3

Ich zögerte den Brief an Thorion noch einen weiteren Monat hinaus. Aber als es September wurde, wußte ich, daß ich schreiben mußte, und zwar vor Einbruch des Winters, um ihn und Maia wissen zu lassen, daß ich in Sicherheit war. Später war es nicht mehr möglich, Briefe abzuschicken. Außerdem war ich mir sicher, daß Thorion inzwischen in Konstantinopel sein würde. So setzte ich mich an einem klaren, warmen Spätsommerabend in mein Zimmer, nahm ein Stück Papyrus und einige Federn in die Hand und schrieb auf die Vorderseite: »Chariton von Ephesus an seinen Wohltäter Theodoros, Sohn des Theodoros von Ephesus. Mit vielen Grüßen.«

Dann saß ich da und starrte minutenlang auf den Papyrus. Durch das Fenster konnte ich sehen, wie meine Nachbarin ihr Zimmer ausfegte. Sie winkte mir zu, und ich winkte zurück. Ich mußte vorsichtig sein mit dem, was ich schrieb. Ich würde den Brief einem Kornschiff mitgeben, und Seeleute waren dafür bekannt, die ihnen anvertraute Korrespondenz zu öffnen, um sich während ihrer langen Reise an ihr zu ergötzen. Ich kaute auf dem Ende meines Federkiels herum. Maia hatte diese Angewohnheit immer mißbilligt. »Du bekommst bei Tisch schließlich genug zu essen!« pflegte sie zu sagen. »Du hast es nicht nötig, wie eine Maus an Schilfrohrfedern zu nagen.«

Die Erinnerung daran ließ mich lächeln. Liebe, ehrliche Maia, die sich solche Gedanken machte! Lieber Thorion, der du vor lauter Sorgen so finster dreinschaust! Rasch schrieb ich den Brief.

Vortrefflicher, ich wollte dir schon früher schreiben, aber ich wußte nicht, ob du schon in Konstantinopel sein würdest. Ich hoffe, es geht dir gut, und ich hoffe vor allem, daß dir nicht irgendwelche lästigen Menschen mit ihrer Feindseligkeit Ärger bereitet haben. Was mich anbetrifft, so bin ich hier in Alexandria sehr glücklich und kann mir keine größere Befriedigung vorstellen, als so zu leben, wie ich jetzt lebe. Die Ärzte des Museums halten viel von mir und sagen, daß ich große Fortschritte in meinem Studium mache. Ich bin Assistent eines gewissen Philon, eines Juden, der mit dem Museum in Verbindung steht, und ich wohne in seinem Haus, in der Nähe des Sonnentores. Er ist ein geschickter und freundlicher Lehrmeister, und ich verdanke ihm sehr viel. Grüß Maia von mir. Nimm, lieber Thorion, meine höchste Wertschätzung entgegen. Ich bleibe dein gehorsamer Diener.

Es war kein großartiger Brief. Aber wenn ich ihn losschickte, würde Thorion wissen, daß ich in Sicherheit war und daß es mir gutging. Und er würde mir zurückschreiben können. Ihm mehr zu erzählen, ihm zu beschreiben, wie ich lebte, würde nur bedeuten, ihm die Kluft zu verdeutlichen, die sich zwischen uns aufgetan hatte, etwas, wovor ich mich fürchtete. So faltete ich das Blatt zusammen, siegelte es und adressierte es: »An den vortrefflichen Herrn Theodoros, Sohn des Theodoros, im Amt des prätorianischen Präfekten.« Auf diese Weise müßte der Brief ihn erreichen.

