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Die Halcyon erreichte Alexandria am ersten Mai. Wir hatten eine ruhige Reise, segelten über Zypern, legten jedoch sonst nirgends an, bis wir das Leuchtfeuer des Pharos vor uns erblickten. Der Schiffsherr segelte die ganze Nacht hindurch und hielt direkt auf das Signalfeuer des Leuchtturms zu. Da ich viel zu aufgeregt war, um zu schlafen, blieb ich ebenfalls auf. Am Morgen, als das Feuer gelöscht wurde, sahen wir, wie der Rauch dick und schwarz emporstieg. Der Turm selbst stand weiß und mächtig auf einem vorgelagerten Felsen. Er war mit Bronzestatuen von Seegöttern und Delphinen geschmückt. Die Spiegel auf seiner obersten Spitze glitzerten im Licht der Morgensonne. Hinter ihm, dort wo die blau schimmernde See zu Ende war, lag ein heilloses Durcheinander von Dächern mit roten Ziegeln, Kuppeln und Gärten: eine Stadt von überwältigender Größe, die von Mauern und Toren umgeben war. Von einem Hügel im Zentrum der Stadt funkelte es, dort wo sich das Licht in einem vergoldeten Bauwerk verfangen hatte. Es sah so aus, als sei es der Riegel einer Schatzkiste.

Alexandria hat zwei Häfen, die durch den Felsen des Pharos voneinander getrennt sind: den Osthafen, auch der Große Hafen genannt, und den Hafen, den man Eunostos nennt: »Zur glücklichen Wiederkehr«. Als wir uns der Stadt näherten, erwartete ich, daß wir in den Großen Hafen einlaufen würden, der vom Pharos und einem kleineren Leuchtturm begrenzt wurde und von prachtvollen steinernen Festungsanlagen, Palästen und Gärten gesäumt war. Doch statt dessen drehte das Schiff nach Steuerbord in Richtung auf den Eunostos-Hafen ab. Dieser war längst nicht so eindrucksvoll: die ihn umgebenden Gebäude waren größtenteils Lagerhäuser und Werftanlagen; Fischerboote lagen auf dem Ufer, sie stanken nach Abfall und den Innereien der Fische. Hinter den Hafenanlagen sah man Straßen mit schmalbrüstigen, ziemlich hohen Häusern, die samt und sonders aus schmutziggrauen Ziegeln errichtet waren. Später erfuhr ich, daß alle Handelsschiffe diesen Hafen anliefen; der Große Hafen war dem Präfekten und seinem Gefolge vorbehalten.

Während die Halcyon darauf wartete, anlegen zu können, fragte ich den Schiffsherrn, wo sich das Museum befände, und er lachte. »Drei Fuß unter der Erde«, erzählte er. »Es ist während früherer Kriege und Aufstände zerstört worden. Niemand hat es je wieder aufgebaut.« Ich erfuhr später, daß es im Broucheionviertel gelegen hatte, das früher einmal der vornehmste Teil der Stadt gewesen war: In ihm lagen die kaiserlichen Paläste, einige der Tempel, das Museum und die Bibliothek. Das alles war jetzt zerstört. Die Ruinen waren von Weidenröschen und Beerenklau überwuchert, und Kinder jagten Ratten über die zerborstenen Steinblöcke. Was von der Bibliothek übriggeblieben war, befand sich jetzt im Tempel der Serapis im Rhakotisviertel, das an den Eunostoshafen grenzte. Die Stadtmauer war nach den Kriegen wiederaufgebaut worden, und zwar rund um eine kleinere Stadt herum. Das Deltaviertel, das früher eine jüdische Stadt innerhalb der Stadt gewesen war, war völlig verschwunden. Die einzigen neuen Gebäude waren Kirchen.

