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Der Vogel war verendet. Er war zur Seite gefallen und lag auf dem Boden des Weidenkorbs, seine Augen blickten glasig und wie eingeschrumpft. Als ich ihn anfaßte, fühlten sich seine Federn noch warm an. Aber es war auch ein warmer Tag.
Ich hatte den Vogel am Fuß der Gartenmauer gefunden. Sein einer Flügel war gebrochen, und er hockte dort mit weit aufgerissenem Schnabel und mühsam nach Luft ringend unter einem ein wenig vorspringenden Stein. Er rührte sich kaum, nicht einmal, als ich ihn aufhob. Irgendein Junge hatte von der hinter der Mauer verlaufenden Straße aus wohl einen Stein nach ihm geworfen.
Ich schiente den Flügel mit äußerster Sorgfalt. Zuerst spreizte ich ihn und verband ihn dann kreuzweise mit einem mit Wolle unterlegten Leinenstreifen, wobei ich den Verband am Gelenk etwas fester anzog, genau wie Hippokrates es empfiehlt. Hippokrates ist der Ansicht, daß Menschen, die sich etwas gebrochen haben, leichte Kost zu sich nehmen und unter Umständen eine Portion Nieswurz einnehmen sollten. Ich hatte jedoch keine Nieswurz, und die richtige Dosis für einen Vogel kannte ich sowieso nicht. So gab ich ihm etwas Wasser und fütterte ihn mit Brot und Milch. Ich legte ihn in einen Korb, stellte noch ein wenig zusätzliches Wasser dazu und brachte das Ganze auf den Heuboden über dem Pferdestall. Ich machte Philoxenos, unserem Pferdeknecht, ein kleines Geschenk, damit er niemandem etwas erzählte. Mein Kindermädchen, Maia, mochte es gar nicht, wenn ich mich als Ärztin aufspielte, vor allem nicht gegenüber ganz gewöhnlichen Vögeln und sonstigen Tieren. »Du bist eine junge Dame, Charis«, pflegte sie zu sagen. »Du bist die Tochter des Claristikus Theodoros von Ephesus, und ich erwarte von dir, daß du dich dementsprechend benimmst!« Sie meinte darissimus. Das ist lateinisch und außerdem ein römischer Titel; ich glaube, er bedeutet so etwas wie »außerordentlich bedeutend«, eine nicht ganz passende Bezeichnung für einen Mann wie meinen Vater, der sich eigentlich für nichts anderes als Pferderennen und Homer interessierte. Doch dieser Titel sollte ja auch nur zum Ausdruck bringen, daß er die Würde eines Konsuls innehatte und damit in unserer Provinz eine Persönlichkeit war. Maia konnte lateinische Worte nie korrekt aussprechen, nicht einmal Titel. Und sie liebte Titel. »Mein Gebieter ist seine Exzellenz Theodoros von Ephesus«, pflegte sie den Leuten auf dem Markt zu erzählen, »ein Claristikus und Konsul. Er war Statthalter von Syrien und Galatien, und in Konstantinopel bekleidete er den Rang eines Konsuls – und du willst mich übers Ohr hauen und mir einen Wucherpreis für eine Elle von diesem schäbigen Wollstoff abverlangen? Scher dich zum Teufel!«
Sich wie die Tochter des Theodoros von Ephesus zu benehmen hieß, lange Kleider mit einem purpurfarbenen Streifen am Saum und mit goldenen Stickereien am Umhang zu tragen und beides niemals, nicht ein einziges Mal schmutzig zu machen; es hieß, meine Haare in Locken zu legen und sie hoch aufzutürmen, damit sie vornehm aussahen, und dann auch noch darauf zu achten, daß sie keinesfalls in Unordnung gerieten; es hieß, auf den Fußboden zu blicken, wenn ein fremder Mann zugegen war, und den Mund zu halten. Es hieß außerdem, sich nicht als Ärztin aufzuspielen. Hippokrates aber durfte ich lesen. Nun ja, um genauer zu sein, niemand hatte etwas dagegen gesagt. Maia konnte nicht lesen und hielt es für damenhaft, wenn man überhaupt las! Mein Vater wußte überhaupt nicht, was ich las, und er interessierte sich auch nicht dafür, solange ich nur meinen Homer auswendig lernte! Und Ischyras, mein Hauslehrer, liebte Hippokrates. Nicht etwa, weil er sich für Medizin interessiert hätte. »Unverfälschter ionischer Dialekt!« pflegte er entzückt auszurufen, wenn wir einen Abschnitt über das Erbrechen lasen. »Das ist genauso hervorragend wie Herodot: er-bre-echen! Diese wundervollen Vokale, diese Musikalität!« Er schien niemals darauf Acht zu geben, was der Autor sagte, nur auf den Stil, in dem dieser etwas sagte. Einmal machte ich den Vorschlag, etwas von Galen zu lesen, aber er war entsetzt.
»Galen! Dieser alexandrinische Quacksalber! Also wirklich, er schreibt beinahe in der Umgangssprache, wie ein Händler auf dem Markt, nicht wie ein Gelehrter… Nein, nein, meine Liebe, überlaß die Naturwissenschaften nur den Händlern. Wir lesen lieber etwas Erhabeneres, etwas Wohlklingendes.« Ich hätte ihn darauf aufmerksam machen können, daß auch Hippokrates in der Umgangssprache seiner Zeit geschrieben hatte und daß es nur einem glücklichen Zufall zu verdanken war, wenn dies ein wundervolles Ionisch war und nicht das uns allen gemeinsame Koine. Aber ich war glücklich, meinen Lieblingsschriftsteller überhaupt lesen zu dürfen, und hielt meinen Mund. So lasen wir dank seiner wundervollen ionischen Vokale also Hippokrates, und ich spielte mit verletzten Singvögeln und kranken Schoßhunden insgeheim die Ärztin und gab mir Mühe, meine Kleider nicht schmutzig zu machen. Mein Bruder Thorion versprach mir dauernd, in der Bibliothek des Celsus einige Abschnitte aus dem Galen für mich zu kopieren. Aber er tat es nie.
Ich hatte meiner Drossel einen kleinen Napf mit Brot und Milch gebracht. Jetzt würde ich beides an den Wachhund verfüttern müssen: Das Ganze wieder ins Haus zurückzubringen hätte nur unnötige Fragen heraufbeschworen. Ich war sehr traurig, daß der Vogel gestorben war. Der Tod ist immer etwas Trauriges, selbst der Tod eines Vogels, und ich hoffte, die arme Kreatur nicht gequält zu haben, als ich ihr zuvor ihren Flügel geschient hatte. Aber ich konnte ja nicht wissen, daß sie sterben würde. Warum sie wohl gestorben war? Es hatte so ausgesehen, als erhole sie sich, als ich sie alleine gelassen hatte.
Ich nahm den Vogel in die Hand und untersuchte ihn. Der Flügel war offensichtlich nirgends angeschwollen, also hatte ich den Verband nicht zu fest angelegt – es sei denn, Vögel bekommen nicht auf die gleiche Art Schwellungen wie Menschen. Es war wohl eher so, daß der Stein den Vogel auch innerlich verletzt hatte. An seinem Schnabel entdeckte ich etwas getrocknetes Blut. Er hatte noch nichts von seinem Futter verdaut, deshalb vermochte ich keine Schlüsse aus irgendwelchen Ausscheidungen zu ziehen. Wenn ich ihn sezieren könnte, würde ich erfahren, was mit ihm los war. Aber dafür benötigte ich ein paar ordentliche, scharfe Messer und einen ruhigen Ort, wo ich ungestört arbeiten konnte, ohne daß mich jemand dabei überraschte. Außerdem mußte ich etwas über mein Kleid ziehen. Mit anderen Worten, ich brauchte die Hilfe meines Bruders. Ich legte die tote Drossel in den Korb zurück und kletterte die Leiter vom Heuboden herunter. Außer den Pferden war niemand im Stall. Ich nahm meinen Umhang ab und zupfte das Stroh von ihm herunter, dann warf ich ihn mir wieder über die Schultern und trat in den Hof hinaus. Dort traf ich auf Philoxenos, der ein Paar von den Rennpferden meines Vaters an einer Führungsleine im Kreis laufen ließ. Als ich herauskam, nickte er mir zu. »Hast du deinen kleinen Liebling gefüttert, junge Gebieterin?« fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Er ist gestorben.«
»Oh«, meinte er mitfühlend. Philoxenos liebte Tiere; vor allem Pferde, aber auch Tiere im allgemeinen. Außerdem wußte er allerhand über sie, vor allem kannte er jede Menge Heilmittel für wundgescheuerte Hufe und verstauchte Gelenke. Er fand nichts dabei, den Flügel eines einfachen Vogels zu schienen. Aber er war ein praktisch denkender Mann. »Möchtest du, daß ihn dir jemand kocht?« fragte er. »In Honig gedünstet schmecken Drosseln besonders gut. Meine Frau könnte sie dir zubereiten.«
»Nein danke. Im Augenblick jedenfalls nicht. Bitte laß ihn bis heute Abend in Ruhe, ja?«
Er lächelte und nickte. Er vermutete sicher, daß ich bloß zu zimperlich war, einen Vogel zu essen, den ich so verhätschelt hatte. Ich mochte ihm nicht erzählen, daß ich ihn sezieren wollte: Er würde kein Verständnis dafür haben, und er wurde immer sehr ärgerlich, wenn sich seine Gebieter unvernünftig aufführten.
Die Pferde hatten zu traben aufgehört und standen mit zur Erde gesenkten Köpfen da. Sie schnüffelten in dem Kies nach vereinzelten Strohbüscheln. Philoxenos wandte sich ihnen erneut zu; er knallte mit seiner Peitsche und riß heftig an der Führungsleine. Die beiden setzten sich in Bewegung – allerdings in verschiedene Richtungen. Philoxenos fluchte und zwang sie, wieder gemeinsame Sache zu machen. Er redete ihnen gut zu und lockerte die Zügel, bis sie endlich einträchtig im Kreis herumtrabten. Ich setzte meinen Weg zum Haus fort.
