, um mir einen Haushalt leisten zu können. Dann kannst du zu mir kommen«, schrieb er. »Aber bis es soweit ist, hat es keinen Zweck.« Festinus war über das »Verschwinden meiner Schwester«, wie Thorion es vorsichtig umschrieb, außer sich gewesen. Und obwohl er inzwischen versetzt worden war und als Statthalter in Paphlagonia residierte, war Ephesus für sämtliche Mitglieder der Familie nach wie vor ein ungemütlicher Ort, und Konstantinopel würde auch nicht besser sein, falls ich dort auftauchte. Vater hatte weiteres Land und sogar einige seiner Rennpferde verkaufen müssen, um für die Verluste aufkommen zu können, die der Statthalter ihm zugefügt hatte. »Aber das Richteramt ist der vorgezeichnete Weg zur Statthalterschaft, und ich kann die Verluste wettmachen, sobald ich selbst Statthalter bin.« Maia ging es gut, sie war mit Thorion nach Konstantinopel gegangen. Ihre Gelenke taten ihr jedoch immer noch weh. Sie ließ mir ausrichten, gut auf mich achtzugeben, und sie hoffte, daß ich nicht genötigt wäre, zuviel von dem Schmuck meiner Mutter zu verkaufen. Ich solle gut essen und ja nicht zum Judaismus übertreten.
An dieser Stelle mußte ich lächeln. Dann sah ich auf und bemerkte, wie Philon und Deborah mich mit gespannter Aufmerksamkeit beobachteten: »Gute Neuigkeiten?« fragte Philon.
Ich hatte im Flüsterton gelesen, doch das war unnötig: Der Brief war unverfänglich. Ich ließ ihn sinken, drehte ihn so, daß Philon die Überschrift lesen und – wenn er wollte – seinen Verdacht bestätigt sehen konnte. »Nur der Ratschlag meiner alten Kinderschwester«, erzählte ich, »nicht zuviel Geld auszugeben. Was für ein gutes Heilmittel könnte ich ihr denn gegen Rheumatismus schicken?«
Ich beantwortete den Brief innerhalb von einer Woche, schickte die Arznei mit und erzählte Thorion ein bißchen von der Stadt und dem Museum. Aber ich brachte es nicht über mich, etwas von meinem eigenen Leben zu erzählen, und schon gar nicht, meinen Entschluß zu erwähnen, niemals zurückzukommen. Es bestand im Augenblick noch keine Notwendigkeit, die beiden zu beunruhigen, sagte ich mir. Thorion hatte geschrieben, ich könne erst dann bei ihnen wohnen, wenn er genug Geld habe, um einen unabhängigen Haushalt zu gründen – und bis dahin konnte alles mögliche geschehen.
Ein paar Tage später begleitete ich Theophila gerade zum Markt, als wir Theogenes trafen. Hübsche Mädchen bemerkte Theogenes immer. Er warf ihr einen beifälligen Blick zu, dann wurde ihm klar, daß sie mit mir gekommen sein mußte. »Nanu, Chariton!« sagte er und lachte. »Du bist der letzte, den ich in der Gesellschaft einer entzückenden jungen Dame erwartet hätte!«
Ich lächelte. »Dies ist die Tochter meines Lehrherren Philon, Theophila. Theophila, dies ist Theogenes aus Antiochia.«
Theophila blickte bescheiden auf den Fußboden. »Chariton hat mir von dir erzählt«, murmelte sie.
»Alles Lügen!« rief Theogenes sogleich aus, und Theophila kicherte.
»Vater hat Chariton immer wieder gesagt, er würde dich gerne kennenlernen,« sagte sie schüchtern.
»Ich wußte ja nicht, wann es Philon passen würde«, erwiderte er und sah sie interessiert an.
»Jetzt würde es sicher gehen«, sagte Theophila sogleich und blickte wieder bescheiden auf den Fußboden, dann lugte sie durch ihre Wimpern. Die Sache machte ihr Spaß.
So kam Theogenes also mit uns, wurde Philon vorgestellt und blieb zum Abendbrot. Er rümpfte keineswegs die Nase über das ärmliche Haus, und während des Essens unterhielten wir uns zu dritt über Galens Werke. Dann folgte eine lebhafte Debatte zu zweit über die mosaischen Gesetze, die Philon mühelos gewann. Theogenes war äußerst beeindruckt. »Du argumentierst wie ein Gelehrter«, sagte er zu Philon.
»Ich habe in Tiberias studiert«, entgegnete Philon, und Theogenes war noch mehr beeindruckt. Als er sich verabschiedete, lud Philon ihn ein, jederzeit zum Abendessen wiederzukommen, und Theogenes dankte ihm herzlich.