Nachdem die Halcyon festgemacht hatte, gab mir der Schiffsherr einige Ratschläge. »Hinterlege deine Wertsachen bei einer Bank«, sagte er. »Isidoros, der Sohn des Heron, ist vertrauenswürdig und wird nicht allzu sehr auf seinen Gewinn schauen. Du findest ihn beim zweiten Lagerhaus zu deiner Linken, sobald du den Hafen hinter dir läßt. Die Stadt ist voller Taschendiebe und Räuber, deshalb solltest du niemals viel Geld mit dir herumtragen. Halte dich von den kleinen Gassen auf der Rückseite der Häuser fern, vor allem im Rhakotisviertel. Die Ägypter mögen keine Fremden, vor allem keine Eunuchen. Welcher Religion hängst du an? Ja, ich weiß, du hast erzählt, daß du ein Christ bist; aber bist du Arianer, oder ziehst du den nizäischen Glauben vor?«

Ich antwortete, ich sei weder Arianer noch Nizäer. Ich kannte mich in religiösen Fragen kaum aus und wußte nur, daß der Streit etwas mit dem Wesen Christi zu tun hat. Die Arianer sagen, Jesus Christus stamme von Gottvater ab, während die Nizäer behaupten, er sei »wesensgleich« mit Gottvater, ein Ausdruck, den die übrigen Christen ablehnen. Der arianische Glaube wird von den Kaisern begünstigt, nicht jedoch von den Bischöfen, die ihn auf keiner ihrer Synoden jemals akzeptiert haben. Großvater hielt nicht viel davon.

»Nun gut, dann solltest du sagen, daß du Nizäer bist«, sagte der Schiffsherr der Halcyon. »Es macht sich hier besser, wenn du ein Manichäer und kein Arianer bist. Die Leute hängen ihrem Erzbischof mit einer fanatischen Liebe an. Er ist eingefleischter Nizäer und aus diesem Grund bereits fünfmal verbannt worden. Die Arianer sind nicht beliebt. Halte dich aus den öffentlichen Bädern fern: Hübsche Jungen sind in dieser Stadt nirgends sicher.«

»Ich bin älter als ich aussehe«, protestierte ich.

»Das mag ja sein, aber bei diesen Päderasten zählt allein das Aussehen! Für einen Eunuchen scheinst du mir ein sympathischer junger Mann zu sein. Es täte mir leid, wenn ich hören müßte, daß dir etwas zugestoßen ist. Viel Glück, und paß auf dich auf!«

Die Stadt war ganz anders, als ich erwartet hatte. Nachdem ich von Bord gegangen war, wanderte ich durch die engen, dunklen Straßen des Rhakotisviertels, zwischen den schäbigen Häusern mit ihren schmalen Vorderfronten, überragt von den zwei Kirchen, der kleinen, alten des Theonas und der neuen, großen des populären Erzbischofs Athanasios. Ich fand den Bankier, den der Schiffsherr mir empfohlen hatte, und hinterlegte meinen Schmuck bei ihm. Dann zog ich los und machte mich auf die Suche nach den Gelehrten beim Tempel der Serapis. Ein breiter Kanal verbindet den Hafen mit dem Mareotis-See, und ich verfolgte seinen Lauf bis zur Via Canopica, wobei ich den Rat des Schiffsherrn beherzigte und die rückwärtigen Straßen vermied. Die Leute sahen fremdartig aus – dunkelhäutiger als die Leute in Asien. »Honigfarben«, wie der Zensus sie immer nennt. Viele sprachen eine mir fremde Sprache, nicht griechisch, sondern koptisch, wie ich vermutete. Das waren also die Ägypter, die keine Fremden mochten. Sie kamen mir selbst sehr fremd vor.