Unser Haus lag im nordöstlichen Teil von Ephesus, dort, wo das Land zu der Anhöhe ansteigt, die den Namen Pion trägt. Das Haus drängte sich, wenn man so will, regelrecht an die Stadtmauer, die durch den rückwärtigen Garten lief. Wir hatten eine Pforte in die Mauer brechen lassen, so daß wir in die jenseits der Mauer gelegenen Ställe gelangen konnten. Wenn ich jetzt, nach all diesen Jahren, in denen sich die Welt derart verändert hat, daran zurückdenke, so scheint es mir doch sehr ungewöhnlich: ein Privatmann, der eine Pforte in die Stadtmauer bricht, um keinen Umweg durch die Straßen machen zu müssen, wenn er zu seinen Rennpferden will. Was, wenn die Stadt belagert worden wäre? Selbst damals mochten der Magistrat und die in Ephesus residierenden Heerführer unsere Schlupftür ganz und gar nicht. Aber wann auch immer sie sie meinem Vater gegenüber zur Sprache brachten, lächelte der bloß und meinte, es sei ihm nicht möglich, sich genügend um seine Pferde zu kümmern, wenn er nicht direkt von seinem Haus aus zu ihnen könne. »Und nun mal ehrlich, Vortrefflicher«, pflegte er hinzuzufügen, wenn es sich um einen Heerführer handelte, »wozu soll eine Stadtmauer in Ephesus denn überhaupt gut sein? Hier wird es doch wohl keinen Krieg geben oder? Und selbst wenn, solange du Befehlshaber bist, würde der Feind nicht einmal in die Nähe der Stadt kommen. Nein, nein, laß meine kleine Pforte nur in Ruhe!«
Das Haus lag am Ende der Straße. Die Vorderfront war mit Marmor verkleidet, doch im übrigen sah es nicht besonders eindrucksvoll aus – jedenfalls nicht, wenn man es von der Straße aus betrachtete. Auf der Rückseite jedoch erstreckte es sich in geradezu prachtvoller Manier den Hang hinauf. Ich blieb einen Augenblick lang in der Ausfallpforte stehen und betrachtete es. Es war ein strahlender, sonniger Frühlingsmorgen. Hinter mir, in Richtung der Anhöhe, war alles leuchtend grün, und der Himmel hatte etwas von jenem frischen Tiefblau des Frühlings an sich, das die Sommerhitze noch nicht auszubleichen vermocht hat. Die beiden Pferde, zwei zueinander passende schwarze Stuten, zogen in dem mit Kies ausgelegten Hof hinter mir ihre Kreise, sie gingen jetzt im Schritt, ihr Fell schimmerte in der Sonne, ihre Hufe knirschten in den kleinen Steinchen, während Philoxenos ihnen mit leiser Stimme Befehle zurief. Der Torweg war dunkel und kühl, die steinerne Mauer fühlte sich klamm an. Vor mir schienen der Küchengarten, das weiß ausgewaschene Pflaster und die roten Ziegeldächer der Rückseite des Hauses regelrecht zu leuchten: dunkelgrün, strahlend weiß, blutrot. Dahinter schwang sich die Kuppel, die den mittleren Teil des Hauses überragte, in die Höhe. Sie war in einem hellen Grün angemalt und sah aus wie ein am blauen Himmel schwebendes Vogelei. Es war eine Marotte meines Großvaters gewesen, ein Haus mit einem palastartigen, von einer Kuppel überwölbten Bankettsaal zu bauen. Mein Großvater hatte in bezug auf seine eigene Wichtigkeit etwas bombastische Vorstellungen. Aber es war ein wundervolles Haus. Es hatte fünf Innenhöfe, zwei davon mit Säulengängen, drei mit Brunnen; es verfügte über ein separat liegendes Badehaus und eine eigene Bäckerei; es besaß nahezu hundert Räume, deren Fußböden mit Fliesen ausgelegt und deren Wände bemalt waren, sowie ein Hypokaustum, das es im Winter heizen, und Gärten, die es im Sommer kühlen sollten.
Es war kein altes Haus. Das Vermögen, mit dem es erbaut worden war, stammte von meinem Urgroßvater. Er war der Besitzer eines ziemlich großen Landgutes in dem weiter östlich gelegenen Tal, und während der Bürgerkriege erzielte er mit dem Verkauf seiner Erzeugnisse riesige Profite. Später hatte er das Glück, den richtigen Kaiser zu unterstützen. Er erwies sich als außerordentlich tüchtiger Verwaltungsbeamter und machte als Inhaber von Staatsämtern weitere Profite. Mein Großvater baute das Haus zu Ende und mehrte das Vermögen: Zum ersten Landgut kamen weitere mit Weinbergen und Olivenhainen, Weizenfeldern und Obstgärten, vor allem jedoch mit ausgedehnten Stallungen zum Rennpferdezüchten. Er hinterließ meinem Vater eines der größten Besitztümer der gesamten Provinz. So galt mein Vater inzwischen als ein Mann aus einem alteingesessenen und edlen Geschlecht. Nun ja, drei Generationen Reichtum sind mehr, als selbst die beiden Kaiser für sich in Anspruch nehmen können. Der Vater unserer erhabenen Gebieter, der erlauchten Kaiser Valens und Valentinian, war ein gemeiner Soldat aus Pannonien.
Ich ging ins Haus und suchte meinen Bruder Thorion.
Thorion hieß in Wirklichkeit Theodoros, wie unser Vater, aber als er fünf war und mich in überheblichem Tonfall Charition nannte, »kleine Charis«, hatte ich ihn meinerseits Thorion genannt. Ich war damals noch zu klein, um Theodorion zu sagen. Er war siebzehn, ein gutes Jahr älter als ich, und man nahm es ihm ab, erwachsen zu sein, während ich immer noch als kleines Kind behandelt wurde. Jungen haben sowieso mehr Freiheiten als Mädchen. Als wir beide noch klein waren, spielten wir immer zusammen, spionierten den Haussklaven nach und stibitzten uns etwas aus der Küche. Als wir dann lernen mußten, half ich Thorion bei den Lektionen, die unser Hauslehrer ihm aufgetragen hatte – Bücher waren noch nie seine Stärke, dafür hatte er den Sinn unseres Großvaters fürs Geld geerbt. Und als er die Schule beendet hatte und sein eigenes Zimmer sowie Taschengeld, drei Sklaven und eine eigene Kutsche bekam, da war es fast so, als hätte ich die gleichen Vorrechte erhalten. So sah ich die Sache jedenfalls, und nach einigen Protesten stimmte mir Thorion für gewöhnlich zu.
Ich fand Thorion im Blauen Hof beim Studium des Latein. Der Blaue Hof hieß wegen seines Brunnens so, da er mit blauen Kacheln und mit Delphinen aus farbigen Mosaiken geschmückt war. Thorion haßte Latein ebenso wie unser alter Hauslehrer Ischyras. Aber im Rechtswesen wird Latein gesprochen, wenn man es in der kaiserlichen Verwaltung zu etwas bringen will, muß man es eben können. Und Thorion wollte es in der Verwaltung zu etwas bringen. »Vater gibt immer nur Geld aus«, pflegte er verächtlich zu sagen. »Pferderennen und irgendwelche Ehrenämter! Ich gehe zum Gericht, um etwas zu verdienen. Man kann dreißig Pfund in Gold bekommen, nur weil man jemanden als Notar empfiehlt!« Er überredete Vater dazu, bei dem Professor für Latein und Recht aus Ephesus studieren zu dürfen, und er erreichte, daß auch ich Latein lernte, um es ihm dann erklären zu können. »Was das Pauken anbetrifft, bist du ganz einfach unschlagbar«, schmeichelte er mir.
»Hast du den Galen für mich kopiert?« fragte ich ihn. Ich wußte, daß er es nicht getan hatte, aber wenn er es zugeben müßte, hatte ich vielleicht mehr Chancen, daß er mir beim Sezieren helfen würde.
Er biß auf seinem Griffel herum und warf den Kopf in den Nacken: Nein. Das war noch so eine bäurische Angewohnheit, die Maia verabscheute. Aber Thorion hatte einen Haufen bäurischer Angewohnheiten. Er war groß für sein Alter, hatte breite Schultern und mächtige Pranken; seine Zähne saßen krumm und schief in seinem Mund. Seine Haare waren genauso schwarz wie meine, aber er hatte Naturlocken, während die meinen dauernd mit der Brennschere bearbeitet werden mußten – das war ganz einfach ungerecht! Die Leute meinten, er sähe genau wie unser Großvater aus. Ich dagegen geriete unserer Mutter nach: lang aufgeschossen, mager und knochig, mit großen Augen. »Das war eine wirkliche Dame!« sagten alle Haussklaven. »So vornehm, so höflich!« Aber sie war eine Woche nach meiner Geburt an Kindbettfieber gestorben, und so konnte ich das nicht beurteilen. Ich wäre lieber nach Großvater geraten. »Kann ich dein Zimmer für eine Weile benutzen?« fragte ich meinen Bruder. »Und deine Messer?«
Thorion sah mich finster an. »Ist sie tot?« fragte er. Er wußte natürlich von der Drossel. Ich hatte sie ihm gezeigt, nachdem ich ihren Flügel geschient hatte, und er war ziemlich beeindruckt gewesen, obwohl er sie im Grunde genommen lieber in Honig gedünstet gesehen hätte.
»Ich würde dich wohl nicht um deine Messer bitten, wenn sie noch am Leben wäre, oder?«
Thorion bedachte mich schon wieder mit einem finsteren Blick.
»Wozu soll das gut sein? Ich kann ja noch verstehen, daß man einem kranken Tier helfen möchte, aber es nach seinem Tod einfach aufzuschneiden…« Thorion und ich hatten uns schon oft deswegen in den Haaren gehabt, aber ich seufzte ergeben und legte ihm meinen Standpunkt noch einmal dar: »Wenn ich verstehe, warum die Drossel gestorben ist, werde ich ihr das nächste Mal eher helfen können.«
»Wieso beim nächsten Mal? Der Vogel ist doch tot!«
»Beim nächsten Vogel. Oder dem nächsten Tier.«
»Oder dem nächsten Menschen? Würdest du auch Menschen aufschneiden, um zu sehen, warum sie gestorben sind?«
»Die Chirurgen der medizinischen Fakultät von Alexandria tun es. Sie können die Krankheiten besser behandeln, wenn sie wissen, wie der Körper funktioniert. Galen hat es auch getan.«
»Dann werde ich diese Abschnitte aus dem Galen bestimmt nicht kopieren«, sagte Thorion. »Und was die Ärzte in Alexandria tun, das spielt keine Rolle, Charition. Du bist kein Arzt.«
»Immerhin kann ich Medizin studieren, wenn ich will.«
»Das solltest du aber nicht. Es schickt sich nicht für eine Frau. Für eine Dame.«
Ich schnaubte wütend. »Nun, wenn ich erst einmal erwachsen und verheiratet bin, werde ich tun können, was ich will. Und ich will Ärztin für meinen eigenen Hausstand sein. Ich werde meinem Mann Geld ersparen.«
»Welcher Mann würde schon eine Ärztin heiraten wollen?« fragte Thorion, aber er gab nach. Geld zu sparen war für ihn stets ein überzeugendes Argument.