»Dein Lehrherr ist ein bemerkenswerter Mann«, meinte er am nächsten Tag zu mir. »Und seine Tochter ist ein sehr hübsches Mädchen, nicht wahr? Ist sie jemandem versprochen?«
Ich lachte. »Hast du je ein Mädchen getroffen, von dem du nicht der Meinung warst, sie sei ›sehr hübsch‹? Nein, sie ist noch niemandem versprochen. Es gibt da ein kleines Problem wegen der Mitgift.«
Er seufzte. »Sieht ganz so aus. Warum haben sie nicht mehr Geld? Ich hätte gedacht, ein so gebildeter Mann wie Philon könnte eine Menge verdienen. Ihr beide arbeitet schließlich hart genug. Wünschst du dir denn nicht auch, mehr Geld zu haben?«
»Weshalb sollte ich mir mehr Geld wünschen? Alles, was ich mir jemals gewünscht habe, habe ich bereits.«
»Nicht alles!«
»Alles, wovon ich je geträumt habe.«
»Du mußt sehr viel weniger geträumt haben als ich. Ich zum Beispiel träume von einem schönen Haus im Zentrum von Antiochia mit meinen eigenen Sklaven, die für mich sorgen, und mit meinem eigenen Garten – genauso wie mein Vater. Und ich würde gerne einen öffentlichen Posten haben, so wie er – Amtsarzt würde mir gut zu Gesicht stehen. Und ich würde gerne eine süße, hübsche kleine Frau im Haus haben, die sich um den Haushalt kümmert und mich abends zu Hause willkommen heißt. Und es wäre wundervoll, zwei oder drei Kinder zu haben, die erwartungsvoll zur Tür gerannt kommen. Für all das braucht man Geld.« Nachdenklich starrte er wieder eine Zeitlang auf den Garten, dann schleuderte er einen Kieselstein in den Bach. »Ich muß fleißiger studieren. Wann sollte man die Veilchen pflükken?«
Den Sommer über kam Theogenes alle paar Wochen zum Abendbrot bei Philon. Für gewöhnlich erschien er mit einem Krug Wein oder mit etwas duftendem Öl oder Blumen und blieb lange, um über Medizin oder die mosaischen Gesetze zu diskutieren. Alle mochten ihn. Theophila fragte mir seinetwegen ein Loch in den Bauch und war bald bis über beide Ohren in ihn verliebt.
Und auch diesen ganzen Sommer über gab es noch keine Aufstände. Ein paar Unruhen in der Nähe der Hafenanlagen, ein Scharmützel nach einem Wagenrennen in der Nähe der Pferderennbahn, aber keinen Aufstand. In der Taverne des Kaleias lachten wir über Nikias wegen seiner Prophezeiung, aber er zuckte nur die Achseln.
»Der Erzbischof ist bei guter Gesundheit. Und angeblich betet er am Ende jeder seiner Predigten um Frieden«, erzählte er uns.
»Das müssen sich seine Anhänger zu Herzen genommen haben. Und die Behörden scheinen im Augenblick seinen Tod abzuwarten, bevor sie irgend etwas unternehmen. Aber wartet nur, bis er krank wird!«
Und er wechselte das Thema und sprach von einer wunderbaren Heilung, die vom Tempel des Äskulap auf der Insel Kos berichtet wurde. Er war immer voll von wunderbaren Heilungen, die angeblich Äskulap bewirkt hatte. Da sein zweitwichtigstes Gesprächsthema Berichte über seine Heldentaten mit Dirnen waren, nahm ich überhaupt nichts mehr ernst, was er sagte, und kam zu der Ansicht, er verfolge mit all diesem Gerede über Aufstände und Bürgerkrieg beim Tode des Erzbischofs nur die Absicht, uns zu erschrecken.
Eines Tages, mitten im Herbst, stellte mir Philon einige sehr gezielte Fragen in bezug auf Theogenes. Ich gab ihm nach bestem Wissen und Gewissen Auskunft.
»Es wäre ein großes Glück für uns, wenn Theogenes sich in sie verliebt hätte«, sagte er. »Er ist ein angenehmer junger Mann aus gutem Hause und ein interessanter Gesellschafter.«
Ich sagte nichts dazu. Daß Philon in dieser Richtung Hoffnungen hegte, war offensichtlich genug, aber bisher war es mir nicht aufgefallen. Jetzt, da es ausgesprochen war, merkte ich, daß ich mich darüber ärgerte, weil, wie ich insgeheim zugeben mußte, Theogenes ein attraktiver junger Mann war und ich ihn selbst sehr gern mochte. Aber ich schlug mir meine törichte Zuneigung für ihn sofort aus dem Kopf und freute mich für Theophila, daß sie seine Zuneigung tatsächlich gewonnen hatte. Chariton, der Eunuch, hatte nicht das Recht, nette junge Männer zu mögen, und Charis, die Tochter des Theodoros, hatte nicht das Recht, Medizin zu studieren. Mein Wunsch, Medizin zu studieren, war allemal weitaus größer als mein Wunsch, Theogenes oder sonst irgendeinen jungen Mann zu erobern.