Die Via Canopica sah schon eher so aus, wie ich mir Alexandria vorgestellt hatte: eine große Straße, breit genug für vier nebeneinanderfahrende Kutschen. Zusätzlich wimmelte sie von unzähligen Menschen, hochbeladenen Eseln und Kamelen und von Katzen – Tieren, die außerhalb Ägyptens sehr selten sind, dort aber sehr verbreitet. Auf beiden Seiten der Straße zog sich ein doppelter Säulengang mit Läden hin, den die Alexandriner Tetrapylon nennen. Straßenhändler boten kandierte Zitronen, Datteln, frisches und noch warmes Kümmelbrot, Würstchen und Sesamkuchen feil. Ich kam an Läden vorbei, die Weine aus allen Gegenden des Kaiserreichs verkauften, Tuch aus Wolle und Leinen sowie Garne, die ungewöhnlich grell gefärbt waren. Es wurden Amulette verkauft, Bücher, Stundengläser, Gold aus Nubien und Perlen aus Britannien, geschnitzte Möbel und Terakottabilder von vielen hundert verschiedenen Göttern. Bettler baten um Almosen. Ich kam an einem jungen Eunuchen vorbei, der einen phrygischen Hut aufhatte und der hinter einer bronzenen Bettlerschale saß und mit schriller Stimme eine Hymne zu Ehren der Göttin Kybele sang. Er starrte mich an, dann wandte er den Blick gleichgültig ab. Ein hochgewachsener, bärtiger Mann in einem schwarzen Umhang stand an einer Mauer und erläuterte ein paar aufmerksamen Schülern die philosophische Lehre der Stoiker. Auf der anderen Straßenseite predigte ein langhaariger Bauer in einer grobgewebten Tunika ein eigenartiges Sammelsurium gnostischer Anschauungen: »Die Welt ist vom Teufel geschaffen!« schrie er (er mußte schreien, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen). Die Leute schrien alle, wie sie da feilschten, sangen, fluchten und sich gegenseitig anrempelten. Ich kam an einem Laden voller Vögel vorbei, die in Käfige gesperrt waren und wie ein Chor von Bacchantinnen sangen. Es gab ein großes Mischmasch von Gerüchen: Honig, Kot, ungewaschene Menschen, Duftwässer, Abwässer, frisches Brot, Gewürze. Es war ein einziges Durcheinander von Geräuschen und Farben und tosendem Leben, und es betäubte mich.

Trotzdem, selbst als Fremder konnte ich erkennen, daß die Stadt nicht mehr das war, was sie einmal so berühmt gemacht hatte. Als ich zum Hauptplatz Alexandrias kam, dort wo die Via Canopica die andere große Durchgangsstraße, die Via Soma, kreuzt, erblickte ich die ersten von vielen Ruinen. Das Mausoleum des großen Alexander, des Sohnes von Philipp von Mazedonien, des Mannes, der die Welt eroberte: ein Ring zerborstener Säulen und ein paar Mauerruinen. Der einbalsamierte Körper war verschwunden und desgleichen natürlich auch der goldene Sarg sowie der Schatz, der um ihn herum aufgebaut worden war. Nun ja, das Imperium, das er gegründet hatte, war längst zerfallen, bevor sein Grab zerstört wurde, deshalb kann er sich wohl nicht beklagen. Ich bog nach rechts in die Via Soma ein und stieg zum Tempel des Serapis hinauf, wo nach wie vor die Überreste aus der Bibliothek und dem Museum aufbewahrt wurden. Der Tempel steht auf einem künstlichen Hügel im südwestlichen Teil der Stadt, in der Nähe des Stadions. Es war nicht schwierig, ihn zu finden: Sobald ich die Via Soma verließ, erblickte ich ihn. Er schien über den Dächern der umliegenden Häuser zu schweben. Die vergoldete Säule, die ich vom Schiff aus gesehen hatte, gehörte zu ihm. Dort, wo man von der Via Soma abbiegen mußte, war eine weiße Marmorplatte mit dem eingravierten Bild des Gottes in die Straße eingelassen worden. Ich folgte diesem heiligen Weg bis zum Tempel: Er wand sich die Vorderseite des künstlichen Hügels empor, flankiert von Dattelpalmen und großen Büschen purpurfarbener Zistrosen. Der Tempelkomplex selbst war durch eine Mauer vom Rest der Stadt getrennt, doch das Tor stand offen und war unbewacht. Ich ging hindurch und befand mich auf einem gepflasterten Hof. Es war jetzt beinahe Mittag, die Sonne brannte erbarmungslos auf das weiße Pflaster und blendete die Augen. Zwischen weiteren Dattelpalmen rauschte kühl und erfrischend ein Brunnen. Daneben stand der Tempel, seine Säulen waren bemalt und vergoldet, seine Fassade war mit Bildern von Serapis, Iris und ihrem Sohn Harpokrates, den bedeutendsten der alten ägyptischen Götter, geschmückt.