»Also gut«, meinte er. »Die Messer findest du im Kasten in der Mitte der Kleidertruhe.«
»Danke«, sagte ich. Ich ging zu ihm, gab ihm seine Schreibtafel zurück und gab ihm einen Kuß. »Ich wußte doch, daß du mir hilfst.«
Er grunzte: »Sei vorsichtig. Ich habe Angst, daß dich jemand dabei überrascht und dich der Schwarzen Magie beschuldigt.«
»Könnte denn jemand reinkommen?« fragte ich. Die Leute hatten kürzlich wegen eines Falles von Schwarzer Magie verrückt gespielt: Man war einem Wagenlenker auf die Schliche gekommen, der auf der Rennbahn Verwünschungen gegen drei seiner Rivalen benutzt hatte, darunter auch gegen einen Fahrer meines Vaters. Vaters Mann wurde krank und erholte sich erst, als in dem Hypokaustum unter seinem Schlafzimmer eine gekreuzigte Kröte entdeckt wurde. Ich war sehr überrascht gewesen: Eigentlich hatte ich geglaubt, der Mann litte an einem Darmfieber. Aber Wagenlenker arbeiteten immer mit Schwarzer Magie. Der Wagenlenker meines Vaters tat immer sehr wissend, wenn das Thema zur Sprache kam, obwohl er nicht gerne darüber sprach. Man behauptete, auch er habe sich mehrerer Rivalen durch Magie oder Vergiften entledigt. Bestimmt würde jeder, der in unserem Haus dabei überrascht wurde, den Körper eines kleinen Tieres zu verstümmeln, sofort der Magie beschuldigt werden, selbst wenn es sich dabei um die Tochter des Hauses handelte.
Thorion zuckte die Achseln. »Vater hat Besuch. Jemand Wichtiges, glaube ich. Sämtliche Sklaven rennen wie wild durcheinander, um dieses oder jenes für ihn und sein Gefolge zu holen. Nein, ich glaube, du bist sicher in meinem Zimmer. Aber verriegele bitte die Tür, ja?«
Ich nickte und rannte durch das Haus zurück. Die Sklaven taten äußerst geschäftig. Ich mußte zwei Hausburschen ausweichen, die einen Tisch einen der Flure hinuntertrugen, und als ich durch die Küche kam, schien der halbe Haushalt dort versammelt zu sein und über den Besucher und sein Gefolge zu tratschen. Vielleicht war es doch kein so geeigneter Zeitpunkt, ein Tier zu sezieren. Andererseits war es unwahrscheinlich, daß in einem solchen Augenblick jemand in die Nähe von Thorions Zimmer käme. Und ich mußte mich mit dem Sezieren beeilen, solange der Kadaver noch warm war. Dann konnte ich ihn rupfen und Philoxenos zum Kochen geben, und er würde wahrscheinlich glauben, ich hätte mich nur hilfsbereit zeigen wollen.
Als ich wieder bei den Pferdeställen war, hatte Philoxenos die Stuten in ihre Boxen gebracht und war dabei, sie zu striegeln. Er nahm nicht einmal Notiz von mir, als ich auf den Heuboden hinaufkletterte und die Drossel holte. Ich legte den Vogel in die Gürteltasche, die Vater mir geschenkt hatte. Es war eine Ledertasche, die groß war und praktisch und außerdem einen Satz Schönheitsutensilien enthielt. Mein Vater hatte sie mir zum letzten Fest geschenkt, nachdem bei den Pferderennen zwei unserer Wagenlenker gewonnen hatten. Ich hatte ihm gegenüber geschwärmt, es sei das schönste Geschenk meines Lebens, und ich meinte es auch wirklich so. Die Schönheitsutensilien – die Haarschere, die kleine Pinzette, um Lidschatten aufzutragen, das winzige Rasiermesser an einem ziemlich langen Stiel – ließen sich auch hervorragend als chirurgische Instrumente verwenden. Mir fehlten nur die größeren Messer. Das einzige Ärgernis bestand darin, daß ich meine Schönheitsutensilien gelegentlich auch für kosmetische Zwecke benutzen mußte.
Ich kletterte die Leiter wieder herunter, zupfte mir noch einmal die Strohhalme ab, brachte meine Haare in Ordnung und ging ins Haus zurück. Jetzt herrschte dort keine solche Geschäftigkeit mehr: Der Besucher und sein Gefolge waren versorgt, und alle konnten ein wenig aufatmen. Ich fragte mich einen Augenblick lang, wer der Mann sein mochte: der Aufregung nach zu urteilen jedenfalls jemand Wichtiges. Aber mein Vater hatte einen Haufen wichtiger Freunde, und sie kamen öfter zu Besuch. Dann erörterten sie lebhaft, wer bei den nächsten Rennen anläßlich des nächsten Festes mit welchen Pferden antreten würde. Das interessierte mich recht wenig.
Ich war gerade auf dem Flur, an dem Thorions Zimmer lag, als sich die Tür des Nachbarzimmers, das ich mit meinem Kindermädchen teilte, öffnete und Maia herauskam. »Da bist du ja!« rief sie triumphierend. »Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen? Ich habe dich überall gesucht.«
Verdammt. »Ich war unten im Pferdestall«, sagte ich wahrheitsgemäß, »und habe Philoxenos bei der Arbeit zugesehen. Dann habe ich Thorion bei seinem Latein geholfen.«
»Also wirklich, Thorion geholfen! Es schickt sich überhaupt nicht für dich, dich um sein dummes Latein zu kümmern, um diese törichte, barbarische Sprache! Du hast Stroh im Haar; wo hast du dich denn herumgetrieben? Hast du im Stroh gelegen, um den Pferden zuzusehen? Wirklich sehr ungehörig!«
Maias wirklicher Name war Elpis, »Hoffnung«. Sie war eine fromme Christin und sehr stolz auf ihren Namen. Aber alle Kinder nennen ihre Ammen Maia. Sie war eine magere, knochige Frau, mit Armen wie Lederschnüre und glattem rotem Haar, das allmählich grau wurde. Ihr Vater war ein skythischer Barbar gewesen, der in irgendeinem Krieg gefangengenommen wurde, und ihre Mutter war die Haussklavin eines Kaufmannes aus Ephesus. Ihr Mann war an Lungenentzündung gestorben, und ihr kleiner Junge starb, als er gerade einen Monat alt war. Da damals auch meine Mutter gerade gestorben war und mein Vater eine Amme für mich brauchte, kaufte er sie für sechzig Solidi. Mit der Zeit war Maia auch Thorions Kindermädchen geworden. Sie verfügte in unserem Haushalt über eine beträchtliche Machtstellung, sowohl aufgrund ihrer Position als Hüterin der Kinder des Gebieters als auch aufgrund der ihr angeborenen Gewitztheit – denn sie war eine Frau mit scharfen Augen und einem scharfen Verstand, eine Frau, der nicht so leicht etwas entging. Eine weniger ehrliche Frau hätte vielleicht versucht, ein Vermögen anzuhäufen, indem sie sich für ihren Einfluß bezahlen ließ oder kleine Diebstähle beging; eine leichtfertigere Frau hätte vielleicht danach getrachtet, die Konkubine meines Vaters zu werden.
Aber Maia legte großen Wert auf Sitte und Anstand, sie bedeuteten ihr alles. Der Anblick von Thorion und mir, wenn wir frisch gewaschen und gekämmt unsere mit einem purpurfarbenen Streifen versehenen Umhänge spazieren führten, veranlaßte sie in einem Ausbruch von Stolz zu einem entzückten Zungenschnalzen. Sie ging furchtbar gerne mit uns zur Kirche und saß ganz vorne, zwischen uns beiden, wo uns jeder sehen konnte. (Unsere Familie war seit den Jugendtagen meines Großvaters christlich, wenn auch nicht gerade sehr fromm. Großvater bekannte sich zu dem neuen Glauben, weil er erkannt hatte, daß die Christen bei Hof Vorzüge genossen. Er wurde beinahe verrückt vor Wut, als Kaiser Julian den Purpur übernommen hatte und plötzlich die Heiden begünstigte.) Die Möglichkeit, vor wichtigen, ranghohen Besuchern mit uns anzugeben, ließ Maias scharfe Augen vor Entzücken aufleuchten. Und wir, Thorion und ich, zuckten natürlich immer zusammen, wenn sie dieses Leuchten in den Augen hatte. Jetzt hatte sie es.
»Du mußt ein anderes Gewand anlegen, Liebling«, rief Maia, und ihre Augen glänzten. »Dein höchst edler Vater hat Besuch, sehr vornehmen Besuch, und er möchte dich und den jungen Herrn Theodoros seinem Gast präsentieren.« (Seit Thorion in ein bestimmtes Alter gekommen war, nannte sie ihn stets den jungen Herrn Theodoros; auf dem Markt fügte sie sogar hinzu »seine Exzellenz« und »der höchst edle« usw. – obwohl ich mir sicher bin, daß sie ihn bei sich immer noch Thorion nannte, wenn sie an ihn dachte.)
Ich fragte mich, was ich wegen meiner Drossel tun sollte. Wenn ich Glück hatte, würde Maia nicht in meine Tasche gucken. Vielleicht sollte ich mein Vorhaben, den Vogel zu sezieren, doch lieber aufgeben? Das war wahrscheinlich das Klügste. Ich konnte den Kadaver in einen der Innenhöfe werfen, falls es mir nicht gelingen sollte, ihn zu den Pferdeställen zurückzubringen. Ein toter Vogel in einem Innenhof ist schließlich nichts so furchtbar Verdächtiges. Ich wünschte den Besucher zum Teufel, wer auch immer er sein mochte, und ich ließ es zu, daß Maia mich in unser Zimmer zerrte, ein neues Gewand für mich auswählte, meine Haare in Ordnung brachte und mir ein hübscheres Paar Ohrringe ansteckte. »Sieh da!« sagte sie. »Die anmutigste junge Dame von ganz Ephesus!« Und sie hielt einen Spiegel vor mich, damit ich mich selbst darin bewundern sollte.
Ich konnte das, was ich da sah, nie so sehr bewundern, wie sie es tat. Ein mageres, großäugiges Gesicht mit kunstvoll gedrehten schwarzen Locken und goldenen Ohrringen mit Perlen – ich muß schon sagen, die Ohrringe waren eindrucksvoller als das ganze Gesicht. Ich hatte eigentlich niemals das Gefühl, daß das Mädchen, das ich da im Spiegel sah, dieses gezierte, ordentlich gekleidete Püppchen wirklich ich war. Ich war fünfzehn, mitten in der Pubertät, und die Veränderungen an meinem Körper sorgten zusätzlich dafür, daß er mir nicht als der meine erschien. Meine Phantasie reichte aus, mich als Zwanzigjährige zu sehen, verheiratet mit einem Mann, dem ich den Haushalt führte, aber ich konnte mir niemals vorstellen, zu heiraten. Ich wußte, daß es geschehen würde, aber es würde dem Mädchen in dem Spiegel geschehen, nicht mir. Ich mußte wohl noch etwas warten, bevor ich mein eigenes Leben leben konnte. Ich nickte und lächelte Maia zu, und sie ließ den Spiegel sinken und klatschte in die Hände. »Also schön«, sagte sie zufrieden, »ich bringe dich jetzt zu den hochgeborenen Herren.«
»Die hochgeborenen Herren« befanden sich in dem sogenannten Wagenlenkerzimmer. Dies war der Raum, in dem mein Vater seine Besucher am liebsten empfing. Er führte auf den ersten, mit einem Säulengang versehenen Innenhof, in dessen Mitte ein Brunnen stand. Wenn man von der Straße kam, mußte man den ganzen Säulengang durchqueren, um zu diesem Zimmer zu gelangen. Auf diese Weise bekam der Besucher einen Eindruck von der Größe und dem Reichtum des Hauses, bevor er dessen Herrn begrüßte. Das Zimmer war nach seinem Mosaikfußboden so genannt worden. Dieser zeigte einen vierspännigen Streitwagen, dessen Fahrer mit Lorbeerzweigen bekränzt war, in vollem Galopp. Eigentlich sollte das Bild Achilles darstellen, aber es ähnelte eher Daniel, dem Lieblingswagenlenker meines Vaters, und seinem besten Gespann Rotbrauner.
