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Nach seinen Drohungen und dem Angebot, mir eine Stelle als Amtsarzt zu verschaffen, mied Athanaric mich. Er war allerdings nach wie vor im Palast, stellte Fragen und ging gelegentlich fort, um den Präfekten oder den ägyptischen Heerführer aufzusuchen und sich mit ihnen zu beraten. Ich hatte nicht die Zeit, mir allzu viele Gedanken über ihn zu machen. Ich hatte alle Hände voll mit meinen Patienten zu tun und fragte mich bereits, ob ich nicht sofort einen Assistenten nehmen sollte. Für jemanden, der erst vor drei Jahren nach Alexandria gekommen und der noch nicht einmal zwanzig war und erst seit ein paar Monaten auf eigene Rechnung praktizierte, war es wohl etwas Außergewöhnliches, sich einen Assistenten zu nehmen. Aber ich arbeitete so intensiv, daß ich kaum Zeit zum Schlafen hatte. Und immer, wenn ein Patient eine Krise erlitt, verspürte ich den lebhaften Wunsch, jemanden bitten zu können, die Runde bei den übrigen Kranken zu machen, so wie Philon mich loszuschicken pflegte.
Doch ich sah mich nicht nach einem anderen Posten in einer anderen Stadt um. Ich war stolz auf das Erreichte. Und Philons Überlegungen halfen mir, mit etwas mehr Hoffnung in die Zukunft zu sehen. Eines Tages, weit in der Zukunft, könnte ich mich vielleicht ganz offen Charis von Ephesus nennen, Ärztin in Alexandria, könnte vielleicht selbst ein paar Schüler haben, ein oder zwei Frauen. Es war immerhin etwas, wovon man träumen konnte. Ostern fiel in jenem Jahr auf die Kalenden des April oder, nach der ägyptischen Zählweise, auf den fünften des Monats Pharmuthi – die Ägypter machen alles anders als andere und haben auch einen völlig anderen Kalender. Der Erzbischof hielt die Fastenzeit sehr streng ein und nahm nichts außer trocken Brot und Wasser zu sich. Und er zog überall in der Stadt und in der Umgebung herum, predigte und regelte die Angelegenheiten der Kirche. Er war darauf bedacht, möglichst viele Geldreserven und Verstecke anzulegen, die seinen Anhängern nach seinem Tode nützlich sein könnten. Die alexandrinische Kirche war sehr reich, ihr gehörte ein großer Teil des Landbesitzes in der Region. Athanasios und Theophilos gingen die Einnahmen Punkt für Punkt durch und versuchten, das Land und das Barvermögen auf ihre treuen Anhänger zu übertragen, so daß ein ihnen aufgezwungener Bischof nicht seine Hände darauf legen konnte. Theophilos war sehr geschickt in diesen Dingen, doch Athanasios machte sich seinetwegen Sorgen. »Er liebt die Kirche«, sagte er einmal zu mir. »Aber ich weiß nicht, wie sehr er Gott liebt.«
Ich meinerseits machte mir Sorgen um Athanasios. Er hustete immer öfter und bekam gelegentlich Fieber; das Fasten und die viele Arbeit erschöpften ihn. Aber wenn ich ihm deswegen Vorwürfe machte, lächelte er nur und gab sich nicht einmal mehr die Mühe, mit mir darüber zu streiten.
Am Abend vor Ostern blieben er und die halbe Bevölkerung Alexandrias die Nacht über auf und hielten die Vigilien ab. Sie läuteten das Fest in dem winzigen Heiligtum des Märtyrers Erzbischof Petrus ein, das in der Nähe des Meeres, außerhalb der Stadtmauer, liegt. Dort versammelte sich eine riesige Menge, Tausende und Abertausende von Menschen, und ich befand mich mit meinen Mitbewohnerinnen, den Nonnen, mitten unter ihnen.
Als der Abend hereinbrach, wurde überall gesungen; Musiker spielten auf der Lyra, der Flöte und den Zymbeln; einige Leute tanzten. Als es dunkel wurde, sahen wir, wie der Pharos entzündet wurde: Zuerst, als die Kienspäne Feuer fingen, ein winziger, gelber Schein, dann ein heller, safrangelber Strahl und schließlich ein breites Lichtband, das sich über das dunkle Meer vorantastete und das, während das Feuer stetig loderte, in immer weiterer Ferne zu sehen war. Man konnte die Umrisse der Stadt erkennen, ein Netz aus kleinen Lichtern, durchzogen von den breiten Prachtstraßen: der Via Canopica und der Via Soma. Auf der anderen Seite der Stadt konnte man das Kap Lochias ausmachen, die Zitadelle des Statthalters, deren steinerne Befestigungen sich düster gegen das Meer abhoben. Die Musiker hörten auf zu spielen, und alle schwiegen. Man konnte die nächtlichen Geräusche der Vögel vernehmen und das leise Plätschern der See. Dann fing jemand an zu singen.