Ich ging nicht in das Innere des Tempels: Als Christin hatte ich dort nichts zu suchen. Aber er war umgeben von vielen Gebäuden – von Lesehallen, Wohnhäusern und der Bibliothek, von Arkaden und Gärten –, und die meisten von ihnen gehörten zu der Institution, die die Alexandriner immer noch das »Museum« nennen. Ich hatte einige Empfehlungsschreiben bei mir, die Thorion und ich aufgesetzt hatten und die an einige der führenden Ärzte der medizinischen Fakultät gerichtet waren. Und so sah ich mich nach jemandem um, dem ich sie geben konnte.

Ich betrat eines der größeren Nebengebäude, das einen eher öffentlichen Eindruck machte. Es war eine Bibliothek: An den Wänden zogen sich Bücherregale hin. In der Mitte des Raumes saß ein schlanker, dunkelhäutiger Alexandriner an einem Schreibpult. Um seinen Hals trug er eine Kette mit einem bronzenen Schreibkästchen, dazu ein offiziell aussehendes Siegel. Sorgfältig notierte er gerade etwas auf ein Stück Papyrus. Er war wahrscheinlich ein Sekretär, ein Beamter. Aufgeregt ging ich zu ihm und fragte, ob ich dem höchst geschätzten Adamantios meine Aufwartung machen könne (er war der Dekan der medizinischen Fakultät).

»Was willst du von ihm?« fragte der Sekretär gereizt, legte seine Feder nieder und sah mich ärgerlich an. Dann warf er mir einen zweiten Blick zu, bemerkte meinen Aufzug und meine glatte Gesichtshaut, und sein Mund verzog sich verächtlich. Ich kannte diesen Blick allmählich recht gut. Er folgte fast immer, sobald man glaubte, mich als Eunuchen erkannt zu haben. Mir war bis dahin gar nicht klar gewesen, wie sehr Eunuchen gehaßt werden. Alle Welt macht sie höchstpersönlich für sämtliche Krankheiten des Kaiserreichs verantwortlich und behauptet, sie seien eigentlich nur importierte Sklaven, hätten jedoch das Ohr des Kaisers und ließen ehrliche Männer gar nicht erst bis zu ihm vordringen. Man sagt, sie seien nur halbe Männer, dafür aber in hohem Maße habgierig und korrupt – sie forderten ein Bestechungsgeld, nur um einem zu sagen, wie spät es ist. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, daß ich gar kein kaiserlicher Hofbeamter war. Ich wurde genauso gehaßt, als wäre ich einer, und man grinste höhnisch wegen meines Mangels an Männlichkeit, als hätte ich mich freiwillig dazu entschlossen, mich kastrieren zu lassen, nur um Bestechungsgelder zu kassieren. Ein bißchen irritiert erklärte ich, warum ich Adamantios gerne sprechen wollte. Der Sekretär rümpfte verächtlich die Nase, grinste hämisch, wies mich jedoch in eine Amtsstube, die an einem der Bibliotheksinnenhöfe lag. Es war ein kleiner, angenehm kühler Raum mit gemauerten Wänden. An einer der Wände stand ein Schreibpult, daneben ein Bücherschrank. Es war niemand da, deshalb setzte ich mich und wartete.

Nach etwa einer Stunde kam ein großer, dunkelhäutiger Mann herein. Er hatte einen mit Fransen besetzten Umhang um, trug einen kleinen Hut auf dem Kopf und sprach lautstark auf zwei vornehm gekleidete Begleiter ein. Ich erhob mich respektvoll, und er fragte mich, was ich wünschte.