Der Raum war sehr groß, und durch die auf den Hof gehenden Fenster fiel genügend Licht. Die Wände waren mit Ornamenten von Bäumen und Vögeln geschmückt, und vor den Fenstern hingen bestickte Vorhänge. Es gab auch einige Gemälde darin, die meisten stellten Pferde dar. Es befanden sich vier Ruhebänke in dem Raum, ein großer Tisch für den Wein und einige kleinere für Becher und Schalen sowie eine Kohlenpfanne, um das Wasser zu wärmen, mit dem der Wein gemischt wurde. Maia und ich kamen nicht durch den Innenhof, sondern über den Flur aus dem rückwärtigen Teil des Hauses. Die Tür des Wagenlenkerzimmers wurde von Soldaten bewacht, riesigen Männern in Hosen, Stiefeln und Armeemänteln. Sie hatten Schwerter umgegürtet, und als Maia die Tür öffnen wollte, legte einer von ihnen seine Hand an sein Schwert und befahl ihr, stehen zu bleiben. »Was denkst du dir eigentlich?« fragte er sie mit einem höhnischen Grinsen.
Maia blieb abrupt stehen. Sie vermutete – genau wie ich –, der Besucher müsse ein Heerführer oder Feldherr sein und seine Leibwache sei ganz einfach übereifrig – so wie es Soldaten nun einmal oft sind, geringschätzig gegenüber Zivilisten, vor allem gegenüber asiatischen Zivilisten, die sie als verweichlicht verachten. »Hüte deine Zunge«, sagte Maia zu dem Soldaten.
»Dies ist die junge und edle Charis, Tochter des höchst ehrenwerten Herrn Theodoros. Der Herr hat nach ihr geschickt, um sie deinem Gebieter vorzustellen.« Sie betonte das Wort Gebieter: Wir waren auf dem Weg zu den Herren und hatten nicht vor, irgendwo herumzustehen und mit Untergebenen herum zu schwatzen.
Der Soldat schnaubte erneut verächtlich und starrte mich an. Ich war ein solches Anstarren nicht gewöhnt – feindselig, neugierig, abschätzig. Mich beschlich plötzlich ein Gefühl leichter Kälte, die beinahe lähmend wirkte. Ich zog einen Zipfel meines Umhangs hoch und hielt ihn mir vor das Gesicht. Endlich einmal war ich froh über die züchtige Bescheidenheit, die es einem jungen Mädchen gebot, einen neugierigen Blick nicht zu erwidern, sondern wegzuschauen. Ich versuchte nachzudenken. Irgend etwas stimmte nicht. Leibwächter mochten unverschämt sein, aber sie pflegten die junge Tochter eines Edelmannes nicht auf diese Weise anzustarren, es sei denn, diesem Edelmann war etwas zugestoßen.
»Stell sie meinem Gebieter doch vor, ja, präsentier sie nur«, sagte der Soldat feixend. »Wirklich sehr großzügig von deinem Gebieter, du alte Hexe. Der Statthalter liebt derartige Präsente.« Einen Augenblick lang war Maia einfach viel zu erschrocken, um zu reagieren. Dann zuckten ihre mageren Schultern, und sie machte den Eindruck, als sei sie drauf und dran, den Soldaten anzuspucken. Aber er lachte nur und gab den Weg frei. »Nun geh schon«, sagte er zu ihr. Ich wußte, daß sie sich vornahm, sich über ihn zu beschweren, sobald sie eine Gelegenheit dazu erhielt.
Sie erhielt keine Gelegenheit dazu. Als wir das Zimmer betraten, war klar, daß wirklich etwas nicht stimmte. Mein Vater stand mitten im Raum, am oberen Ende des Wagenlenkermosaiks und rang die Hände. Thorion war auch schon da; er stand an einem der Fenster und machte einen aufgebrachten Eindruck. Neben ihm standen unser Hauslehrer Ischyras und der Hausverwalter Johannes. Sie wirkten ebenfalls beunruhigt. Sonst kannte ich niemanden; etwa die Hälfte der Männer waren irgendwelche Soldaten, die übrigen sahen wie Hofbeamte aus. Durch die offenen Fenster konnte ich sehen, daß draußen noch mehr Soldaten und Hofbeamte waren.
»Aber warum denn?« jammerte mein Vater, ohne von Maia oder mir Notiz zu nehmen. Er richtete seine Frage an einen hochgewachsenen Mann, der auf der besten Ruhebank saß und gerade einen Schluck von dem Wein meines Vaters trank.
»Weil du Theodoros heißt«, sagte der Mann. »Wenn du unschuldig bist, hast du nichts zu befürchten. Aber es muß Gerechtigkeit herrschen. Wir müssen eine Untersuchung durchführen, und die Strafen werden äußerst hart sein.«
Dieser Mann trug den mit einem Purpurstreifen versehenen Umhang, der auf den Rang eines Senators hinwies. Der Umhang selbst war von einem mit Brokat durchwirkten Grün, in den ein prächtiges Blattmuster eingewoben war, und seine ebenfalls grüne Tunika war lang und reichte ihm beinahe bis zu den Knöcheln: das Gewand eines Mannes von Rang. Er war etwa so alt wie mein Vater, groß, kräftig, mit frischer Hautfarbe. Sein Kinn wies dunkle Bartstoppeln auf, doch seine Haare waren ungewöhnlich blond, beinahe weiß, und er hatte blaue Augen. Er sprach mit einem nasalen Akzent, den ich noch nie gehört hatte, und bei einigen Worten zögerte er, so, als sei das Griechische nicht seine Muttersprache. Um den Hals trug er eine mit vielen amtlichen Siegeln verzierte Kette.
»Aber…«, sagte mein Vater und mußte innehalten, weil die Stimme ihm versagte. Der Fremde beobachtete ihn belustigt. Eigentlich sah mein Vater sehr gut aus, kultiviert und von lässiger Eleganz: Er war ein hochgewachsener Mann, sehr schlank, mit braunen, allmählich etwas schütter werdenden Haaren und großen Händen. Doch jetzt sah er eher wie ein bemitleidenswerter Possenreißer aus. Als er bei dem Versuch, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen, mehrmals schluckte, sprang sein Adamsapfel hervor. Er trug seinen besten Umhang, weiß und gold mit einem Purpurstreifen. Aber in seiner Erregung hatte er ihn über eine seiner spitzen Schultern heruntergleiten lassen und auf der anderen Seite hatte sich der Umhang verfangen und zeigte unter der blauen Tunika die dünnen, haarigen Unterschenkel meines Vaters. Seine Hände zitterten. Als er es bemerkte, preßte er sie zusammen und begann dann erneut, sie zu ringen. Es war mir noch nie so klar geworden, wie lächerlich die Angst einen Mann machen kann.
»Aber ich habe doch nichts getan, um solche Verdächtigungen zu verdienen!« brachte er schließlich heraus. »Niemand ist ihrer Erhabenen Majestät treuer ergeben als ich! Ich habe immer alle meine Pflichten als Bürger und ergebener Untertan erfüllt. In den vergangenen acht Jahren habe ich dem Magistrat von Ephesus fünfmal angehört. Ich habe, ich weiß nicht wie viele Pferderennen finanziert. Ich habe Gelder für die Reparatur der öffentlichen Bäder und des Aquädukts sowie für die Ausbaggerung des Hafens beigesteuert. Ich habe…«
»Du hast sehr viel getan, um die Zuneigung deiner Mitbürger zu gewinnen«, unterbrach ihn der Fremde gelassen. »Aber seine Erhabene Majestät, unser erlauchter und ruhmreicher Gebieter, der Augustus Valens« – und er ließ sich die Titel des Kaisers so genießerisch auf der Zunge zergehen, als kaue er auf Zuckerwerk herum – »möchte gerne wissen, warum du all dies getan hast.«
Mein Vater stand ganz einfach da und schnappte wie ein Fisch nach Luft. Sein großer Aufwand für den Magistrat und für die Pferderennen war immer sein bestes Argument gewesen, wenn ihn zum Beispiel jemand auf unsere Pforte in der Stadtmauer ansprach. Er hatte sich niemals vorstellen können, daß ihm jemand diese Großzügigkeit als absichtliches und vorbedachtes Haschen nach Volkstümlichkeit auslegen könnte. Natürlich, er war beliebt! Wenige der anderen vornehmen Herren in Ephesus waren erpicht darauf, irgendwelche Posten in der städtischen Verwaltung anzunehmen. So etwas brachte nun einmal riesige Unkosten mit sich, da die öffentlichen Bäder erhalten werden mußten und das Volk an den Festtagen mit Wagenrennen ergötzt werden wollte. Und so waren sie denn höchst erfreut, daß mein Vater sie immer wieder dieser Notwendigkeit enthob. Natürlich, das Volk trank ausgiebig auf sein Wohl und jubelte ihm zu, wann auch immer er sich zeigte: der höchst ehrenwerte Theodoros, der Veranstalter der Pferderennen! Sie waren genauso wild auf Pferderennen wie mein Vater.