Es war eine Freudenhymne, in der die Zeit gepriesen wurde, als das Licht geschaffen wurde, als der Herr sein Volk aus der Sklaverei in die Freiheit führte, aus dem Tod in das Leben, aus der Dunkelheit in das Licht. Anfangs war es nur eine einzelne Stimme – wahrscheinlich einer der Dekane –, doch bald wurde die Hymne von den übrigen Priestern aufgenommen, und dann sangen alle, und die Musik stieg in großen Wellen in die Dunkelheit empor. Auch ich wurde mitgerissen und stand mit weit offenem Mund inmitten der Menge und sang genauso wie sie. Dann entzündete jemand das im Schutz des Heiligtums vorbereitete Freudenfeuer, und plötzlich sah ich Athanasios im Schein des Feuers stehen, sein goldfarbener Umhang spiegelte die Glut rund um ihn herum wider. Seine weißen Haare umhüllten sein Gesicht, und seine Augen starrten weit aufgerissen in das Licht; ihr Blick heftete sich in grenzenlosem Glück auf etwas, das weit jenseits des Feuers lag. Da wußte ich plötzlich, was ich schon die ganze Zeit über hätte erkennen müssen: Er sehnte sich danach, zu sterben. Er hatte versucht, solange wie irgend nötig, am Leben zu bleiben, von Liebe für seine Kirche erfüllt, aber geistig war er schon seit langem auf den Tod vorbereitet. Er würde kein weiteres Osterfest mehr erleben, und er wollte dieses Fest so vollkommen wie möglich feiern.
Athanasios entzündete eine Fackel an dem Freudenfeuer, und das Volk jubelte mit diesen tiefen, rhythmisch akzentuierten alexandrinischen Beifallrufen, die dem Jubel keines anderen Volkes gleichen. Die Geistlichen entzündeten ihre Fackeln, und das Volk strömte mit Lampen und Kerzen und allem, was es sonst noch an Brennbarem und Lichtspendendem finden konnte, vorwärts. Die Musiker begannen erneut zu spielen, und die Prozession setzte sich in Bewegung, wand sich die Straße hinunter und zog durch das Tor des Mondes wie ein Sonnenaufgang im Westen in die Stadt hinein. Als die Menge die Kirche erreichte, tanzte sie erneut und stieß langgezogene Bravorufe aus, ähnlich wie bei den Pferderennen. Ich hatte inzwischen zu singen aufgehört und zog schweigend mit. Ich fragte mich, ob die Menschen genauso glücklich wären, wenn sie wüßten, daß sie innerhalb eines Jahres einen neuen Erzbischof haben würden, einen, der von den Truppen eingesetzt sein würde.
Der Gottesdienst in der Nacht vor Ostern dauert sehr lange. Zuerst wurde in der Kathedrale gebetet und gesungen; dann wurde jeder, der in jenem Jahr getauft werden wollte, in das Baptisterium geleitet und ins Wasser getaucht; dann wurde wieder gesungen, und die Menge formierte sich zu einer erneuten Prozession in die Hauptkirche. Dort ließen sich die Andächtigen nieder, um zu lauschen. Tausende drängten sich in der großen, hallenartigen Kathedrale zusammen. Der Schein von tausend Lichtern spiegelte sich in den düsteren Mosaiken an den Mauern mit ihren Abbildungen der Heiligen. Wir waren von Weihrauchschwaden und dem Geruch der riesigen, erhitzten Menge umgeben. Und Athanasios predigte. Es war eine grimmige, leidenschaftliche, glückverheißende Ansprache, der das Wort: »Der Tod ist verschlungen in den Sieg« zugrunde lag.