»Hochgeschätzter Herr«, sagte ich, »ich bin Chariton, ein Eunuch aus Ephesus, und ich warte hier, um mit dem vortrefflichen Adamantios zu sprechen. Ich möchte mich gerne in der Heilkunst ausbilden lassen.«

»Ich bin Adamantios«, erwiderte der Mann und sah mich mißtrauisch an. »Habe ich schon von dir gehört? Ich erinnere mich nicht an den Namen…«

»Ich habe einige Empfehlungsschreiben«, sagte ich eifrig und reichte sie ihm. Er nahm sie, warf einen Blick hinein und runzelte die Stirn.

»Warum hat dein Wohltäter nicht etwas im voraus vereinbart?« fragte er mich. »Wir sind sehr beschäftigt um diese Jahreszeit, und ich glaube eigentlich nicht, daß du, hm, aus dem richtigen Holz geschnitzt bist, das man für einen Arzt benötigt. Du solltest wissen, daß man in diesem Beruf kein Leben in Luxus und Muße führen kann. Ich bin eigentlich der Meinung, daß ein, hm, Eunuche besser in der Verwaltung aufgehoben wäre.«

»Ich habe nichts gegen schwere Arbeit einzuwenden«, erwiderte ich. »Und ich möchte die Heilkunst sehr gerne erlernen. Ich habe auch Geld, um meine Unterrichtsstunden bezahlen zu können.«

»Nu-un…«, sagte Adamantios. Er blätterte die Briefe durch und gab sie mir schließlich zurück. »Du hast natürlich das Recht, es bei allen dem Museum angeschlossenen Ärzten zu versuchen. Du brauchst jemanden, der dich als Assistent aufnimmt. Dann kannst du alle Vorlesungen besuchen, vorausgesetzt natürlich, du bezahlst den Dozenten eine Gebühr. Es ist aber an dir, einen Lehrmeister zu finden.«

»Ich dachte, vielleicht könnte Eure Klugheit… das heißt, ich dachte, du wüßtest eventuell jemanden, der einen Assistenten braucht.«

»Oh.« Er betrachtete mich einen Augenblick lang, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich weiß niemanden. Du vielleicht, Timias?« fragte er und wandte sich an einen seiner Begleiter.

Dieser lachte. »Jedenfalls nicht so einen Assistenten!«

Adamantios lächelte überheblich. »Nein, ich kenne keinen. Du hast natürlich das Recht, dich umzuhören. Gibt es sonst noch etwas?«

Für die erste Woche meines Aufenthaltes in der Stadt mietete ich mich in einem von Flöhen heimgesuchten Quartier in der Nähe des Schiffskanals ein und klopfte an etliche Türen in der Nähe des Serapistempels. Mühsam schleppte ich mich von der einen zur nächsten Tür, wurde aber immer nur ausgelacht. Die von Thorion und mir so sorgfältig vorbereiteten Empfehlungsbriefe erwiesen sich als wertlos. Niemand traute mir: Entweder würde ich aller Voraussicht nach nicht hart genug arbeiten, oder ich war höchstwahrscheinlich unzuverlässig und dazu noch ein entwichener Sklave. Mein Plan, der in Ephesus so gut geschienen hatte, sah in Alexandria unausgegoren und undurchführbar aus. Ich war auf all die abschlägigen Antworten, das höhnische Grinsen, die Verachtung und den offenen Haß, die mir entgegenschlugen, nicht vorbereitet und fühlte mich ziemlich elend.