»Ich… Ich bin nur ein um das Gemeinwohl besorgter Bürger«, rief Vater pathetisch aus. »Und ich kümmere mich um das Wohlergehen meiner Stadt. Und ich liebe Pferderennen.«
»Mag sein.« Der andere richtete sich auf seiner Ruhebank auf und setzte die Schale mit dem Wein ab. »Mag sein. Wir werden ja sehen. Was hast du getan, als der Thronräuber Procopius Ansprüche auf die kaiserliche Würde erhob?«
»Ich? Was hätte ich denn tun können? Ich bin zu Hause geblieben, wie es einem ehrbaren Mann geziemt.«
Dies entsprach soweit – und das war nicht sehr weit – der Wahrheit. Er hatte mit dem Prätendenten, der ein Mann von vornehmstem Herkommen war – mein Vater hielt sich ja selbst für einen Aristokraten – sympathisiert. Als es Procopius gelungen war, die Kontrolle über die Provinz zu erlangen, hatte mein Vater sich in der Tat mit seinen Freunden darüber beraten, ob sie zum Hof gehen und dem Prätendenten ihre besten Wünsche entbieten sollten. Doch dann hatten sie sich dazu entschlossen, erst einmal abzuwarten, aus welcher Richtung der Wind wehen würde – ein glücklicher Vorsatz, da Procopius ein paar Monate später von Kaiser Valens besiegt worden war. »Ach wirklich? Und du hast nicht etwa auf das Wohl des Thronräubers angestoßen und beteuert, er sei immerhin ein Vetter von Kaiser Konstantius und werde einen besseren Kaiser abgeben als der Sohn eines pannonischen Bauern?«
»Nein! Nein! Natürlich nicht.« Mein Vater schluckte schon wieder. Vielleicht hatte er es tatsächlich getan, dachte ich bei mir. Aber der Fremde würde doch einen Mann sicherlich nicht allein wegen einer solchen Unbedachtsamkeit des Verrats bezichtigen? Die meisten reichen Männer in den östlichen Provinzen des Imperiums hatten genau das gleiche getan. Inzwischen war der ganze Streit sowieso hinfällig geworden, und es war sinnlos, ihn noch einmal aufzuwärmen.
Doch der Fremde war noch nicht zu Ende. »Du warst ein Freund des Euserios, des früheren Statthalters dieser Provinz«, stellte er fest. Er sagte nicht des »vorzüglichen Herrn Euserios«, nicht des »höchst edlen Euserios«. Euserios befand sich eindeutig in großen Schwierigkeiten.
»Ja. Das heißt, ich kannte ihn. Natürlich, Vortrefflicher, ich kannte ihn; vor zwei Jahren residierte er hier in Ephesus: Wie konnte ich ihn denn, als ehemaliger Statthalter und führender Bürger der Hauptstadt dieser Provinz, nicht kennen? Aber seit damals habe ich ihn nicht mehr gesehen, Vortrefflicher. Wir waren nicht miteinander befreundet.«
»Du hast einen Briefwechsel mit ihm geführt.«
»Nein! Jedenfalls nichts von Belang, lediglich Empfehlungsbriefe für ein paar junge Männer, die gerne in sein Gefolge aufgenommen werden wollten. Ich hoffe, er hat nichts Schlimmes getan. Ich bin sicher, daß er nichts Böses im Sinn gehabt hat…« Mein Vater hielt inne, er schwitzte. Ich konnte mich noch erinnern, wie Euserios, ein feister, fröhlicher Mann und ein fähiger Statthalter, einen Trinkspruch auf den letzten Erfolg meines Vaters auf der Pferderennbahn ausgebracht hatte.
»Er ist tot«, erwiderte der andere. »Erdrosselt. Nachdem man ihn auf die Folter gespannt hat.«
Mein Vater wurde blaß und sank auf der nächsten Ruhebank nieder. Maia ließ mich los, ergriff eilig einen Becher Wein und gab meinem Vater etwas zu trinken. Sie zupfte an seinem Umhang und fächelte ihm Luft zu. Ich fühlte mich elend. Bis jetzt hatte ich nicht unbedingt Angst gehabt. Es war mir klar, daß der Fremde unangenehm war und daß mein Vater völlig außer Fassung war, aber ich hatte geglaubt, es könne ihm nichts zustoßen: meinem Vater, dem höchst edlen Theodoros von Ephesus, dem Ausrichter der Pferderennen! Aber wenn Euserios etwas zustoßen konnte, konnte jedem etwas zustoßen. Gefoltert! Im allgemeinen wurden Leute vom Range eines Euserios nicht gefoltert. Wenn das Gesetz, das sie davor schützte, außer Kraft gesetzt wurde, so bedeutete das, daß eine nachgewiesene und sehr ernste Verschwörung gegen den Kaiser vorliegen mußte. Und die Grausamkeit der erhabenen, geheiligten Majestäten war berüchtigt. Auch nur das geringste Anzeichen von Verrat würde mit äußerster Strenge verfolgt werden.
»Du kennst auch meinen Vorgänger Eutropios«, sagte der Fremde. Eutropios war der Statthalter des letzten Jahres, dann mußte dieser Mann also der gegenwärtige sein. Der Soldat hatte es wörtlich gemeint, als er von ihm als dem »Statthalter« gesprochen hatte. Wie hieß er noch? Festinus, erinnerte ich mich. Ein lateinischer Römer aus dem Westreich, aus der unvorstellbar fernen Provinz Gallien. Es hatte beträchtlichen Klatsch über ihn gegeben: »Ein absoluter Niemand«, hatte Maia verächtlich zu Ischyras gesagt. »Was sein Herkommen anbetrifft, kaum vornehmer als ich. Aber er hatte das Glück, mit mächtigen Freunden zur Schule zu gehen, und jetzt ist er aus dem Westreich hierher gekommen, diese Geißel.«
Mein Vater sprang auf. »Ja! Ja! Aber wie sollte ich denn den Statthalter Asiens nicht kennen? Wenn er doch hier in Ephesus residiert? Ich hoffe, Eutropios…«
»Er steht im Verdacht«, unterbrach ihn Festinus. Es schien ihm zu mißfallen, daß es bisher nur ein Verdacht war. »Doch Euserios steckte bis zum Hals mitten drin.« Er stand auf und goß sich selbst ein wenig Wein nach. »Er ist ausgezeichnet«, sagte er und nippte an dem süßen Getränk. Dann nahm er seinen Sitz wieder ein. »Zu deinen Weinbergen muß man dir gratulieren.«
Mein Vater blickte ihn verängstigt an. Festinus lächelte. Maia fächelte meinem Vater noch einmal Luft zu, ohne den Statthalter zu beachten, und Festinus deutete mit einem Kopfnicken auf sie. »Wer ist diese Sklavin? Wann ist sie hier hereingekommen?«
Mein Vater nahm einen Schluck von dem Wein, den Maia ihm gereicht hatte. »Sie ist die Amme meiner Kinder«, sagte er. »Meiner Tochter Charis und meines Sohnes Theodoros.« Er deutete mit einer kraftlosen Handbewegung auf uns. Festinus blickte uns beide nachdenklich an und lächelte. Seine weißen Zähne leuchteten in dem geröteten Gesicht.
»Vortrefflicher«, sagte Thorion kühn. »Mein Vater ist kein Verräter.«
»Das hoffe ich«, entgegnete Festinus. »Sind die Sklavin und die junge Dame zwischendurch einmal rausgegangen?«
»Nein, Vortrefflicher«, sagte Maia, beugte ihren Kopf und sah Festinus immer noch nicht an. Ihr Tonfall war äußerst respektvoll, doch die Stimme schien kaum zu ihr zu gehören.
»Wir sind gerade hereingekommen, niemand ist zwischendurch draußen gewesen. Ich glaube, deine Leibwächter würden auch keinen durchlassen, falls es jemand versuchen sollte.«
Der Statthalter nickte. »Gut. Dann konnte also niemand Anweisung geben, etwas zu verstecken.« Er nickte noch einmal und befahl einem der Beamten: »Sag ihnen, sie sollen jetzt damit anfangen, das Haus zu durchsuchen.« Er sah meinen Vater erneut an. »Gib ihm sämtliche Schlüssel.«
»Johannes«, sagte mein Vater mit gebrochener Stimme zu seinem Hausverwalter. »Du hast die Schlüssel. Gehe mit diesem edlen Mann mit und tu, was er sagt.«
»Auch deine privaten Schlüssel«, beharrte Festinus.
Mein Vater starrte ihn unglücklich an, dann nahm er sehr langsam den Riemen von seiner Tunika, an dem die Schlüssel zu seiner Schatztruhe und dem Schreibpult hingen. Er blickte sie einen Augenblick lang starr an. Der Hausverwalter Johannes trat zu ihm und streckte seine Hand nach ihnen aus, wobei er ebenso blaß aussah wie mein Vater selbst. Vater ließ die Schlüssel in die ausgestreckte Hand seines Verwalters fallen, und Johannes ging zu dem Beamten, auf den der Statthalter gezeigt hatte.
Der Beamte verneigte sich vor Vater und Festinus, nickte einigen der Soldaten zu und ging in den Hof hinaus. Mit den Leuten draußen machte er sich daran, das gesamte Haus nach Beweisen für einen Verrat zu durchstöbern. Mir wurde klar, daß sie anschließend auch die Sklaven foltern würden. Und dann, falls irgendein Beweis auftauchen oder falls irgendeiner aus dem Haushalt auf der Folterbank etwas sagen sollte, sei es nun wahr oder nicht, würden sie meinen Vater foltern und ihn hinrichten, falls er etwas gestand – und er würde unter der Folter alles gestehen. Zuletzt würden sie sein Vermögen einziehen. Ich spürte, wie ich zu zittern begann. Ich zog das eine Ende meines Umhangs über das Gesicht und kaute an ihm. Thorion kam zu mir und legte mir seinen Arm um die Schultern. Er flüsterte mir etwas ins Ohr, als tröste er mich. Doch in Wirklichkeit fragte er mich: »Was hast du mit dem Vogel gemacht?«
Diese Frage ließ die Panik in mir verebben. Wenn die Männer den verstümmelten Körper eines kleinen Vogels in Thorions Zimmer fanden, würde mein Bruder unweigerlich der Schwarzen Magie angeklagt, und Schwarze Magie und Verrat paßten wie Salz und Weinessig zusammen. Ich berührte mit der Hand die lederne Kosmetiktasche an meinem Gürtel, und Thorion gab einen schwachen Seufzer der Erleichterung von sich. »Das ist alles Quatsch«, sagte er jetzt ein bißchen lauter, ohne sich darum zu kümmern, ob Festinus es hörte. »Sie werden nichts finden und wieder weggehen. Man kann einen Mann nicht des Verrates für schuldig befinden, nur weil er vor zwei Jahren mit einem der Verräter auf gesellschaftlicher Ebene verkehrt hat.«
Festinus hörte es. Er sah uns an und lächelte erneut. »So, so, aber da gibt es noch mehr«, meinte er. Er schien die Situation zu genießen. Er nahm noch einen Schluck Wein. In meinen Vater schien wieder etwas Leben zu kommen, und er sah den Statthalter an. »Ich habe dir schon gesagt, daß der Grund für diese ganze Geschichte dein Name Theodoros ist«, fuhr Festinus fort und wandte sich wieder Vater zu. »Die Verschwörung, die der Himmel in seiner Gnade aufgedeckt hat, zielte darauf ab, einen Theodoros zum Kaiser zu machen.«
»Davon weiß ich nichts«, sagte Vater.
