11
Es wurde Ende September, bevor ich endlich nach Novidunum zurückkehrte. Thorion und Maia hatten mich gebeten, längere Zeit in Tomis zu bleiben, und ich war damit einverstanden gewesen, so lange zu bleiben, bis Melissa und das Baby ganz eindeutig außer Gefahr waren. Nicht, daß sie jemals wirklich in Gefahr gewesen wären. Melissa war eine kräftige junge Frau, und das Baby schlug nach seinem Vater, es hatte eine Konstitution wie aus Eisen.
Obwohl ich nur eine knappe Woche von Tomis fort gewesen war, hatte Thorion bereits eine große Menge zusätzlichen Getreides beschafft. Er hatte seinen Plan verwirklicht, einigen Landbesitzern im Süden der Provinz, die früher ihre Steuern in bar gezahlt hatten, zu gestatten, sie in Naturalien zu bezahlen. Dies hatte es ihnen erlaubt, ihr überzähliges Getreide loszuwerden und gleichzeitig Geld zu sparen; so war es also eine populäre Maßnahme. Thorion hatte es sogar fertiggebracht, einige von den Landeigentümern dazu zu bewegen, ihn zu bestechen, damit er es ihnen gestatte. Natürlich ist es teuer, Getreide auf dem Landweg zu transportieren. Deshalb hatten die Landbesitzer ursprünglich auch in bar gezahlt, und die Armee hatte einen Teil ihrer Vorräte aus solch entfernten Gegenden wie Ägypten herangeschafft – es ist billiger, Getreide per Schiff von Ägypten nach Tomis und weiter die Donau hinauf zu expedieren, als es auf Lastkarren Hunderte von Meilen über Land zu befördern. Doch Thorion gab sich große Mühe, neue Wege ausfindig zu machen, um das Getreide auf Kanälen und Flüssen zu verschiffen. Er kaufte auf Kosten des Kaisers einige Schiffe (indem er weitere Steuernachlässe gewährte) und war emsig dabei, Getreide, Gold und Popularität anzuhäufen. Nur der Verwalter der kaiserlichen Schatzkammer hatte Grund, verärgert zu sein. Doch Thorion begegnete dieser Verärgerung mit dem Hinweis auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten, Getreide aus Alexandria zu bekommen, und auf die Notwendigkeit, die Versorgung der Armee zu gewährleisten. Er war empört, daß Festinus das Getreide nicht in Empfang nehmen wollte. Aber inzwischen war er von seinem neuen Steuersystem so begeistert, daß er es beibehielt und das überflüssige Getreide so lange in den öffentlichen Kornspeichern lagerte, bis ihm einfiel, welchen Gebrauch er davon machen könne.
Es stellte sich bald heraus, daß seine Vorsorge für ihn und Skythien äußerst segensreich war, denn in jenem Winter fiel die Welt in Scherben. Doch davon hatte ich keine Ahnung, als ich auf Novidunum zuritt. Es war ein strahlender, warmer Herbsttag, und ich war glücklich, wieder zu Hause zu sein. Alle freuten sich, mich zu sehen – Arbetio und Edico, die Pfleger und Patienten im Hospital, die Soldaten, mein eigener Haushalt. Gudrun und Alaric hatten sich großartig eingelebt und begrüßten mich, als sei ich ein kleiner Gott. Ich versprach ihnen, sie ihren Familien zurückzugeben, sobald diese ein Zuhause für sie hätten. Sie knieten nieder und küßten mir die Hände. Raedagunda hatte es irgendwie geschafft, ihr Baby noch nicht zu bekommen: Es kam zwei Tage nach meiner Ankunft: Ein gesundes, kräftiges Mädchen. Gudrun betete es geradezu an, Alaric konnte es nicht ausstehen. Sueridus und Raedagunda baten mich um die Erlaubnis, es Charitona zu nennen. Ich antwortete ihnen, ich könne es nicht zulassen, daß das Kind einen derart barbarischen Namen bekäme, aber wenn sie wollten, könnten sie es ja Charis nennen. Ich sah mich nach einem größeren Haus um.