Zudem geriet ich mehrfach in den Verdacht, eigentlich nur nach einem männlichen Gönner Ausschau zu halten, da Eunuchen Menschen sind, die Müßiggang und Luxus lieben. Ich habe vergessen, wie oft man sich mir mit Geldangeboten näherte, wie vielen tatschenden Händen ich mich entziehen mußte. Ich war immer noch viel zu unerfahren, als daß mir derlei Annäherungsversuche nichts ausgemacht hätten, obwohl es nicht ganz so schlimm war wie mit Festinus. Gut, daß diese Leute nicht wußten, wer ich in Wirklichkeit war. Wenn ihr Gefummel Erfolg gehabt hätte, wären sie ganz schön überrascht gewesen! Doch niemand schien den Verdacht zu hegen, ich könne nicht der sein, der ich vorgab. Anfangs war ich nervös und rechnete dauernd damit, entdeckt zu werden, doch schließlich gewöhnte ich mich an die Situation. Die Menschen verlassen sich ganz auf das äußere Erscheinungsbild ihres Gegenübers, auf all die äußeren Hinweise auf Geschlecht und Rang, die man ihnen mit seiner Kleidung gibt. Die Mühe mit dem Schnürleibchen hätte ich mir fast sparen können. Die kurzen Haare und eine kurze Tunika genügten vollkommen. Die Leute sahen mich an und mutmaßten sofort: »Ein weibischer Junge – ein Eunuch?« und nicht etwa: »Ein verkleidetes Mädchen!« Ich war natürlich stets auf der Hut, mich nicht zu verraten. Es war überraschend einfach gewesen, die Angewohnheiten eines jungen Mädchens aus gutem Hause abzulegen, aber mit anderen Dingen hatte ich immer noch endlose Schwierigkeiten. Es war nicht leicht, mir dauernd in Erinnerung zu rufen, daß ich ein Mann war; zu versuchen, mich selbst anzuziehen und auch wirklich alles richtig zu machen; in einer fremden, großen Stadt zu Fuß umherzulaufen, wenn ich zuvor immer eine Sänfte oder einen Wagen zur Verfügung gehabt hatte. Meine Füße taten mir weh. Außerdem konnte ich mich nicht ordentlich waschen: In dem Gasthaus gab es keinen Ort, wo ich ungestört war. Ich lebte von billigen Brotfladen, die ich von Straßenhändlern kaufte. Ich war sehr knapp bei Kasse, da ich noch keine Möglichkeit gehabt hatte, etwas von meinem Schmuck zu verkaufen. Der Bankherr wollte ihn mir nicht eintauschen. Deshalb nahm ich ihn mit in einen teuren Laden an der Via Canopica, aber der Eigentümer behauptete, der Schmuck sei aus Glas. Als ich darauf bestand, den Schmuck von meiner Mutter geerbt zu haben, behauptete der Mann, ich hätte ihn gestohlen, und drohte mir damit, mich bei den Magistratsbeamten anzuzeigen. Ich ging mit meinem Schmuck hinaus und fühlte mich den ganzen Tag über ziemlich elend. Außerdem fragte ich mich, ob er seine Drohung wohl wahrmachen würde. Er tat es nicht, aber ich hatte Angst, es irgendwo anders zu versuchen. Mit ein bißchen mehr Erfahrung hätte ich gemerkt, daß der Mann ganz einfach versuchte, den Preis zu drücken. Die Alexandriner sind hitzige Menschen, reizbar und aufbrausend, gewalttätig und gefährlich.

Nach zehn Tagen begann ich mich zu fragen, ob ich nach Ephesus zurückgehen und Festinus heiraten sollte. Ich sah mich bei einigen der alexandrinischen Ärzte um, die keine Verbindung zum Museum hatten. Die meisten von ihnen waren abergläubische Quacksalber, jene Art Männer, die ihren Patienten anraten, sich im Morast zu wälzen, dreimal um den Tempel herumzulaufen und die Götter dabei anzurufen und schließlich ein Bad im Schiffskanal zu nehmen – ein Verfahren, das außer den Gesündesten jeden umbringen würde. Doch dann lernte ich Philon kennen.