»Dies ist die Zeit des Todes«, rief er dem Volk zu, »aber es ist auch die Zeit der Freude. Denn alles, was menschlich ist, kommt zu einem Ende, was göttlich ist, jedoch nicht. Und dieserhalb, wenn wir tot sind, wenn sich unsere arme Natur erschöpft hat, richtet Gott selbst uns auf, und was aus Erde geboren ward, führt er in den Himmel. Denn Gott hat in Jesus Christus das Bildnis seiner eigenen Ewigkeit für uns aufgerichtet. Wenn wir den Tod lieben, hat er keine Macht über uns. Die Mächtigen dieser Erde haben keine Macht. Der Tod ist vernichtet! Indem er unsere Sterblichkeit zerstört, zerstört er sich selbst, und für uns bleibt nur mehr der Sieg!«
»Athanasios!« tobte die Menge: Sein Name bedeutet ja »unsterblich«. Athanasios saß auf dem mit Schnitzereien verzierten bischöflichen Thron mit den Löwen von St. Markus zu beiden Seiten, und als seine Blicke in dem riesigen Kirchenschiff umherschweiften, machte er in der Tat einen unsterblichen Eindruck. Er legte das Evangelium nieder, erhob sich und streckte seine Arme empor, und die Menge brüllte erneut seinen Namen, wieder und wieder, bis seine Stimme den tobenden Menschen Schweigen gebot. Ich erinnerte mich an seine Erzählungen darüber, wie der Beifall der Masse den Willen berauscht. Der Beifall, der jetzt über ihm zusammenschlug, schien ihn zu berauschen. Er sprach über eine Stunde, wobei ihm die Menge jedesmal, wenn er eine Pause machte, zujubelte. Dann zelebrierte er das heilige Abendmahl, und danach wurde wiederum bis zum Morgengrauen in den Straßen gegessen und getrunken und getanzt. Am frühen Morgen predigte er erneut und zelebrierte noch einmal das heilige Abendmahl, und schließlich entließ er das Volk in der klaren Luft des Frühlingsmorgens mit einer segnenden Gebärde.
Ich ging nicht nach Hause. Ich ging direkt zum bischöflichen Palast, und als ich dort ankam, stieß ich beinahe mit einem Sklaven zusammen, der kurz nach der Ankunft des Erzbischofs nach mir geschickt worden war. Athanasios war auf dem Wege von der Kirche nach Hause in Ohnmacht gefallen. Als ich in sein Zimmer kam, lag er zusammengekrümmt auf seinem Bett und spuckte Blut.
Ich tat alles, was in meinen Kräften stand: Dampf, Schröpfköpfe, heiße Kompressen und die verschiedensten Arzneimittel, sogar schwarze Nieswurz, die ich sonst eher vermied. Doch der »unsterbliche« Athanasios schien unberührt, ließ mit einem Lächeln meine Behandlung über sich ergehen, sprach auf nichts an, den Blick nach wie vor starr auf etwas gerichtet, was hinter dem Feuer lag. Er war geistig vollkommen klar und bestand darauf, die Behandlung zu unterbrechen, um mit seiner Priesterschaft sprechen zu können.
Am zweiten Tag schickte er mich aus dem Zimmer und hatte eine lange Unterredung mit Petrus und Theophilos. Petrus kam weinend heraus. Theophilos sah bleich und verwirrt aus und ging irgendwohin, wo er allein sein konnte. Ich eilte zurück ins Zimmer, um nach dem Erzbischof zu sehen. Zum erstenmal seit seinem Zusammenbruch war ich der einzige dort, er hatte mir diesmal nicht erlaubt, die anderen auszusperren. Da ich jetzt die Gelegenheit dazu hatte, verriegelte ich die Tür. Selbst wenn er sich ein wenig ausruhen konnte, bestand keine große Hoffnung mehr auf eine richtige Erholung, aber möglich war es noch immer.
Er hatte still dagelegen und an die Decke gestarrt, aber als er den Riegel klicken hörte, sah er mich an. »Charis«, flüsterte er und schmunzelte.
Ich trat zu ihm und setzte mich neben ihn.
»Bist du immer noch böse auf mich?« fragte er lächelnd.
»Du hättest noch jahrelang leben können«, erwiderte ich.
»… wenn ich auf meinen Arzt gehört hätte«, beendete er den Satz. »Nun, ich habe bereits jahrelang gelebt. Länger, als ich hätte erwarten dürfen. Und wie mein Lehrmeister, der Eremit Antonius, bereits sagte: Wenn ich diese Welt für den Himmel eintausche, ist es so, als tauschte ich eine Kupferdrachme für hundert Solidi.«
Er sah mich einen Augenblick lang an. Obwohl seine Augen tief eingesunken waren, leuchteten sie ebenso unergründlich und durchdringend wie immer. »Der Glaube bedeutet dir immer noch nicht viel, nicht wahr?« fragte er. »Jedenfalls nicht im Vergleich zu Hippokrates.«
»O Gott«, entgegnete ich. »Du willst doch deine letzten Stunden nicht damit verbringen, mich zu bekehren.« Ich versuchte, ihm einen Schluck Honigwasser einzuflößen, doch er weigerte sich.