Dann verschwand in den letzten Tagen des Oktobers mein gotischer Assistent im Hospital, Edico. In der Nacht zuvor hatte er Besuch von einem anderen Goten erhalten, den die Wachen am Festungstor als seinen Vetter erkannt hatten. Am Morgen waren er und der Besucher zusammen fortgegangen und nicht mehr wiedergekehrt. Ich war überrascht und bestürzt. Er hatte inzwischen lesen gelernt und auch sonst eine rasche Auffassungsgabe bewiesen. Seine Begabung für die Heilkunst war offenkundig, und ich war über seinen Verlust ebenso betrübt wie verletzt. Er hatte die Hälfte meines Opiumvorrates mitgenommen, dazu etwas Hanf und einige Alraunwurzeln; vor allem jedoch mein Exemplar des Heilmittelbuchs von Dioskurides, das ich ihm vor kurzem geliehen hatte. Für mein Empfinden hatte er sich damit auf eine Stufe mit einem gemeinen Dieb gestellt, und ich schämte mich für ihn. Wahrscheinlich waren irgendwelche Mitglieder seiner Familie krank geworden, aber ich verstand nicht, warum er mir das nicht erzählt hatte; ich hätte ihm soviel Urlaub gegeben, wie er wollte.
Dann, zwei Tage später, Anfang November, erhielten auch wir die schlimmen Nachrichten aus Mösien, die Edico bereits erhalten haben mußte. Die Terwingen befanden sich in offenem Aufruhr.
Sie waren nach Marcianopolis gezogen, hatten sich jedoch viel Zeit dafür genommen. Zuerst hatten sie Wagen gebaut, um ihre Kinder und alles, was ihnen sonst noch an Hab und Gut geblieben war, aufzuladen. Dann waren sie sehr langsam losmarschiert und hatten immer wieder haltgemacht, um unterwegs Nahrungsmittel zu erbetteln oder zu stehlen. Als sie endlich die Hauptstadt erreichten, lud Lupicinus die gotischen Führer zu einem Festmahl ein. Frithigern und ein Edelmann namens Alavivus nahmen die Einladung an. Wie üblich nahmen sie eine Wache bewaffneter Begleiter mit, die außerhalb des Hauptquartiers wartete, solange ihre Anführer drinnen schlemmten. Die übrigen Terwingen blieben außerhalb der Stadtmauern. Sie waren nach wie vor sehr hungrig, und viele von ihnen zogen zur Stadt, um sich ein paar Nahrungsmittel einzuhandeln. Aber die Wachsoldaten lachten sie aus und versuchten, sie fortzujagen. Die Goten wurden wütend, sie stießen Beleidigungen und Drohungen aus. Dann erschienen die Stadtbewohner und bewarfen die Barbaren mit Steinen. Die Goten warfen die Steine zurück, einige schleuderten sogar ihre Lanzen auf die Römer – oder was auch immer sie finden konnten. Die Wachen eilten zu Lupicinus, um ihm zu berichten, daß es am Stadttor zu Auseinandersetzungen gekommen sei. Die größte Sorge des Heerführers galt der eigenen Sicherheit und dem Schutz der Stadt. Vor der Tür seines Hauptquartiers erblickte er Frithigerns Gefolge, das dort auf seine Führer wartete. Lupicinus ließ sämtliche Leute töten und die beiden Anführer festnehmen.