Ich traf ganz zufällig in der Bibliothek des Tempels auf ihn. Ich erholte mich gerade ein wenig von meiner letzten Abfuhr und las im Kräuterbuch des Krateuas, als ein bärtiger Mann mittleren Alters auf mich zutrat und mich fragte, ob er mal hineinsehen könne: »Falls du es nicht mehr brauchst, geschätzter Herr.« Es war ein angenehmes Gefühl nach all der Grinserei mit »geschätzter Herr« angeredet zu werden, deshalb ließ ich das Buch sinken.

»Ich habe nur mal kurz hineingeschaut«, sagte ich zu ihm.

»Wenn du etwas nachschlagen willst, Herr, dann nur zu.«

Er lächelte. Ich kannte die Stadt inzwischen gut genug, um zu erkennen, daß der Bart, der mit Fransen besetzte Schal und das kleine Käppi auf einen Juden hindeuteten. Sein braunes Haar und die helle Haut unterschieden ihn von den sonst in Alexandria so häufig anzutreffenden honigfarbenen Männern. Er war groß und breitschultrig und erinnerte mich deshalb ein wenig an Thorion. »Danke dir, Herr«, sagte er und schlug eine Rezeptur für eine gynäkologische Erkrankung nach, dann schüttelte er den Kopf. »Das wird wohl nichts nützen«, sagte er. »Immerhin, man kann es ja einmal versuchen.«

»Eine Patientin?« fragte ich, und er lächelte erneut. »Was sonst? Aber es gibt wenig genug, was ich für die arme Frau tun kann. Ein bißchen Opium, das ist alles, es lindert die Schmerzen. Eine wirkliche Heilung – die liegt in den Händen Gottes.«

»›Das Leben ist kurz, die Kunst des Heilens aber ist lang‹«, zitierte ich. »›Das Glück ist flüchtig, die Erfahrung täuschend, die Beurteilung schwierig‹«

»›Doch nicht allein der Arzt muß seine Pflicht tun, auch der Kranke und die Pfleger müssen ihren Teil dazu beitragen, um eine Heilung zu ermöglichen‹«, zitierte er zu Ende. »Ah, Hippokrates! Bist du Student?«

»Nein«, entgegnete ich etwas kurz. Dann, weil er mich ein wenig an Thorion erinnerte, fügte ich hinzu: »Ich wäre gerne einer. Aber niemand scheint mich haben zu wollen. Ich bin ein Eunuch und habe nicht die richtigen Empfehlungsschreiben.«

Er seufzte ein wenig und beobachtete mich. »Woher kommst du, wenn ich fragen darf? Du hast einen asiatischen Akzent.«

»Aus Ephesus«, erwiderte ich. »Das heißt, eigentlich aus Amida.« Und ich erzählte ihm meine kleine Geschichte von den Persern und »meinem Vetter Ischyras«, der mich von ihnen freigekauft habe, und von Thorion, der mich fortgeschickt habe, um die Heilkunst zu erlernen.

»Aha«, meinte er. »Darf ich deine Empfehlungsschreiben vielleicht einmal sehen?«

Ich hatte sie natürlich bei mir und gab sie ihm. Er las sie sich durch (»dieser Theodoros – das ist doch nicht etwa derselbe, der hingerichtet wurde? Nein, nein, natürlich nicht…«), dann stellte er mir einige medizinische Fragen, die sich meist auf die klassischen Texte von Hippokrates und Galen bezogen.

»Du bist sehr belesen für einen derart jungen Mann«, meinte er schließlich. »Und du machst einen sehr gebildeten Eindruck – kennst du dich in den Klassikern genausogut wie bei den medizinischen Schriftstellern aus? Ja? Es wundert mich, daß dich niemand als Schüler genommen hat. Ich…« er hielt inne und sah mich unentschlossen an. Dann schien er sich aufzuraffen und wagte den entscheidenden Schritt. »Ich brauche dringend einen Assistenten. Eigentlich sollte mein Neffe bei mir lernen, aber er starb voriges Jahr an einem tückischen Fieber. Natürlich müßtest du dich selbst darum kümmern, Vorlesungen zu besuchen, aber ich bin ja auch mit der hiesigen Schule liiert …« E r hustete und räusperte sich. »Natürlich, ich bin nicht so gebildet. Ich bin mit dem Gesetz des Moses aufgewachsen, nicht mit Homer und den Klassikern – aber ich kenne meinen Hippokrates. Ich kenne ihn besser als die Thora, Gott möge mir vergeben! Wenn es dir nichts ausmacht, bei einem Juden zu lernen, der nichts anderes zitieren kann als ›Sing, Göttin des Zorns‹, dann bist du willkommen und kannst bei mir in die Lehre gehen.«