Ich stand auf, goß mir einen Schluck Wasser ein, dann ging ich hinunter und nahm den Brief mit. Es war der Abend vor dem Sabbat, und die Familie war unten und stellte Kerzen auf. Philon beobachtete die jüdischen Gesetze sorgfältig, genau wie ich Theogenes erzählt hatte. Der Sabbat wurde von allen im Haus eingehalten, sogar von den heidnischen Sklaven, obwohl diese, wie auch ich, nicht zum Gottesdienst mitgingen. Philon gehörte nicht zu den bekehrungswütigen Juden, die man manchmal auf dem Markt predigend antrifft, und er versuchte nie, mich dazu zu überreden, an irgendwelchen jüdischen Riten teilzunehmen – obwohl der jüdische Gottesdienst sich, soweit ich das beurteilen konnte, nicht allzu sehr von dem christlichen unterscheidet. Die Juden lasen die Heilige Schrift in der gleichen Übersetzung und sangen die Psalmen nach den gleichen Melodien. Die Malereien und Mosaiken ihrer Synagogen stellten vielfach die gleichen Szenen dar, wie ich sie aus der Kirche kannte, und sie beteten auf ganz ähnliche Weise. Natürlich, die alexandrinischen Juden waren ein besonderer Schlag. Viele der Gebildeten sind Platoniker, genau wie viele gebildete Christen. Ähnlich wie Adamantios kennen sie die heidnischen Klassiker sehr gut, und sie legen ihre Heiligen Schriften eher sinnbildlich aus. Philon unterschied sich von ihnen. Er gehörte einer strenggläubigen jüdischen Sekte an, die heidnische Literatur oder heidnische Philosophie ablehnte. Aber er schien wegen dieser Tatsache ziemlich verlegen zu sein und versuchte niemals, seinen Glauben irgend jemandem aufzudrängen. Deborah lächelte mir zu. »Nun, gehst du noch ein wenig aus?«

»Ich habe einen Brief an meinen Wohltäter geschrieben. Ich gehe zum Hafen hinunter, um ihn aufzugeben«, entgegnete ich.

»Möchtest du, daß ich dir etwas mitbringe?«

»Könntest du einige Oliven und ein bißchen frischen Käse kaufen?« fragte sie. »Dann brauchen wir am Sabbat nichts zu holen. Ich gebe dir das Geld dafür – hier. Danke.«

Ich sah Philon an. Er zog an seiner Unterlippe. »Da ist noch dieses Präparat für den alten Serapion…«

»Oliven, frischen Käse, Zaunrübenwurzel und Opium«, sagte ich. »Dann wünsche ich euch also einen schönen Sabbat.«

Vom Sonnentor aus lag der Eunostoshafen auf der anderen Seite der Stadt. Aber ich war es inzwischen gewohnt, weite Wege zu machen, und benutzte die Zeit dazu, über medizinische Probleme nachzudenken. Die Straßen waren jetzt am Abend wieder sehr belebt. Die Kühle der Dämmerung veranlaßte die Menschen dazu, hinauszugehen, um etwas zu kaufen oder zu verkaufen oder um ganz einfach herumzuschlendern, zu tratschen und sich ein wenig umzuschauen. Huren aller Preislagen waren auf der Suche nach Kunden. Die gewöhnlichen Mädchen standen in den Säulengängen und lächelten, sie zogen ihre dünnen Tunikas aus Leinen hoch, um ihre Beine zu zeigen und die vorübergehenden Männer dazu einzuladen, etwas mit ihnen zu trinken. Von Zeit zu Zeit glitt eine teuer gekleidete Kurtisane in kostbaren Seidengewändern in einem vergoldeten Tragesessel vorbei und sah verächtlich auf ihre ärmeren Schwestern herab. Ganz ohne es zu wollen, bekam auch ich einen Bewunderer ab, einen nervösen alten Mann in einer grellen, orangefarbenen Tunika, der mir vom Somaplatz aus bis zum Ende des Tetrapylon folgte. Schließlich rannte er mir nach und bot mir ein Alabasterfläschchen mit Weihrauch an, wenn ich mit ihm nach Hause käme. »Du bist ein hübscher Junge«, sagte er und warf mir schmachtende Blicke zu. »Ich werde gut zu dir sein.«

»Nein danke«, sagte ich zu ihm. »Ich bin ein Eunuch, und außerdem studiere ich Medizin.«

»Aber das macht doch nichts!« sagte er und hielt mich am Arm fest.

»Ich bin nicht zu haben«, sagte ich nachdrücklich und zog meinen Arm fort.