Doch ich hatte den ganzen nächsten Tag schlechte Laune, und als Theogenes auftauchte und fast die ganze Zeit damit zubrachte, Theophila zum Lachen zu bringen, schützte ich Kopfschmerzen vor und ging in mein Zimmer hinauf, um mich hinzulegen. Die Fensterläden waren geschlossen, und ich lag bäuchlings auf meinem Bett und kaute unglücklich auf meinen Fingernägeln herum. Ich hatte alles, was ich mir wünschte, hatte ich Theogenes gegenüber gemeint. Aber er hatte recht, als er meinte, ich hätte sehr viel weniger geträumt als er. Jetzt träumte ich. Liebe, die Gemeinschaft einer Ehe, Kinder – natürlich wünschte ich mir all das. Es wäre unnatürlich, sich so etwas Schönes nicht zu wünschen. Und ich hatte Theogenes, seine Augen und sein Lächeln und seine lebhaft gestikulierenden Hände sehr gern. Doch es war ganz und gar unmöglich, daß aus dieser Zuneigung oder irgendeiner anderen Zuneigung etwas werden könnte, solange ich Medizin studierte.
Ich stand auf, ging an meinen Bücherschrank und glitt mit dem Finger über die Rücken meiner medizinischen Bücher. Es schien verrückt, sie gegen einen lebendigen, lächelnden jungen Mann und die Aussicht auf Heim und Familie in die Waagschale zu werfen. Ich zog einen der Bände von Hippokrates heraus und öffnete ihn aufs Geratewohl. Zuerst verschwammen die Zeilen vor meinen Augen, doch dann traten sie deutlicher hervor und wurden zu Einzelheiten einer Fallgeschichte. Ich stellte das Buch zurück, stand da und starrte es an. Und meine Finger verharrten auf dem gelben Papyrus. Die Waagschale neigte sich zugunsten der Bücher. Ich wünschte mir so sehr, die Heilkunst auszuüben, wünschte es mir mehr als alles andere auf der Welt. Ich mußte eben auf einiges verzichten und mich damit abfinden, ein Eunuch zu bleiben.
Der Winter kam, mein zweiter Winter in Alexandria. Theogenes erschien nach wie vor mindestens einmal wöchentlich und widmete sich Theophila. Philon ermutigte ihn geschickt, doch es wurde nicht darüber gesprochen. Ich tat mein Bestes, um mich für die zwei zu freuen, und manchmal gelang es mir sogar. Aber ich war längst nicht mehr so glücklich wie zuvor.
In dem darauffolgenden Frühjahr wurde ich neunzehn. Ich verbrachte den Tag damit, einen Patienten zu betreuen, der an Fleckfieber erkrankt war. Der Mann war Stellmacher; er war verheiratet und hatte drei junge Kinder; seine Frau geriet in Panik, als sie an jenem Morgen bemerkte, daß sein Fieber stieg. Sie bat mich, den Tag über dort zu bleiben. Ich blieb, und es gelang mir, das Fieber zu senken, indem ich den Körper des Kranken mit einer Essiglösung abrieb und ihm mit Hilfe von Fingerkraut und Opium zu ein wenig Schlaf verhalf. Dann sorgte ich dafür, daß er etwas Brühe trank und sie auch bei sich behalten konnte. Als ich ging, schlief er so friedlich wie schon lange nicht mehr, das Fieber schien nicht mehr so hoch zu sein, und der Puls war ganz eindeutig kräftiger und gleichmäßiger als seit Tagen. Seine Frau ergriff meine Hand und drückte sie fest. Ihre Augen waren voller Tränen. »Wird er wieder gesund?« fragte sie mich.
»Ich glaube schon«, erwiderte ich. »Laß ihn solange wie möglich schlafen. Wenn er Durst hat, gib ihm etwas Honigwasser. Morgen früh kann er ein wenig klare Brühe bekommen, aber nur, wenn er möchte. Am Vormittag komme ich dann noch einmal. Falls sich sein Zustand während der Nacht verschlimmern sollte, ruf mich.«
Sie nickte. »Ich habe keine Ahnung, was wir tun sollen, wenn er stirbt«, meinte sie.
»Falls er keinen Rückfall erleidet, wird er wahrscheinlich durchkommen«, entgegnete ich, nachdem ich ihr Verlangen, beruhigt zu werden, gegen die Gefahr abgewogen hatte, falsche Hoffnungen zu wecken. Aber eigentlich war ich sicher, daß er es schaffen würde: Er war stark, und das Schlimmste war vorüber.
Die Frau brach in Tränen aus und drückte mir wieder und wieder die Hand.
»Ich danke dir! Gott möge dich belohnen!«
»Geh und schlaf, solange es möglich ist«, riet ich ihr und machte mich auf den Heimweg.
Als ich zu Hause ankam, fand ich die Familie beim Abendessen vor.
Theogenes war ebenfalls dort. Er saß neben Theophila, beugte sich zu ihr hinüber und lächelte. Sie lächelte mit niedergeschlagenen Augen zurück.
Wunderbar, dachte ich bei mir und war glücklich.
»Wie geht es dem Patienten?« fragte Philon als erstes.
»Ich glaube, er wird es überstehen«, erwiderte ich zufrieden und ging in mein Zimmer hinauf, um mich zu waschen.