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Der Weg, der sich dazu anbot und der wohl auch der einzige war, führte über das offene Meer. Aber wir hatten bereits fast Ende September, und zwischen Mitte Oktober und Ende März wagten es nur wenige Schiffe, den tückischen Winterstürmen zu trotzen. Thorion ging zum Hafen hinunter und fragte bei den Schiffsherren nach. Er fand einen, der in der darauffolgenden Woche segeln wollte, doch danach lief bis zum Frühjahr keiner mehr aus. Aber ihm gefiel der Anblick des Schiffes nicht sehr.
»Es hat alles Mögliche geladen: Wein und gefärbte Tuche aus Asien und Sklaven aus dem Norden«, erzählte er mir. »Der Schiffsherr sah mir nicht danach aus, als sei er dagegen gefeit, sich während der Reise ein bißchen was dazu zu verdienen. Er könnte einen Eunuchen für mehr als hundert Solidi verkaufen und durchaus versucht sein, das damit verbundene Risiko auf sich zu nehmen.«
Doch schließlich mußten wir es gar nicht darauf ankommen lassen, das Sklavenschiff zu nehmen. Vater handelte einen Ehevertrag mit Festinus aus, in dem der Hochzeitstermin bis zum Mai hinausgeschoben wurde. Festinus wollte eine schnellere Eheschließung, doch Vater hatte gemeint, ich sei noch zu jung, der Antrag wäre so unerwartet gekommen und wir brauchten etwas Zeit, um meine Aussteuer vorzubereiten. Vor Februar ging es unmöglich, und danach sei Fastenzeit, eine ungehörige und ungeeignete Zeit für eine Hochzeit. Ostern lag in jenem Jahr zum Glück spät, und so wurde Anfang Mai festgesetzt. Das ließ uns eine Menge Zeit.
Alle Welt war in jenem Winter sehr freundlich zu mir, so freundlich, daß ich mich beinahe schuldig fühlte, fortzulaufen. Ab und zu machte Festinus uns einen Besuch, jedoch nicht unziemlich oft, und man erwartete nichts weiter von mir, als ihm zuzunicken, züchtig im Hintergrund zu sitzen und ein bescheidenes Gesicht zu machen. Er unternahm keinen weiteren Versuch, allein mit mir zu sprechen, und ich vermied es, überhaupt mit ihm zu reden, und zwar immerhin so erfolgreich, daß der Abscheu, den ich für ihn empfand, etwas nachließ. Vielleicht, dachte ich bisweilen, wenn ich nachts wach lag, vielleicht sollte ich das Wagnis der Ehe doch eingehen. Wenn ich vor der Hochzeit verschwände, würde Festinus Ärger machen. Ich glaubte nicht, daß er Vater ein Jahr nach dem letzten Freispruch erneut anklagen würde, aber er war nach wie vor ein mächtiger Mann. Er konnte Thorions Karriere verhindern und Vater allerlei Ärger bereiten. Darüber hinaus hatte Vater so viel Angst vor dem Statthalter, daß er Maia und die übrigen Sklaven vielleicht schlagen oder foltern würde, um herauszubekommen, wo ich war. Auf der anderen Seite beabsichtigte Vater, mir Maia und ein paar andere Sklaven als Teil meiner Mitgift mitzugeben, und in Festinus’ Haus würde das Leben für sie keineswegs leichter sein als für mich. Im großen und ganzen, dachte ich, würden sie mit Vater besser dran sein. Er war ein freundlicher Mann und haßte es, jemandem etwas zuleide zu tun. Er fürchtete sich vor dem, was er jetzt tat, und machte mir viele peinliche Geschenke, steckte sie mir mit einer unbeholfenen Munterkeit zu, die seine Nervosität kaum verbergen konnte. Darüber hinaus gab er für die Zeit nach der Eheschließung einen Haufen Geld für Kleidung und Kutschen für mich aus. Thorion drängte Vater im Verlauf des Winters immer wieder, Vereinbarungen für seine eigene Ausbildung zu treffen – er wollte alles geregelt haben, bevor wir Festinus zu unserem Feind machten. Diese Vereinbarungen erwiesen sich als ziemlich kostspielig, und Vater mußte etwas Land verkaufen. Es tat mir sehr leid, daß all diese Vorkehrungen und der damit verbundene Ärger umsonst waren, aber ich äußerte mich mit keinem Wort mehr zu der Hochzeit. Vielleicht hegte ich wirklich manchmal meine Zweifel, aber im Grunde genommen brannte ich bereits darauf, in Alexandria zu sein. Thorion unternahm noch ein paar weitere Versuche, Vater dazu zu überreden, die Hochzeit abzusagen, aber Vater wies darauf hin, dazu sei es inzwischen zu spät, und überhaupt, Festinus sei wirklich »sehr viel ruhiger geworden« und werde seiner eigenen Frau schon nichts antun.