Er machte einen niedergeschlagenen Eindruck, und ich lächelte, nickte ihm höflich zu und setzte meinen Weg zum Hafen schnellen Schrittes fort. Er folgte mir noch ein kleines Stück, dann gab er auf. Ich sah ihn auf der Suche nach jemand anderem zum Somaplatz zurückschlendern. Ich dachte daran, wie entsetzt ich vier Monate zuvor bei ähnlichen Angeboten gewesen wäre, und lächelte erneut. Seit dieser Zeit schien ein ganzes Leben vergangen zu sein.

Als ich zum Eunostoshafen kam, wurde der Pharos gerade entzündet. Die Hafenarbeiter hatten die Arbeit des Nachmittags beendet und steuerten geräuschvoll die Tavernen an oder gingen nach Hause. Die rundbäuchigen Handelsschiffe hoben und senkten sich mit den kleinen Wellen und verursachten ein knirschendes Geräusch an den Kais. Ich machte ein Kornschiff ausfindig, das am nächsten Tag nach Konstantinopel auslaufen sollte, und gab dem Schiffsherrn meinen Brief. Ich versprach ihm, Thorion werde ihn für seine Mühe belohnen, sobald er ihm den Brief aushändige. Dann ging ich über die Via Canopica zurück. Inzwischen war es dunkel. Die Säulengänge des Tetrapylon waren erleuchtet, sie glänzten im Licht der Öllampen und funkelten nur so vor lauter Waren: Ich hatte keine Mühe, den Käse und die Oliven zu finden. Der Laden, den ich für gewöhnlich wegen der Arzneimittel aufsuchte, lag abseits der Via Soma, unweit des Platzes. Es war ein enger, kleiner und dunkler Laden. Von seiner Vorderseite bröckelte der Putz ab, und nichts deutete darauf hin, was in ihm verkauft wurde. Philon hatte ihn mir gezeigt. Im Innern waren die Wände mit Regalen vollgestellt, in denen unzählige Lindenholzkästchen mit getrockneten Kräutern standen. Im Schein einer einzelnen Lampe leuchteten verschiedene Messinggefäße mit Augensalben. Es roch nach Myrrhe, Aloe, Kassiaschoten. Die stark duftenden Kräuter überlagerten den Geruch der weniger angenehm riechenden. Als ich eintrat, bereitete der Ladeninhaber gerade etwas im Hinterzimmer zu. Ich klopfte auf die Theke, und er kam herein. Mit einem Lächeln erkannte er mich und holte das Opium und die Zaunrübenwurzel hervor, ohne allzuviel zu handeln. Ich setzte meinen Weg nach Hause fort.

In der Nähe des Sonnentores war es dunkler. In dieser Gegend hatten die Ladeninhaber ihre Läden bereits geschlossen und waren nach Hause gegangen. Ich ging schneller und hielt ein wenig Abstand von den unbebauten Flächen des Broucheionviertels. Meine Füße schienen den Weg zu Philon allmählich von selbst zu kennen: Es war eigenartig, wie sehr ich mich hier zu Hause fühlte. Als ich ankam, hörte ich die Familie singen und den Sabbat begrüßen, und ich hielt inne, um zu lauschen. Es war ein glücklich klingender Gesang, der in die Dunkelheit hinaustönte und von der Wärme des Hauses und dem Glück der Familie kündete.

Sie hörten auf zu singen, und Philon sprach den Segen. Dann hörte ich, wie er Harpokration fragte, ob ich schon zurück sei.

»Ich hoffe, er hat keine Schwierigkeiten, die Zaunrübenwurzel zu finden«, sagte er.

»Er sollte nachts nicht so herumlaufen«, meinte Deborah. »Es ist viel zu unsicher, vor allem für einen Fremden und Eunuchen! Und einen Brief für seinen Wohltäter aufzugeben! Das ist mir ein schöner Wohltäter, der ihn herkommen läßt, ohne vorher etwas ausgemacht zu haben, und der ihm nicht einmal Geld mitgibt. Ich frage mich, was wirklich dahintersteckt.«

Ich wollte gerade klopfen, um meine Ankunft anzukündigen, doch diese Bemerkung ließ mich unvermittelt stehenbleiben. Wie verdächtig klang meine Geschichte in ihren Ohren? Hatten sie etwas vermutet? Ich blieb wie angewurzelt stehen, das Blut summte in meinen Ohren, meine Hand hielt ich immer noch erhoben, um an die Tür zu klopfen.