»Ich kann mir Schlimmeres vorstellen, als die Zeit so zu verbringen«, sagte er. »Doch nicht jeder ist zu einem asketischen und Gott dienenden Leben berufen. Dein Weg ist gut, auch wenn er nicht der beste ist.« Er sah mich erneut an, diesmal lag Bedauern in seinem Blick. »Du wirst heiraten.«
»Was? Ich habe nicht die Absicht zu heiraten. Ich bin mit Hippokrates verheiratet.«
»Du wirst trotzdem einen Ehegatten bekommen«, widersprach er langsam. »Und er wird ebensogut sein wie dein Hippokrates. Du liebst die Menschen zu sehr, Charition. Ach, ich wollte niemals Erzbischof werden, ich wollte Mönch werden. Aber Macht und Beifall bedeuteten mir zuviel, und schon saß ich in der Falle. Die Welt fesselt uns an sich durch das, was wir lieben. Doch das ist jetzt vorbei. Jetzt wird nicht mehr gekämpft!« Er machte eine Pause, dann lächelte er, der Ausdruck trunkenen Glücks kehrte in sein Gesicht zurück.
Ich verspürte Hilflosigkeit, Wut, tiefen Schmerz. »Du hättest weiterleben sollen!« erwiderte ich. »Denk daran, was uns zustoßen wird, wenn du nicht mehr bist! Dein Tod wird alle Lichter in Alexandria erlöschen lassen!« Er schüttelte den Kopf auch wenn es eine sehr matte Gebärde war. »Nicht alle Lichter. Ein einzelner bewirkt nicht soviel. Und niemand kann ewig leben, selbst dann nicht, wenn er den besten Arzt hat.« Er lächelte wieder. »Du mußt die Tür nicht verriegeln, meine Liebe; das Volk wünscht mich zu sehen. Sag den Leuten, sie sollen jetzt hereinkommen.«
Er starb nach Mitternacht, am zweiten Tag im Mai. Er war bis zum Ende geistig klar, und er war glücklich, zutiefst glücklich, wie er da auf seinen Tod harrte. Der größte Teil der Stadt harrte ebenfalls: Ganze Menschenhorden umringten den Palast und warteten auf Neuigkeiten. Ich fuhr mit meinen Bemühungen fort, Athanasios zu heilen, selbst dann noch, als es klar war, daß ich nichts mehr tun konnte, als festzustellen, wann er seinen letzten Atemzug getan hatte. Als alles vorüber war, kniete ich zusammen mit den anderen neben seinem Bett und weinte bitterlich, wie alle anderen. Er war ein stolzer Mann gewesen. Ich glaubte gerne, daß er in seiner Jugend anmaßend und gewalttätig gewesen war, aber sein Geist hatte sich wie ein Adler hoch über sein Zeitalter emporgeschwungen, und es gab niemanden, der ihm glich. Als wir seinen Tod verkündeten, hatte es den Anschein, als mache sich ganz Alexandria daran, zu trauern. Alle Läden wurden geschlossen, die Kirchen in schwarze Tücher gehüllt. Sogar der Pharos wurde mit schwarzen Wimpeln verhängt. Ein Licht war erloschen, und die Stadt wartete auf ihre Feinde.
Ich schnitt mir zum Zeichen der Trauer die Haare ab und wollte einen schwarzen Umhang und eine schwarze Tunika kaufen, doch die Händler sagten mir, es seien keine mehr zu haben. Als ich in meiner alten blauen Tunika in den Palast zurückkehrte (ich mußte Petrus, den der Schmerz aufs Krankenlager geworfen hatte, eine Dosis Opium verabreichen), fragte mich Theophilos, warum ich keine Trauer trüge, und als ich es ihm erklärte, schenkte er mir einen von seinen Umhängen. Nur Athanaric schien von all dem unberührt. Noch bevor der Körper des Erzbischofs kalt war, hatte er sein Beglaubigungsschreiben und einige Briefe des Präfekten eingesammelt, hatte ein Postpferd bestiegen und sich auf den Weg nach Antiochia und an den Hof gemacht.