Die Nachricht von diesen Ereignissen erreichte die Goten außerhalb der Mauern sehr rasch, und die übrigen Terwingen strömten zusammen, um die Stadt zu belagern. Obwohl durch Krankheit und Hunger geschwächt, waren sie doch sehr zahlreich, und viele hatten ihre Waffen beim Übersetzen über die Donau versteckt. Sie schlugen ihre Schwerter gegen die Schilder und verlangten von den Römern, ihren König, wie sie Frithigern nannten, freizulassen. Frithigern wurde zu Lupicinus gebracht und behauptete, das Ganze sei ein Mißverständnis und sie könnten Blutvergießen vermeiden, wenn der Heerführer ihn und seinen Gefährten Alavivus ziehen ließe, um ihr Volk zu beruhigen. Lupicinus ließ sie hinausführen, vorbei an den Leichnamen ihrer dahingeschlachteten Gefährten. Sobald sie aus der Stadt hinaus waren, waren sie natürlich auf und davon. Sie begannen, die Umgebung von Marcianopolis zu verwüsten und Nahrungsmittel, Pferde, Kühe und was ihnen sonst noch in die Hände fiel, zu rauben.
Die nächste Nachricht war schlimmer und erreichte uns ein paar Tage später. Lupicinus und dem Heerführer Maximus war es gelungen, ihre Truppen zu sammeln und gegen die Goten zu führen – doch sie waren vernichtend geschlagen worden. Die meisten Legionen waren ganz einfach ausgelöscht, ebenso wie fast alle Offiziere, die auf Festinus’ Festbankett so großspurig über das Festungsbauwesen schwadroniert hatten. Die Standarten der römischen Legionen waren in die Hände der Barbaren gefallen. Ja schlimmer noch, die Goten hatten die Waffen der toten Römer an sich genommen und waren stärker als je zuvor. Es schien jetzt so gut wie sicher, daß auch die Greuthungen die Donau überquert hatten und daß Frithigern bereits ein Bündnis mit ihnen geschlossen hatte. Lupicinus war noch am Leben: Als er sah, daß die Armee verloren war, war er geflohen, hatte sich in Marcianopolis verschanzt und einen Boten losgeschickt, um Hilfe zu holen. Die Goten wurden jetzt nicht mehr von der Angst vor den Römern in Schach gehalten, die bisher immer auf ihnen gelastet hatte. In den gesamten südlichen Provinzen Thraziens griffen sie Städte und Landhäuser an, brandschatzten, plünderten und vergewaltigten. Sie töteten sämtliche Männer in waffenfähigem Alter und schleppten Frauen und ältere Kinder als Sklaven mit sich. Säuglinge und kleine Kinder, die zu jung waren, um weitere Strecken zu marschieren, wurden ihren Müttern entrissen und umgebracht. Beamte, ja sogar völlig unschuldige Ratsmitglieder wurden auf die Folter gespannt und getötet. Einer von Lupicinus’ Offizieren wurde gefangengenommen: Die Goten peitschten ihn aus, folterten und blendeten ihn und rissen ihn zum Schluß buchstäblich in Stücke.
Doch römische Anmaßung, die eigentliche Ursache des Krieges, dauerte an und schadete dem römischen Staat weiterhin. Ein Brief des Kaisers höchstpersönlich traf in Hadrianopolis ein, den dort stationierten – und mit den Römern verbündeten – gotischen Truppen wurde befohlen, Thrazien zu verlassen und sofort nach Asien zum Hellespont zu ziehen. Diese Truppen wurden von Athanarics Vater befehligt und befanden sich gerade in ihren Winterquartieren. Sie hatten ihre Waffen bereits abgelegt, und als der Ärger begann, hatte der Stadtrat sie weggeschlossen. Die gotischen Befehlshaber wollten eigentlich nicht in den Krieg verwickelt werden und baten lediglich um zwei Tage Frist, um sich auf den Marsch vorbereiten zu können. Außerdem baten sie um Lebensmittel und Reisegeld. Der Magistrat der Stadt gab ihnen kein Reisegeld, und auch der Kaiser schickte keines. Da das Landhaus des Ratsherrn von Frithigerns Leuten geplündert worden war, war er nicht gut auf die Goten zu sprechen. Er bewaffnete die Bürger und richtete den Goten aus, falls sie die Stadt nicht unverzüglich verließen, würde er sie allesamt töten lassen. Die gotischen Anführer versuchten, an seine Vernunft zu appellieren. Die Bevölkerung johlte und bewarf sie mit Steinen. Schließlich rebellierten die Goten ganz offen, töteten eine große Anzahl von Bürgern, besorgten sich Waffen – in Hadrianopolis gibt es eine Fertigungsanlage für Kriegsmaterial – und verließen die Stadt. Sie vereinigten sich mit Frithigerns Streitkräften, und bald wurde Hadrianopolis von einer riesigen und gutbewaffneten gotischen Armee belagert.