Die Tatsache, daß sich alle Welt mir gegenüber plötzlich so entgegenkommend zeigte, bedeutete, daß ich die Möglichkeit hatte, ein paar weitere medizinische Texte zu lesen. Ischyras willigte darin ein, Euripides beiseite zu legen und das Gedicht des Nikandros über Arzneimittel zu lesen. Jedesmal, wenn ich meinen Hauslehrer sah, schämte ich mich sehr: Ich war inzwischen fest entschlossen, seinen Namen in meinen Plänen zu verwenden, aber ich wollte den Mann natürlich nicht selbst mit hineinziehen. Ich machte mir Sorgen, daß ihm meine Flucht eines Tages vielleicht Ärger machen könne, aber ich tröstete mich mit der Gewißheit, daß ich, falls es je soweit käme, immer noch sagen könnte, er wisse nichts davon.
In jenem Winter las ich endlich auch Galen. Maia nahm ihre Ersparnisse mit auf den Markt hinunter und kaufte mir eine Kopie seines Werkes über die Anatomie. Es war das schönste Buch, das ich je gesehen hatte: nicht etwa eine Schriftrolle, sondern ein großer, schwerer Kodex aus Pergament, nicht aus Papyrus. Er hatte wunderschöne Illustrationen in roter und schwarzer Tinte und war mit winziger, jedoch deutlich lesbarer Handschrift geschrieben. Am Rande befanden sich erläuternde Kommentare. Er mußte ein Vermögen gekostet haben. Ich sagte Maia, ich würde ihr das Geld zurückzahlen, aber das lehnte sie strikt ab.
Noch ein anderer der Sklaven war sehr nett zu mir: Es war Philoxenos. Er hatte ebenfalls schlechte Erfahrungen mit Festinus gemacht. Jedesmal, wenn er mich sah, setzte er eine betrübte Miene auf, und ich hätte ihm fast gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, ich würde den Statthalter gar nicht heiraten. Er versprach mir das erste Fohlen, das seine Zuchtstute zur Welt bringen würde, und sagte mir, ich solle ihn rufen, wann immer ich seine Hilfe benötigte: eine wirklich erstaunlich hochherzige und mutige, wenn auch unbesonnene Äußerung! Und er verriet mir seine eigenen, sorgfältig notierten Rezepte für verschiedene Pferdekrankheiten, die er unbeholfen zwischen die Zeilen eines pergamentenen Kochbuchs geschrieben hatte, die jedoch samt und sonders vernünftig und wirklich brauchbar waren.