»Die Verschwörer haben dabei auch nicht an dich gedacht«, gab Festinus zu. »Sie wollten den Purpur Theodoros dem Notar geben. Aber es könnte ja immerhin auch ein anderer Theodoros gemeint gewesen sein. Das Orakel war nicht eindeutig.«
Alle starrten ihn an, und er nahm erneut einen Schluck Wein. Er genoß die Situation wirklich. Ich hatte damals keine Ahnung, wer Theodoros der Notar war: Später erfuhr ich, daß er ein reicher und sehr viel vornehmerer Edelmann war als mein Vater. Doch was die allgemeine Aufmerksamkeit so erregte, das war die Erwähnung eines Orakels. All die von früher her berühmten Orakel waren stumm. Entweder weil sie, wie die Kirche behauptete, durch das Erscheinen von Christus ihrer Macht beraubt waren, oder, wie die Heiden meinten, weil die Christen sich eingemischt hatten: die Ohnmacht der Priesterschaft sei Schuld an ihrer Unzuverlässigkeit.
»Vor ein paar Monaten«, erzählte Festinus in einem beiläufigen Tonfall, »wurden zwei Giftmischer und Magier, Palladios und Heliodoros, wegen einer unerheblichen Sache vor Gericht gestellt. Um der Folter zu entgehen, versprachen sie, das Gericht über eine weit ernstere Angelegenheit zu informieren, von der sie – von Berufs wegen – Kenntnis erhalten hatten. Es hat den Anschein, als hätten Fidustius, Pergamios und Irenaios, alles Männer vom kaiserlichen Hof und edle Leute von großer Vornehmheit« – er bedachte meinen Vater mit einem ironischen Blick –, »durch geheime und verabscheuenswürdige Künste den Namen des Mannes in Erfahrung gebracht, der unserem erlauchten und geliebten Gebieter Valens nachfolgen wird.«
Und wieder beobachtete Festinus uns alle mit seinen kühlen blauen Augen. Ich hörte auf, an meinem Umhang herumzukauen, und starrte ihn meinerseits an, wobei ich dem Himmel und meinem Glück dankte, daß ich den Kadaver des Vogels immer noch bei mir trug. Es war unwahrscheinlich, daß sie mich selbst durchsuchen würden: Er müßte eigentlich sicher sein bei mir. Aber falls jetzt auch nur das geringste Anzeichen von Magie zu Tage träte, würden wir allesamt stranguliert werden.
»Fidustius befand sich zufällig gerade am Hof in Antiochia, als diese Sache passierte«, fuhr Festinus fort. »Er wurde gefoltert und enthüllte alles, was er wußte. Mit Hilfe jener beiden Magier von edler Abstammung« – wieder dieses ironische Lächeln, diesmal galt es Thorion und mir – »hatten die Verschwörer ein Orakel errichtet, das den alten Orakeln ähnelte. Sie konstruierten einen goldenen Dreifuß nach dem Vorbild des Dreifußes von Delphi und stellten ihn auf eine runde Platte, die aus verschiedenen Metallen bestand und an deren Rand die Buchstaben des Alphabets eingraviert waren. Nach allen möglichen heidnischen und gottlosen Riten befestigten sie daraufhin mit Hilfe eines Fadens von feinem Leinen einen Ring an dem Dreifuß und versetzten diesen Ring in Schwingungen. Er kam über dem einen oder anderen Buchstaben zur Ruhe. Die Verschwörer schrieben sie nieder, und auf diese Weise beantwortete das Orakel ihre Fragen. Und zwar antwortete es in einem Versmaß, in delphischen Hexametern, so wie die Orakel der Alten. Es sagte, der nächste Kaiser würde ein in jeder Beziehung vollkommener Mann sein«, Festinus lächelte meinen Vater an, dann wandte er den Blick mit einem Achselzucken von ihm ab. »Und sein Name laute… das Orakel buchstabierte: THEOD – woraufhin einer der Verschwörer ausrief: ›Theodoros der Notar!‹ Ihn hatten diese verworfenen Männer bereits als den besten Kandidaten für den Purpur ausersehen. So befragten sie das Orakel also nicht weiter nach dem nächsten Kaiser, sondern stellten statt dessen Fragen bezüglich ihres eigenen Schicksals. Und es prophezeite wahrheitsgemäß, daß sie wegen dieses Versuchs, sich Einblick in die Mysterien des Schicksals zu verschaffen, allesamt auf höchst elende Weise zugrunde gehen würden.«
Wieder lächelte er, dann goß er frischen Wein in seinen Becher und trank. »Außerdem hat Fidustius gestanden, dein Freund Euserios habe diese Neuigkeiten Theodoros dem Notar überbracht. Theodoros wurde aus Konstantinopel herbeigeschafft. Zuerst leugnete er alles, dann gab er zu, Kenntnis von dem Orakel zu haben, behauptete jedoch, er habe Euserios geantwortet, falls Gott ihn zum Kaiser auserkoren habe, dann sollten sie doch Gott und dem Wirken des Schicksals vertrauen, damit es sich erfüllen könne. Euserios behauptete unter der verschärften Folter zwar dasselbe, schließlich jedoch wurde Theodoros durch einen von eigener Hand geschriebenen Brief überführt. Es hatte wirklich einen Versuch gegeben, unseren erlauchten Gebieter zu ermorden, bevor dieses teuflische Komplott ans Licht gekommen war, aber niemand hatte geahnt, was dahinter steckte. Der Himmel selbst schützte unseren erlauchten Herrn Valens und ließ das Schwert seines Angreifers abgleiten.« Festinus stellte seinen Becher ab. »Doch jetzt, da der Anwärter tot ist, macht sich unser erlauchter Gebieter Sorgen. Hat sich das Orakel vielleicht getäuscht, oder haben die Verschwörer etwa einen falschen Schluß gezogen? Könnte ein anderer Theodoros gemeint gewesen sein? Weitere Nachforschungen sind im Gange. Ich für meinen Teil bin jedenfalls entschlossen, sie mit der unerbittlichsten Strenge durchzuführen, da unser gottesfürchtiger und scharfsichtiger Kaiser mir die Statthalterschaft dieser Provinz anvertraut hat. Und wenn ich einen Theodoros finde – einen reichen Mann edler Herkunft, der nur wenig Liebe für unseren allergütigsten Augustus bezeigte, als dieser von einem Thronräuber herausgefordert wurde; einen Mann, der mit einigen in diese Verschwörung verwickelten Verbrecher befreundet war; einen Mann, der darauf aus war, die Unterstützung seiner Mitbürger zu gewinnen und für dieses Vorhaben Tausende von Solidi in Gold ausgegeben hat – wenn ich einen solchen Mann finde, dann werde ich mißtrauisch.«
Vater sah ihn hilflos an. Er machte einen völlig geknickten Eindruck, so, als drohe ihm bereits die Folterbank. »Ich habe nichts getan«, flüsterte er. »Gar nichts.«
Festinus lachte. »Wenn ich dich so sehe, möchte ich es beinahe glauben. Nun, wenn du nichts getan hast, dann hast du auch nichts zu befürchten.« Hippokrates sagt, ein Arzt müsse seine Patienten sorgfältig beobachten, und es dürfe ihm nichts entgehen, falls er eine gute Diagnose stellen wolle. Ich hatte mich im Beobachten geübt. Jetzt beobachtete ich, trotz meiner Angst, Festinus. Er meinte es wirklich so, als er sagte, seiner Ansicht nach habe mein Vater sich nichts zu Schulden kommen lassen. In Wirklichkeit hatte er es wahrscheinlich die ganze Zeit über geglaubt. Dieses schlechte Schauspiel wurde aus irgendeinem anderen Grunde inszeniert. Vielleicht, um dem Kaiser zu beweisen, wie eifrig er gegen dessen Feinde vorging. Festinus war ein Fremder hier im Osten und hatte keine Freunde: Er mußte sich keine Gedanken darüber machen, wie andere mit ihm umspringen würden, wenn seine Amtszeit als Statthalter abgelaufen war. Er würde sowieso niemals von jemandem empfangen werden, es sei denn, er wäre offensichtlich ein Günstling des Kaisers. Was seine Herkunft anbetraf, so war er, genau wie Maia sagte, ein Niemand. Deshalb war es für ihn von allergrößter Wichtigkeit, die Aufmerksamkeit des Kaisers zu erringen und sich zu erhalten.
Aber als ich ihn lachen sah, wußte ich, daß er es genoß, Menschen zu demütigen, die sich, wie mein Vater, als Aristokraten betrachteten. Hier war er, der Sohn eines Niemand, und dennoch konnte er einem reichen Senator mit der Folter drohen und zusehen, wie er zitterte. Ja, er genoß dieses Schauspiel.
»Theodoros ist ein häufiger Name«, warf Thorion ärgerlich ein. »Es muß allein im Ostreich Hunderte von mächtigen Männern dieses Namens geben. Will der Kaiser sie allesamt anklagen? Und was hat er für eine gesetzliche Handhabe?« Thorion wurde immer ärgerlich, wenn er Angst hatte: ärgerlich und aggressiv.
Festinus schnaubte verächtlich und sah ihn nachsichtig an. Du bist sehr jung, sagte sein Blick, und du verstehst nichts von diesen Dingen. »Wir werden jeden, der in dieser äußerst schwerwiegenden Angelegenheit unseren Verdacht auf sich zieht, verhören«, entgegnete er förmlich.
Die Tür zum Flur öffnete sich, und der mit der Durchsuchung beauftragte Beamte kam herein und zog den weinenden Johannes hinter sich her. Hinter ihm tauchten zwei Soldaten auf. Ich beobachtete Festinus und sah, wie seine Gesichtszüge erstarrten, wobei sich sein Mund angesichts dessen, was er da sah, vor ungeheuchelter Überraschung öffnete. Erst dann wandte ich meinen Blick von ihm ab.
Die Soldaten hatten ein großes Tuch aus purpurfarbener Seide in der Hand. Es war mit goldfarbenen Ornamenten bestickt, und die Kanten waren mit goldenen Fransen gesäumt. Sie breiteten es auf dem Fußboden über dem Mosaik des Wagenlenkers aus. Wie es da auf den farbigen Fliesen lag, leuchtete es prächtig und intensiv: kaiserlicher Purpur. Nur Kaisern war es erlaubt, Purpur zu tragen. Wenn ein anderer Mann ein solches Gewand besaß, bedeutete dies ein Kapitalverbrechen.