Sebastianus war noch vor Beginn der Rebellion nach Skythien zurückgekehrt. Die Truppen waren in Alarmbereitschaft versetzt worden, und es wurden Vorbereitungen getroffen, sie mit anderen kaiserlichen Streitkräften zu vereinigen – doch dann passierte gar nichts. Sebastianus hatte nicht genug Soldaten, um dieser riesigen gotischen Armee auf eigene Faust entgegenzutreten. Er sandte Botschaften an den Kaiser – schickte sie, um sicher zu gehen, per Schiff – und fragte, was er tun sollte.
Thorion sandte ebenfalls Botschaften, einige an den Kaiser und einige an mich. »Komm sofort nach Tomis zurück«, schrieb er.
»Ich schicke dich, Melissa und das Baby nach Konstantinopel. Eine Provinz, die sich im Krieg befindet, ist kein Ort für Frauen.«
»In jeder Provinz und während jeden Krieges gibt es einen Haufen Frauen«, schrieb ich zurück. »Und außerdem bin ich für dieses Hospital verantwortlich: Ich kann meine Patienten nicht einfach im Stich lassen. Mach dir keine Sorgen. Hier in Novidunum bin ich ebenso sicher wie du in Tomis.«
Ich schickte den Brief mit dem offiziellen Kurier. Dann kletterte ich auf die Festungsmauer und sah zu, wie der Mann über die Felder davon ritt. Alles war inzwischen weiß vom ersten Schnee. Der Himmel über dem Delta war grau und schien bersten zu wollen; nur am Horizont leuchtete er und war von jener eigenartigen Helligkeit, die die Luft über dem Meer auszeichnet. Der Kurier bewegte sich über die weiße Fläche des Schnees vorwärts, ritt unter den schweren Wolken hinweg, eine winzige schwarze Ameise, die über eine riesige Staubfläche krabbelt. Sonst rührte sich nichts. Ich blickte zum Delta hinüber, dann schritt ich langsam auf der Festungsmauer entlang. Rauch aus ein paar Häusern in östlicher Richtung; Kühe auf einem Feld; eine Frau, die Holz sammelte. Dann die unermeßlichen braunen Fluten des Flusses, die in der kalten Luft dampften und sich der Helligkeit des weit entfernten, unsichtbaren Meeres entgegenwälzten. Dahinter, am anderen Flußufer, waren die Wälle des verlassenen gotischen Lagers gerade noch zu erkennen, dann weitere Felder und Wälder: Nichts rührte sich, kein Leben. Dort waren keine Goten. Vielleicht drängten dort schon bald andere Barbaren nach Alanen, Hunnen. Ich schloß die Augen und dachte an das Imperium, einen Ring von Städten um das Mittelmeer herum, eine Kette, die sich bis zum Schwarzen Meer erstreckte, den Nil hinauf bis in die Wildnis des Binnenlandes, von dem weit entfernten Britannien bis zur persischen Grenze, vom Rhein und von der Donau bis weit in den Süden hinunter, bis zu den Wüsten Afrikas und den Landstrichen Äthiopiens. Alexandria mit seinem Leuchtturm. Caesares, Tyrus, das kaiserliche Antiochia, Rhodos, Ephesus, meine Heimatstadt, mit ihrem herrlichen Tempel der Göttin Artemis. Das strahlende Konstantinopel. Athen, unser aller Mutter und nach wie vor eine Stadt des Lernens, selbst heute noch inmitten ihres lang anhaltenden Niedergangs. Und die Städte des Westreichs, die ich nur aus Berichten kannte: Rom, Carthago, Massilia und weiter entfernt liegende Hauptstädte im Innern wie Treviri und Mediolanum. Die Völker Britanniens, Galliens, Afrikas, Ägyptens, Syriens, Asiens: ein Durcheinander unterschiedlicher Sprachen, unterschiedlicher Vergangenheiten, Religionen, Rassen. Ein Kaiserreich, zwei Sprachen und beinahe tausend Jahre Zivilisation. Zum erstenmal in meinem Leben versuchte ich – wie ich da auf den Festungswällen von Novidunum stand –, mir ein Leben ohne das römische Imperium vorzustellen, und zum erstenmal verstand ich, warum Athanaric es so liebte.