»Machst du dir seinetwegen Sorgen?« fragte Philon, und sein Tonfall klang amüsiert. »Was für eine Veränderung in ein paar kurzen Monaten! Damals hast du dir Sorgen gemacht, er könne Theophila verderben und verführen.«

Es war das erstemal, daß ich davon hörte. Deborah hatte ihre Empfindungen sehr gut verborgen. Sie war mir immer nur höflich und voller Respekt entgegengetreten.

»Zieh mich doch nicht auf«, sagte sie zu ihrem Mann. »Das war nur am Anfang. Er ist ein entzückender Junge, und das einzige, was Theophila von ihm lernen könnte, sind ein paar gute Manieren. Ich möchte wetten, daß er aus einem vornehmen Haus stammt, er ist so höflich – und er würde nicht mit offenem Mund kauen, Theophila, Liebling, reiß dich bitte zusammen! Trotzdem finde ich es merkwürdig, ihn herzuschicken. Und er war sogar dazu gezwungen, seinen ererbten Schmuck zu verkaufen, um davon leben zu können. Etwas muß in jenem Haus schiefgegangen sein. Das, oder sein Wohltäter hat ihn ungehörig behandelt.«

Ich trat noch etwas dichter an die Tür heran und lauschte. Ich wollte unbedingt wissen, was sie vermuteten, um eventuell irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Die Straße war dunkel und menschenleer, das Holz der Tür an meiner Backe fühlte sich rauh an. Goldfarbenes Licht sickerte durch eine Ritze.

»Ich glaube, da steckt mehr dahinter, als er zugibt«, meinte Philon nachdenklich. »Er ist ein äußerst intelligenter Bursche, der außerdem sehr gut erzogen ist: Er kann stundenlang Homer zitieren. Vielleicht wollte sein Wohltäter gar nicht, daß er nach Alexandria geht.«

»Glaubst du, daß er in Wirklichkeit ein Sklave ist?« fragte Deborah. »Daß er fortgelaufen ist?«

»Nei… ei… n. Adamantios dachte das anfangs, aber ich bin eigentlich nicht geneigt, etwas Derartiges anzunehmen. Chariton verhält sich nicht wie ein Sklave – ich kann mir nicht vorstellen, daß er überhaupt weiß, wie man einen Fußboden wischt. Aber ich glaube auch nicht, daß sein Wohltäter diese Briefe geschrieben hat. Ich habe mich ein wenig nach Theodoros von Ephesus erkundigt. Er ist ein reicher Mann im Rang eines Konsuls, und die Familie hat immer in kaiserlichen Diensten gestanden. Daher stammt wohl auch das Vermögen. Jetzt gibt es wieder einen Sohn bei Hof, einen weiteren Theodoros. Er denkt wahrscheinlich nicht einmal im Traum daran, Medizin könne ein ernst zu nehmender Beruf sein. Er wäre bestimmt nicht damit einverstanden, daß sein Schützling etwas Derartiges studiert, wenn ein aussichtsreicherer Beruf winken würde.«

»Warum sollte er gegen den Willen seines Wohltäters hergekommen sein?« Das war Theophila. »Er tut mir leid. Es ist wirklich schrecklich, was die Perser ihm angetan haben. Dabei sieht er so gut aus.«

Philon lachte. »Und was hat Charitons Aussehen damit zu tun?«

»Oh, nichts. Er tut mir nur leid, vor allem, wenn sein Wohltäter ihm nicht helfen will. Dabei hat er schon soviel Pech gehabt! Und ich weiß nicht, warum er hergekommen ist, wenn er bei Hof sein Auskommen haben und sehr reich werden könnte.«

»›Die erste Voraussetzung für das Studium der Heilkunst‹«, erwiderte Philon und zitierte unseren gemeinsamen Lehrmeister Hippokrates, »›ist eine angeborene Neigung dafür.‹ Und die empfindet unser Chariton ganz sicherlich. Selbst, wenn er fortgelaufen ist, hat er ganz recht daran getan: Eine Begabung wie diese sollte nicht vergeudet werden. Er wird sicher einmal ein bedeutender Arzt. Aber ich habe noch etwas anderes über diesen Theodoros gehört.«

Es entstand eine Pause. Ich stellte mir Philon vor, wie er darauf wartete, daß der Rest der Familie ihn erwartungsvoll ansah und fragte, was. Ich wartete ebenfalls und hielt meinen Atem an.