»Es befand sich in seiner privaten Kleidertruhe«, sagte der Beamte. »Keiner der Sklaven will es vorher schon einmal gesehen haben, und allesamt leugnen, irgend etwas davon zu wissen.«
»Nein!« protestierte Vater. Er sprang auf, schlug mit den Fäusten auf die Ruhebank, dann fiel er auf die Knie. »Nein, es ist nicht so, wie du denkst. Ich kann es erklären!«
»Du wirst das alles erklären müssen, darauf kannst du Gift nehmen«, erwiderte Festinus finster. Er war ebenfalls aufgesprungen und starrte den Purpur an. »Ich gratuliere dir, Theodoros. Ich dachte, du bist genauso schwächlich und töricht, wie du vorgibst. Ich dachte, du bist unschuldig. So, so: dann hast du also doch mit Euserios zusammen ein Komplott geschmiedet. Ist Eutropios mit von der Partie? Wer sonst noch? Nenn deine Komplizen!«
»Aber ich bin doch kein… ich meine, das Tuch war nicht für mich bestimmt.«
»Für wen denn dann? Für wen? Wir werden die Wahrheit aus dir herausbekommen. Wir werden sie ans Tageslicht zerren. Wir können dich trotz deiner Reichtümer der Folter überantworten. Wir können die Wahrheit aus dir herausreißen! Es hat keinen Zweck, jetzt noch irgend etwas zu leugnen!«
Ich war vor Schreck beinahe in Ohnmacht gefallen, als ich den Purpur sah. Ich konnte ganz einfach nicht glauben, daß mein Vater so etwas besaß. Wenn ich nicht gesehen hätte, wie überrascht Festinus war, hätte ich geglaubt, er habe das Tuch untergeschmuggelt. Aber es gehörte meinem Vater. Das bewies auch die plötzliche Wut des Statthalters. Er war nicht einfach ärgerlich, sondern rachsüchtig: Er war zum Narren gehalten worden. Kein mehr oder weniger höfliches Gerede mehr über einen bloßen Verdacht und die Gottwohlgefälligkeit unseres Erhabenen Gebieters.
Mein Vater kniete auf dem Fußboden und zerrte am Saum des Gewandes: Er war viel zu verstört, um etwas zu sagen. Ich war immer noch zu entsetzt, um zu weinen. Doch die äußere Form des purpurfarbenen Gewandes erinnerte mich plötzlich an etwas anderes, etwas, das ich kürzlich gesehen hatte. In den Pferdeställen. Und mir wurde klar (und eine Welle der Erleichterung ließ endlich meinen Tränen freien Lauf), daß der Purpur gar kein Gewand war, sondern eine Schmuckdecke für einen Streitwagen.
»Es ist für einen Streitwagen bestimmt«, sagte ich laut.
Alle starrten mich an, als sei ich von Sinnen. All diese würdigen Männer und Beamten starrten auf ein fünfzehnjähriges Mädchen. »Könnt ihr denn nicht sehen, daß es für einen Streitwagen bestimmt ist?« rief ich. Ich eilte hinzu und hielt den Stoff hoch, legte ihn so hin, daß seine Vorderseite über die Lehne einer der Ruhebänke fiel, wobei die Fransen über die Rücklehne und die Seiten hingen. »So etwas taugt nicht als Kleidungsstück«, sagte ich zu Festinus. Er beugte sich über mich, kam mir dabei sehr nahe und runzelte die Stirn.
»Wer würde denn ein purpurfarbenes Gewand für einen Streitwagen brauchen?« fragte er, seine Stimme hörte sich jedoch etwas unsicher an.
»Vater zum Beispiel.« Ich hatte keine Ahnung, daß er etwas Derartiges beabsichtigte, aber jetzt, da ich verstand, worum es sich bei dem Gewand handelte, konnte ich mir alles übrige zusammenreimen. »Er hat es für die Spiele in diesem Sommer machen lassen. Er gehört dem Magistrat an. Er wollte eine Statue des Augustus, unseres Erhabenen Gebieters, in dem Siegerwagen aufstellen und sie durch die Stadt fahren. Er hat den Sklaven nichts davon erzählt, weil er alle mit einem neuen Schauspiel überraschen wollte. Wenn man so etwas den Sklaven erzählt, dann weiß es vor Sonnenuntergang bereits die ganze Stadt. Jedesmal, wenn er dem Magistrat angehört, erwarten alle etwas Neues von ihm, und er liebt es, die Leute zu überraschen. Aber mir und Thorion hat er alles erzählt – nicht wahr, Thorion?«
Ich wußte, daß er Thorion nichts dergleichen erzählt hatte. Er wußte sehr wohl, was Thorion von all seinen Ehrenämtern und Pferderennen hielt. Aber er hatte es sicher ein paar anderen erzählt – Daniel, dem Wagenlenker, und Philoxenos und vielleicht einem oder zweien seiner Freunde. Ich hoffte, daß das mit der Statue stimmte: Ich hatte sie ins Spiel gebracht, weil ich ihn nicht für tollkühn genug hielt, seinen Siegeswagen ohne irgendeine öffentliche Rechtfertigung in der Stadt herumfahren zu lassen (und er war sicher gewesen, daß sein Streitwagen siegen werde, sonst hätte er nicht den Purpur bestellt). Wenn diese Vermutung stimmte, dann mußte er sich mit ein paar anderen im Stadtrat abgesprochen haben, um die Statue des Kaisers vom Marktplatz zur Pferderennbahn zu schaffen, sie herzurichten und anschließend in dem Streitwagen aufzustellen. Dann hätte er vielleicht noch andere Zeugen.
»Das stimmt«, sagte Thorion. Mein Bruderherz war zwar keine große Leuchte beim Lernen, aber er war alles andere als dumm. »Es ist schon so lange her, seit der Augustus Ephesus einen Besuch abgestattet hat, daß Vater dachte, es täte der Stadt gut, wenn er den Bürgern zumindest ein Bild unseres Erlauchten Gebieters vorführe. Er hat uns alles erzählt.«
»Ja!« sagte Vater und richtete sich auf, auch wenn er nach wie vor kniete.
»Und ich habe es auch Philoxenos, meinem Pferdeknecht, erzählt und den beiden vortrefflichen Ratsherrn dieser Stadt, Pythion und Aristeides: Sie wollten es übernehmen, die Statue unseres frommen Kaisers anläßlich der Festlichkeiten zur Pferderennbahn zu schaffen. Es wäre so gewesen, als wache der Kaiser von weitem über unser Fest. Nach dem Rennen sollte der Siegerwagen vor der Statue des Kaisers halten, und die Dienerschaft sollte ihn mit dem Purpur behängen und die Statue dann vor dem Wagenlenker aufstellen. Er sollte sie durch die Straßen zum Marktplatz fahren und den Beifall der ganzen Stadt einheimsen.« Vater erholte sich ein wenig. Er sprach beinahe wieder mit seiner gewohnten Gewandtheit und malte sich dabei aus, was er zweifellos vor seinem inneren Auge sah – sein von Daniel gelenkter Streitwagen, wie er durch die Straßen voller jubelnder Menschen fuhr.
Festinus starrte ihn an, dann blickte er zu dem über der Ruhebank ausgebreiteten Purpur. Nachdem ich erläutert hatte, was das Gewand darstellen sollte, konnte man sich nur schwer vorstellen, es könne zu etwas anderem als einer Zierdecke dienen: Wenn mein Vater nicht gleich in Panik verfallen wäre, hätte er es selbst erklären können. Obwohl ihm vielleicht, solange ihm die Folter drohte, niemand geglaubt hätte. »Geht und sucht den Pferdeknecht«, befahl Festinus seinen Männern, während er Vater immer noch anstarrte. »Schleppt ihn fort und fragt ihn auf der Folter aus, ob diese Geschichte der Wahrheit entspricht. Und nehmt diesen Wagenlenker fest – wie heißt er?«
Vater zuckte zusammen. »Daniel.«
»Nehmt ihn fest und fragt ihn über das purpurne Gewand aus, das man in Theodoros’ Besitz gefunden hat. Gebt ihm einen kleinen Vorgeschmack von der Folter – nicht zuviel, er wird ja nicht selbst beschuldigt. Und überprüft die Sache mit diesen Ratsherren.«
Die Beamten nickten, verbeugten sich und gingen hinaus. Festinus sah meinen Vater an, er hatte sein amüsiertes Grinsen wiedergewonnen: »Eine Zierdecke für einen Streitwagen. Ich muß schon sagen.« Er lachte und warf den Kopf in den Nacken, dann hielt er unvermittelt inne. »Wie bist du an den Purpur gekommen?«
Vater erhob sich langsam, starrte Festinus an, dann setzte er sich auf die Ruhebank. »Ich schrieb an die Fabrik in Tyrus und erzählte den Beamten dort, wofür ich ihn wollte, und er wurde mir auf dem üblichen Wege zugesandt. Man müßte die Briefe dort noch haben oder sich zumindest an sie erinnern. Ich habe dreißig Solidi für den Purpur bezahlt.«
Jetzt betrat ein anderer Soldat den Raum und salutierte.
»Wir haben die Durchsuchung beendet, erlauchter Festinus.«
»Gut. Irgendwelche Briefe, irgendwelche Hinweise auf Zauberei?«
»Wir haben die Briefe zurückbehalten, Herr, um sie genau durchzugehen, auf Anhieb springt jedoch nichts ins Auge. Aber es gibt da ein Buch über Astrologie.«
»Tatsächlich?«
Der Soldat zog seine Notizen zu Rate. »Es heißt Phenomena, erlauchter Festinus. Es ist von einem Zauberer namens Aratos.« Festinus schnaubte verächtlich. »Du Dummkopf. Jeder besitzt dieses Buch. Es ist ein klassisches Werk. Sonst nichts?«
»Nichts, edler Festinus«, sagte der Soldat und war offensichtlich enttäuscht.
»Dann sag deinen Männern, sie sollen ein paar Sklaven nehmen und sie verhören, und dann verschwinde«, sagte Festinus.
»Und geh nicht zu hart mit den Sklaven um. Es hat den Anschein, als sei Theodoros trotz allem unschuldig.« Er grinste meinen Vater noch einmal an und entblößte die Zähne, dann blickte er sich suchend im Zimmer um. »Wir werden noch ein paar von deinen Sklaven verhören müssen, vortrefflicher Theodoros«, sagte er sehr höflich. »Deinen Hausverwalter, deinen Privatsekretär und ein oder zwei andere…« Er blickte sich erneut um und sein Blick fiel auf Maia, die hinter Vater stand und ihm Luft zufächelte. Zufällig sah sie in diesem Augenblick gerade Festinus an und blickte nicht auf den Fußboden, und niemand hätte den Ausdruck des Hasses in ihrem Gesicht mißverstehen können. Festinus lächelte: »Und diese Frau dort.« Maia sagte nichts. Einer der Soldaten trat hinzu und band ihr die Hände zusammen. Sie leistete keinen Widerstand. Der Hausverwalter Johannes begann erneut zu wimmern. Er war ein alter Mann und hatte das Haus schon für meinen Großvater verwaltet. Irgendwo hatte er einen Haufen Geld beiseite gelegt, und Vater sagte immer, er wolle Johannes eines Tages freilassen und ihm erlauben, sich zur Ruhe zu setzen. Die Verwaltung des Hauses sollte dann Johannes’ Sohn übernehmen. Vielleicht mußte er dies schon jetzt tun.