Ich kletterte von den Mauern herunter und machte mich an meine Arbeit im Hospital. Mir hätte schon vorher klar sein müssen, daß ich auf Gedeih und Verderb eine Kreatur des Kaiserreichs war, von ihm geformt durch meine Erziehung, genährt mit seinem Wissen, geprägt durch seine Ordnung. Doch Ephesus ist eine alte Stadt, man hält ungewöhnliche Dinge für ganz normal und sieht einen Zustand für ganz natürlich an, der in Wirklichkeit ein mühsam erworbenes Privileg darstellt. Es war mir immer als selbstverständlich erschienen, daß nur Soldaten Waffen trugen, daß die Gesetze überall die gleichen waren, daß die Menschen sich – unabhängig von irgendwelchen örtlichen Verwaltungsbeamten – von ihren Berufen ernähren konnten, daß man Waren kaufen konnte aus Orten, die Tausende von Meilen entfernt lagen. Aber all dies hatte seine Wurzeln im Kaiserreich, das das Gefüge der Welt zusammenhält, so wie Atlas angeblich den Himmel hält. Und all das war den Goten fremd. Ich hatte die kaiserlichen Behörden bisweilen wegen ihrer Bestechlichkeit, ihrer Brutalität, ihrer Gier, mit der sie die gesamte Macht der Welt für sich beanspruchten, gehaßt. Doch jetzt, da die kaiserliche Regierung in Thrazien herausgefordert war, fühlte ich mich ganz und gar als Römer. Was ich in dieser Lage tun konnte, um dem Staat zu dienen, würde ich tun. Andere mochten ihren Posten verlassen; ich war entschlossen, den meinen nicht zu verlassen.
In der nächsten Woche kam Sebastianus durch Novidunum, um die Truppen auf seinem Weg flußaufwärts zu inspizieren. Ich erstattete ihm über den Gesundheitszustand der Legionen Bericht und meldete ihm Edicos Überlaufen zu den Goten. Da ich dadurch in Bedrängnis geraten war, bat ich Sebastianus um zwei Dinge: erstens um die Beförderung des Intelligentesten der Pfleger des Hospitals zum Arzt und zweitens um die offizielle Freilassung Arbetios. Außerdem sollte er ihm eine mit einem regulären Sold ausgestattete Position verschaffen. Um letzteres hatte ich bereits mehrmals gebeten, aber bei dieser Gelegenheit verlieh ich dieser Forderung größeren Nachdruck. Ich wollte nicht, daß mein anderer Assistent ebenfalls verschwand, und ich hielt es für ziemlich wahrscheinlich, daß Edico ihm die Freiheit versprochen hatte, falls er sich den Goten anschlösse. Sebastianus akzeptierte meinen Standpunkt und wischte die Angelegenheit nicht, wie vorher immer, beiseite. Er ließ seinen Schreiber auf der Stelle die Dokumente ausfertigen, rief Arbetio zu sich und sagte ihm, er sei ein freier Mann. Arbetio starrte ihn an, und Sebastianus händigte ihm den Vertrag eines Armeearztes zur Unterschrift aus. Arbetio war wie betäubt. Als er unterschrieb, zitterte seine Hand. Sebastianus ergriff sie und schüttelte sie. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Arbetio den Vertrag an. Ich trat auf ihn zu und streckte ihm meine Hand ebenfalls entgegen; er ergriff sie, dann blickte er mir ins Gesicht und umarmte mich. »Danke dir«, sagte er. »Ich finde keine Worte. Ich wäre zu sterben bereit, um dir richtig zu danken.«
Sebastianus lachte. »Du hast recht, dem Urheber deiner Freiheit zu danken und nicht so sehr dem Vollstrecker.« Und er bat uns beide, beim Abendessen seine Gäste zu sein.