»Wenn du Hippokrates kennst«, sagte ich, »dann kannst du die Werke Homers in den Großen Hafen werfen. Aber ich bin Christ – macht dir das nichts aus?«

»O nein, nein!« sagte er und lächelte erneut. »Das wäre eigentlich sogar sehr nützlich.«

So gingen wir also zu Adamantios und fragten uns dabei wahrscheinlich alle beide, auf was wir uns da einließen. Adamantios begrüßte Philon herzlich, und als er hörte, weshalb dieser gekommen war, machte er zuerst einen überraschten, dann amüsierten Eindruck. Er schüttelte mir die Hand und gratulierte mir herablassend: Philon würde mich also zu seinem Assistenten machen und war damit einverstanden, mir die Heilkunst beizubringen. Es stand mir natürlich frei, Vorlesungen von anderen Ärzten zu besuchen, falls ich eine Gebühr dafür bezahlte. Und wenn ich glaubte, genug gelernt zu haben, würden mich die medizinischen Professoren des Museums einer Prüfung unterziehen. Ich willigte ein, Philon zehn Solidi zu zahlen, sobald es mir gelungen sei, meinen Schmuck zu verkaufen, und wir schüttelten uns die Hände, um den Handel zu besiegeln.

Dann ging ich in meine Unterkunft zurück und machte mir schrecklich viele Gedanken. Ich wußte überhaupt nichts von Philon. Ich war gerade lange genug in der Stadt, um zu wissen, daß die Ägypter die Juden haßten und daß die anderen Leute des Museums, die meistens Heiden waren, ihnen mißtrauten und soweit wie irgend möglich keine Notiz von ihnen nahmen. Was also, falls der Mann nun unehrlich oder ganz einfach unfähig war? Andererseits war Adamantios ebenfalls Jude und überall anerkannt – aber er gehörte ja auch zur Oberklasse und hatte sicher mehr Homer gelesen als die mosaischen Gesetze. Nun, dachte ich bei mir, ich kann ja auch die Vorlesungen besuchen und andere Meinungen hören, ich müßte eigentlich etwas lernen können, selbst wenn Philon mir nicht viel beibringen kann. Aber dann fing ich an, mir wegen der Vorlesungen und wegen der anderen Studenten Sorgen zu machen. Ich hatte sie bereits überall gesehen: beim Studium von Büchern in der Bibliothek, beim Diskutieren am Brunnen vor dem Tempel, beim Untersuchen von Kräutern in den Tempelgärten. Es waren alles junge Männer, etwa in meinem Alter oder etwas älter, und sie machten ausnahmslos den Eindruck, als kannten sie bereits sämtliche Geheimnisse der Natur. Sie wußten sicherlich sehr viel mehr als ich. Und ich hatte den Verdacht, daß sie mich schon jetzt verachteten. Aber das durfte mir nicht soviel ausmachen, sagte ich mir und versuchte, meine Angst zu besänftigen. Jetzt bin ich hier in Alexandria und morgen werde ich mit dem Studium der Heilkunst beginnen. Selbst wenn ich nichts weiß, selbst wenn ich mich dabei nicht sehr geschickt anstelle, so ist es doch genau das, was ich mir mein ganzes Leben lang gewünscht habe. Ein Traum ist wahr geworden. Und schon ging es mir besser. Ich holte mein Exemplar des Galen hervor und las darin, neugierig auf alles, was es zu lernen gab.

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