»Was?« fragte Theophila, genau wie erwartet, und sie kicherte dabei.

»Es scheint, daß er eine Tochter hat«, sagte Philon, »ein sehr hübsches Mädchen, die eine große Mitgift erwarten kann. Der Statthalter Asiens wollte sie heiraten. Du bist zu jung, um dich an die Zeit zu erinnern, als Gallus hier herrschte, Theophila, aber du hast sicherlich irgendwelche Geschichten darüber gehört. Nun gut, dieser Festinus ist genau vom gleichen Schlag, nur daß er nicht von so vornehmer Geburt ist, eher von sehr niedriger. Und die Familie des Theodoros war dagegen, das Mädchen mit diesem Rohling zu verheiraten.«

»Das arme Mädchen!« sagte Theophila. »Und was passierte dann?«

»Sie verschwand einen Monat vor ihrer Hochzeit. Das war im vorigen April, kurz bevor Chariton hier in Alexandria auftauchte. Die Geschichte hat in ganz Asien großes Aufsehen erregt. Der Vater des Mädchens behauptet, keine Ahnung zu haben, wohin sie verschwunden sein könnte. Der Statthalter ist wütend, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als dem Theodoros zu glauben.«

Ich hielt den Atem an. Die Schlußfolgerung in bezug auf meine Person schien unvermeidlich. Ich fragte mich flüchtig, ob Philon mich nach wie vor bei ihm lernen lassen würde. Ich glaubte eher nicht, wenn er erfuhr, daß ich eine Frau war. Ich fragte mich, was er wohl tun werde.

»Glaubst du, daß Chariton etwas mit dem Verschwinden dieses Mädchens zu tun hat?« fragte Deborah.

»Hm. Er sagt, er sei ein Vetter ihres Erziehers. Man behauptet, ihr Bruder sei in das Verschwinden verwickelt. Aber um zu erreichen, daß sich eine junge, vornehme Frau in Luft auflöst, braucht man mehr als eine Person, die in die Verschwörung verwickelt ist. Ich vermute, daß Chariton einige Vorkehrungen für das Mädchen getroffen hat oder daß man ihn zumindest verdächtigt, etwas dergleichen getan zu haben. Deshalb ist er vielleicht nach Alexandria geschickt worden: um dem Statthalter nicht unter die Augen zu kommen! Dahinter kann auch der Bruder des jungen Mädchens, der jüngere Theodoros, stecken und nicht der Vater. Das würde Charitons plötzliches Auftauchen hier erklären und seinen Mangel an Geld. Ich frage mich, an welchen Theodoros er diesen Brief wohl geschrieben hat? Um diese Jahreszeit könnte er ihn gar nicht nach Ephesus schikken. Ich vermute, er ging an seinen Freund, diesen jungen Mann in Konstantinopel.«

Man sagt, der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand, aber ich erhielt den Beweis, daß dies nicht immer stimmte. Ich mußte noch einen Augenblick länger auf den Stufen stehenbleiben und versuchen, meine Freude zu zügeln. Wieso errieten sie die Wahrheit nicht? Lag es einfach daran, daß ich in meinem Studium wirklich so gut war? Daß die Wahrheit ganz einfach zu unwahrscheinlich klang? Es spielte keine Rolle. Ich war sicher in Sicherheit.

Ich klopfte; Harpokration öffnete mir die Tür und ließ mich ein. »Seid mir gegrüßt!« sagte ich zu den versammelten Mitgliedern der Familie. »Oliven, frischer Käse, Zaunrübenwurzel und Opium. Und hier ist dein Wechselgeld, vortrefflicher Philon.«

»Hast du etwas gegessen?« fragte Deborah. »Nein? Dann setz dich und nimm dir. Du siehst glücklich aus.«

»Das bin ich auch«, sagte ich. »Ich habe gerade gemerkt, wie sehr mir diese Stadt zur Heimat geworden ist. Ich danke euch.«

Загрузка...