Als wir abends beisammen saßen, fragte ich Arbetio, ob er mein Haus übernehmen wolle. »Ich möchte es sowieso loswerden. Du kannst es bezahlen, wenn du die Summe beisammen hast.«
»Ich wollte mir eigentlich für etwas anderes Geld von dir leihen«, meinte Arbetio unsicher.
Sebastianus sah ihn nachdenklich an. »Wofür? Für einen anderen Sklaven? Zehn zu eins, daß es eine Frau ist.«
Arbetio lächelte und wurde rot. »Ja. Ich brauche jemanden, der mir den Haushalt führt.«
»Ich werde dir das Geld leihen«, ich lächelte ihm aufmunternd zu. »Und das Haus ebenfalls. Wirklich, ich bin froh, wenn ich es los bin. Valerius hat ein größeres für mich gefunden; es muß nur ein neues Strohdach bekommen.« Sebastianus lächelte. »So spricht ein reicher Mann! Athanaric hat mir erzählt, daß er etwas über dich herausgefunden hat.«
Ich konnte es nicht verhindern, daß ich zusammenzuckte und etwas Wein auf meine Tunika verschüttete. Ich richtete mich rasch auf und versuchte, ihn fortzuwischen.
»Gott im Himmel!« sagte Sebastianus und lachte. »So schlimm kann es doch nicht sein!«
Ich saß regungslos da und versuchte, mich zu beherrschen. Selbst wenn Athanaric die Wahrheit vermutete, hatte er Sebastianus offensichtlich nichts erzählt. In dem Verhalten des Heerführers deutete nichts darauf hin, daß er etwas von meinem wahren Geschlecht wußte. »Athanaric hat mir erzählt, daß er in irgendwelchen Dingen herumwühlt, die ihn überhaupt nichts angehen«, sagte ich schließlich mißmutig. »Einige davon hängen angeblich mit mir zusammen. Ich betrachte diese Dinge allerdings als strikt privat, und wenn Athanaric etwas herausgefunden hat, dann hat er hoffentlich den Anstand, den Mund zu halten.«
Sebastianus starrte mich überrascht an. »Er schrieb lediglich am Schluß eines Briefes, er habe über einige Ereignisse in Asien nachgedacht und etwas über dich herausgefunden, was er mir bei unserer nächsten Begegnung erzählen wollte.«
»Ich wäre dir dankbar, wenn du ihm nicht zuhörst, ehrenwerter Sebastianus.«
»Heiliger Christ, Chariton, das kann doch nichts schaden. Es ist mir egal, falls Festinus dich des Verrats bezichtigt hat oder du tatsächlich ein entlaufener Sklave bist. Was auch immer es ist, ich bin sicher, daß du vollkommen unschuldig bist, und Athanaric ist sich dessen ebenfalls sicher. Er machte keine Andeutung darüber, daß er etwa etwas Schimpfliches entdeckt habe, nur etwas, was ich wissen sollte. Wenn er es mir erzählen will, dann doch nur, weil er möchte, daß ich Ärger von dir fernhalte.«
Ich setzte mich wieder auf die Ruhebank, war jedoch zu angespannt und verärgert, um mich entspannt zurückzulehnen. Athanaric hatte sicherlich etwas gemerkt. Ich konnte an nichts anderes denken als an mein Geheimnis – aber falls er es herausgefunden hatte, warum hatte er es dann Sebastianus in seinem Brief nicht ganz einfach erzählt? Fürchtete er vielleicht, der Brief könne in falsche Hände geraten? Oder hatte er irgendwelche falschen Schlüsse gezogen? Noch konnte ich vielleicht davonkommen. Trotzdem, ich hatte nach wie vor Angst und war außerdem ziemlich wütend. »Hat Athanaric mit den augenblicklichen Schwierigkeiten denn nicht genug zu tun, muß er auch noch in abgestandenen Ereignissen einer anderen Diözese herumwühlen?« fragte ich verbittert. »Vor allem in solchen, die seine Freunde kränken könnten.«
»Wenn ich irgendwie helfen kann…« meinte Arbetio zögernd, aber ich schüttelte den Kopf.