Vater räusperte sich. »Du… du wirst ihnen doch nichts wirklich Schlimmes antun, vortrefflicher Festinus?«
Dieser entblößte noch einmal seine Zähne. »Nichts, wovon sie sich nicht innerhalb von drei Tagen erholen – es sei denn, wir entdecken irgend etwas. Du wirst keinen Grund haben, Entschädigung für sie zu beanspruchen. Wenn alles gutgeht, schicken wir sie dir morgen zurück.«
»Maia«, rief ich.
Sie sah mich an, ihr spitzes Gesicht sah abgehärmt aus, doch es gelang ihr zu lächeln. »Mach dir nichts draus, Liebling«, sagte sie. »Ich werd’ schon durchkommen.«
Festinus und sein Gefolge gingen fort und nahmen den gesamten Briefwechsel meines Vaters mit sich, all seine Rechnungen, das purpurfarbene Tuch sowie Maia, Johannes, Philoxenos, zwei Stallburschen, drei Hausmädchen und Georgos, den Sekretär meines Vaters. Ich hätte sicherlich wegen Philoxenos und Johannes und all den anderen geweint, doch ich konnte einzig und allein an Maia denken.
Von der Vorderseite des Hauses aus hatten wir einen Blick auf ganz Ephesus, die Straße hinunter bis zum Theater und zum Marktplatz und, dahinter, bis zum Blau des Hafens. Von einem der Fenster aus beobachtete ich, wie der Trupp davonzog und sich durch die Straßen schlängelte. An der Spitze ritten die Soldaten, dann kam der Statthalter in seiner Sänfte, schließlich die Beamten zu Fuß, gefolgt von den übrigen Soldaten mit den Sklaven. Maia ging sehr aufrecht und stolz, doch sie sah winzig aus zwischen all den anderen. Ich fragte mich, ob der Soldat, der sie so brutal behandelt hatte, derjenige war, der neben ihr ging. Und ich fragte mich, was sie ihr antun würden. Wenn sie Sklaven ausfragen, foltern sie sie stets. Sie behaupten, auf andere Weise bekämen sie die Wahrheit nicht heraus. Ich weiß nicht, wieso man erwartet, die Wahrheit aus jemanden herauszubekommen, wenn man ihn foltert.
Ich ging wieder in mein Zimmer. Ich hatte es mit Maia geteilt, seit sie ins Haus gekommen war: Dort stand ihr Bett neben dem meinen, und ihre kleine Kleidertruhe stand neben meiner großen. Ich setzte mich auf ihr Bett und weinte, dann rollte ich mich zusammen und weinte noch heftiger. Ich kuschelte mich in die von Maias Körper gebildete Delle, da ich mir so sehr wünschte, mich an sie zu kuscheln. Sie hatte mich immer getröstet, wenn mir etwas weh tat. Jetzt würde sie es sein, die leiden mußte, und niemand würde sie trösten. Ich wünschte, ich hätte mich an sie geklammert und laut geweint – doch was hätte das für einen Sinn gehabt? Es hätte sie nur große Anstrengungen gekostet, sich zusammenzureißen, um ihre Würde zu wahren, im übrigen hätte mir kein Mensch auch nur die geringste Beachtung geschenkt.
Nach einer Weile bemerkte ich, daß ich auf etwas Hartem saß. Es war meine lederne Kosmetiktasche – oder um genauer zu sein, es war die Drossel.
Ich richtete mich auf, hörte auf zu weinen und nahm den Vogel heraus. Er war inzwischen kalt und wurde allmählich steif. Seine Augen schienen noch tiefer eingesunken. Was würde passieren, wenn ich den Körper verstümmelte? Wenn ich zu Hekate, Tisiphone und dem Bösen betete und es mit dem nötigen Haß und den richtigen Worten tat, ob dann der Statthalter Festinus wohl zusammenbrechen und sterben würde? Ich versuchte, mir vorzustellen, wie er an irgendeiner qualvollen Krankheit starb, sein feistes rotes Gesicht in Schweiß gebadet, seine Augen glasig starrend und voller Blut. Aber die Vorstellung tröstete mich ganz und gar nicht. Seine Qualen würden Maias Qualen nicht beenden.
In dem Eid des Hippokrates schwört ein Arzt, seine Heilkunst dazu zu gebrauchen, den Kranken Besserung zu verschaffen und niemandem Schaden zuzufügen. Ich vermutete, daß dies auch einschloß, niemandem durch andere Künste Schaden zuzufügen. Und ich wußte die Schwarze Magie sowieso nicht zu handhaben.
Ich stand auf, wusch mir das Gesicht, dann ging ich und warf den Vogel in den ersten Innenhof neben dem Brunnen.
Als ich wieder in das Zimmer kam, war Thorion da. Er saß auf Maias Bett und hatte ihr liebstes Götterbild in der Hand, ein Bild von Maria der Gottesgebärerin und ihrem Sohn, das sonst in einer Nische neben dem Fenster stand. Er hatte ebenfalls geweint. Ich setzte mich neben ihn, und wir umarmten uns.
»Festinus wird es nicht wagen, sie übel zuzurichten«, sagte Thorion nach einem Augenblick. »Er weiß, daß Vater unschuldig ist. Er hat all dies aus reiner Bosheit getan.«
Auch er dachte nur an Maia. Es war merkwürdig: Wir lachten dauernd über Maia, machten uns über ihren Sinn für Schicklichkeit lustig, verkrochen uns, wenn sie mit uns angeben wollte – aber wir zeigten niemals, daß wir sie liebten. Doch sie war unsere Mutter, in viel stärkerem Maße als jene »vollkommene Dame«, die gleich nach meiner Geburt verschwunden war, und es gab niemanden auf der Welt, den wir mehr liebten.
»Das mit der Zierdecke für den Wagen war sehr gerissen«, meinte Thorion nach einem weiteren Augenblick. »Hat Vater dir davon erzählt? Das kann ich mir eigentlich kaum vorstellen.«
»Er hätte es am Ende sicher auch selbst erklären können«, antwortete ich.
»Sie hätten ihm nicht mehr getraut, am Ende«, sagte Thorion.
»Er hätte es von Anfang an sagen müssen. Er hätte es erklären müssen, bevor sie den Purpur fanden. Ich wünschte, er wäre tapferer. Ich hätte diesen Hundesohn nicht damit durchkommen lassen.« Während er dies sagte, ballten sich seine Hände zu Fäusten, und er warf einen finsteren Blick auf das Gottesbild.
»Dieser gallische Emporkömmling! Er ist nur hier, weil er mit dem Präfekt Maximinus zur Schule gegangen ist! Ich würde ihn gerne auspeitschen, diesen Sklaven!«
Dazu konnte ich nichts sagen.
Am folgenden Nachmittag schickte Festinus einen Boten mit der Nachricht, wir könnten unsere Sklaven zurückhaben. Vater sandte sofort zwei Wagen, um sie zu holen. Sie waren allesamt gefoltert worden – man hatte sie mit dem Rücken an einen Pfahl gefesselt und an ihren Armen und Beinen Bleigewichte befestigt. Außerdem waren sie mit Ruten geschlagen worden. Eines unserer Hausmädchen war mehrmals vergewaltigt worden. Philoxenos, der am peinlichsten ausgefragt worden war, hatte man an Brust und Oberschenkeln mit einem Gerät gefoltert, das man Forke nennt, und er konnte nicht mehr aufrecht stehen. Vater mußte allesamt ins Bett schicken und seinen eigenen Arzt holen lassen, um sie zu pflegen.
Während sich der Arzt um die anderen kümmerte (er widmete sich als erstes Philoxenos), tat ich mein möglichstes, um Maia ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Thorion und ich halfen ihr aus dem Wagen, und sie wankte durch das Haus bis in unser Zimmer, wobei wir sie beide stützten. Sie umarmte uns, als sie uns sah, zuckte jedoch zusammen, als wir sie unsererseits umarmten. Einige ihrer Sehnen waren auf der Folterbank gerissen, und ihre Schultergelenke waren geschwollen. Überall auf ihren Armen und quer über ihrer Brust waren die Spuren der Rute zu sehen und ein besonders langer und blutiger Hieb verlief quer über ihr Gesicht.
»Das muß mit warmem Wasser ausgewaschen und dann mit weißem Wachspflaster verbunden werden«, sagte ich zu ihr. »Möchtest du vielleicht ein paar heiße Wundkompressen für deine armen Schultern?«
Maia lächelte mich an und lehnte sich auf ihr Bett zurück.
»Meine kleine Ärztin«, sagte sie. »Nun, diesmal macht es mir nichts aus, wenn du Hippokrates spielst. Ja, ich möchte gerne ein paar heiße Wundkompressen. Und später unbedingt ein Bad, aber im Augenblick… im Augenblick möchte ich mich am liebsten gar nicht bewegen.«
Ich ging hinunter in die Küche und holte einige heiße Kompressen. Die Haussklaven wärmten bereits einen ganzen Haufen davon auf dem Ofen und machten sie für die gefolterten Sklaven fertig. Ich nahm mir drei Kompressen für Maia und wickelte sie in ein Tuch, um sie warmzuhalten. Sie bestanden aus einer Mixtur von Gerste mit etwas Essig und waren in kleine Lederbeutelchen eingenäht, so daß sie lange heiß blieben. Sie taten schmerzenden Gelenken außerordentlich gut. Ich legte je eine auf Maias Schultern und eine unter ihren Rücken. Zuvor wickelte ich sie in ein Kleidungsstück, damit sie ihr nicht zu heiß würden.
»Das wird Festinus noch einmal bereuen«, sagte Thorion. Maia schnaubte verächtlich. »Du verschwendest nur deine Zeit, mein Lieber! Er ist es nicht wert, daß du dich mit ihm abgibst.« Sie dachte einen Augenblick lang nach, dann fügte sie hinzu: »Und unser Herr Jesus Christus hat gesagt, wir sollen unseren Feinden vergeben und für jene beten, die uns Böses tun.«
»Wie kannst du einem derart bösen Mann vergeben, der keine Spur von Reue zeigt? Es hat ihm Spaß gemacht, dies alles unserem Haus anzutun, es hat ihm Spaß gemacht, den Herrn zu erschrecken und die Sklaven zu foltern!«
»Nun«, meinte Maia sachlich. »Als christlicher Edelmann solltest du zumindest nicht auf Rache sinnen. Es schickt sich nicht für dich, derart barbarische Ansichten zu äußern. Und Festinus ist ein Niemand, und er ist den Haß eines hochgeborenen Herrn gar nicht wert.«
»Maia«, sagte ich, »ich liebe dich.« Nur sie konnte christliche Barmherzigkeit mit derart hochnäsiger Vornehmheit verbinden.