Sebastianus seufzte. »Nun, es tut mir leid, daß ich etwas gesagt habe. Ich konnte nicht wissen, daß du es so aufnimmst.« Er schnippte mit den Fingern und deutete auf mein Glas; die Sklaven füllten es nach. »Jetzt, da du es erwähnst, muß ich gestehen, mich ebenfalls gewundert zu haben, daß Athanaric noch die Zeit hatte, an etwas anderes als an seine Arbeit zu denken. Er ist inzwischen in Antiochia gewesen, er hat während eines befristeten Waffenstillstandes mit Frithigern gesprochen, und in seinem letzten Brief berichtete er, er sei nach Sirmium unterwegs.«
»Was gibt es für Neuigkeiten?« fragte ich und wurde allmählich wieder ruhiger.
»Die Goten haben die Belagerung von Hadrianopolis aufgehoben. Offensichtlich ist Frithigern sich darüber klargeworden, daß sie nicht über genügend Erfahrung für einen erfolgreichen Belagerungskrieg verfügen und dabei nur unnötig Soldaten verlieren. Sie haben nur ein paar Mann zurückgelassen, um die Stadt unter Beobachtung zu halten. Der Rest hat sich in kleinere Gruppen aufgeteilt und streift plündernd durchs Land. Ich würde mich nicht wundern, wenn wir auch in Skythien schon bald auf einige von ihnen stoßen.«
»Was ist mit unseren eigenen Truppen?« fragte Arbetio.
Sebastianus zuckte die Achseln. »Vor dem Frühjahr wird niemand aus dem Osten hier eintreffen. Lupicinus ist seines Kommandos und Festinus seiner Statthalterschaft enthoben worden. Beide sind in Unehren nach Hause geschickt worden – das bedeutet jedoch nur, daß hier im Augenblick niemand die Verantwortung trägt. Unsere Erhabene Majestät traut sich nicht, auch nur einen einzigen Mann von der persischen Front abzuziehen, bevor er nicht Frieden mit dem Großen König dort geschlossen hat. Aus diesem Grunde hat er den Heerführer Victor dorthin geschickt. Es sieht so aus, als würden sie Armenien unter sich aufteilen. Dann will er Profuturus und Trajanus mit den armenischen Legionen zu uns schicken. Ich kann mir vorstellen, daß Athanaric eine Botschaft in das Westreich bringt, um Gratianus Augustus um Truppen zu bitten. Er hat allerdings nichts dergleichen gesagt. Ich fürchte jedenfalls, daß wir bis zum Frühjahr auf eigene Faust zurechtkommen müssen, möglicherweise sogar bis zum Sommer.« Er hob seinen Becher und blickte uns über den Rand hinweg aufmerksam an.
»Trinkt, Freunde! Wir werden schon bald nicht mehr viel Zeit zum Trinken haben.«