Wir wußten, daß wir bei unseren Vorbereitungen beträchtliche Sorgfalt walten lassen mußten. Jeder, den wir einweihten, könnte gefoltert und streng bestraft werden, falls man ihm auf die Spur kam. Thorion würde sehr wahrscheinlich verdächtigt werden, mich irgendwo zu verstecken, doch das Schlimmste, was er zu fürchten hatte, war der Entzug seines Taschengeldes und die Feindschaft von Festinus. Um letzteres zu vermeiden, entschloß sich mein Bruder dazu, Ephesus zu verlassen. Er strebte ein Amt bei Hof sowie einen ordentlichen Titel im Rechtswesen an, und beides konnte er in Konstantinopel erwerben. Vater schrieb Briefe an all seine alten Freunde, die in der Hauptstadt wohnten und zahlte schließlich achtzig Solidi, um Thorion eine untergeordnete Stellung im Amt des Prätorianerpräfekten zu verschaffen. Diese war nur mit leichten Pflichten bei der Bearbeitung von Steuerabgaben verbunden. Die Abmachungen, die Rechte zu studieren, waren sehr viel billiger und leichter zu treffen, da sie lediglich Gebühren kosteten und keine Bestechungsgelder.
Nach Weihnachten fingen wir an, ernsthafte Vorbereitungen zu treffen, und Mitte der Fastenzeit hatten wir alles geschafft. Inzwischen dachten die Schiffsherren wieder daran, ihre Segel zu setzen: Es herrschte klares Frühlingswetter, sehr mild mit einer leichten Brise, vorzugsweise aus Nordost – die besten Winde für Alexandria. Thorion fand ein Schiff, das den Hafen Mitte April verlassen sollte. Es trug den Namen Halcyon, der Eisvogel, vorne am Bug. Es war ein ziemlich großes Schiff, und es sollte Bauholz sowie ausgesuchte Luxusgüter laden, hatte jedoch auch Platz für einige Passagiere. Der Eigner war bekannt in Ephesus, stammte selbst jedoch nicht von dort. Man hielt ihn allgemein für ehrlich, er würde aber nicht genug über die Stadt wissen, um Verdacht schöpfen zu können, wer ich wirklich war. Thorions Name sagte ihm nicht viel. Thorion buchte eine Passage für mich und bezahlte die Hälfte des Fahrpreises im voraus. Ich würde den Rest bezahlen, sobald wir in Alexandria anlegten.
Alexandria! Die Stadt der alten Könige, die Stadt der Gelehrten, die Stadt, die einmal die größte der Welt war und immer noch die größte des Ostreichs ist, trotz all des Glanzes von Konstantinopel. Ein Arzt kann keine bessere Empfehlung vorweisen, als zu sagen: »Ich habe in Alexandria studiert.« Und ich würde dort hingehen: Ich, Charis, die Tochter des Theodoros, würde die große Bibliothek benutzen und in dem berühmten »Museum« studieren, wo auch Herophilos und Erasistratos und Nikandros und sogar Galen studiert hatten! Ich machte mir keine Gedanken mehr darüber, was meiner Familie in Ephesus zustoßen könnte, ich träumte nur noch von Alexandria. Ich stellte mir die Halcyon vor, wie sie in den Großen Hafen einlief, und sah die Stadt weiß und strahlend aus dem Meer auftauchen, beschienen von den Feuern seines berühmten Leuchtturms, des Pharos, der eines der Wunder dieser Welt darstellte – aber an Alexandria war alles wundervoll. Ich schämte mich vor mir selbst, vor allem, wenn ich an Maia dachte, aber ich konnte es gar nicht mehr abwarten, fortzukommen. Maia wollte mich begleiten. »Du wirst jemanden brauchen, der sich um dich kümmert«, erklärte sie mir. »Jeder, der irgend etwas darstellt, hat zumindest einen Sklaven. Und du weißt doch gar nicht, wie du für dich selbst sorgen sollst, mein Liebling! Außerdem wirst du jemanden brauchen, dem du vertrauen kannst. Was würde wohl passieren, wenn du dich darauf verläßt, nach deiner Ankunft in Alexandria jemanden zu kaufen? Wen auch immer du kaufst: innerhalb von einer Woche würde dieser Mensch herausfinden, daß du in Wirklichkeit ein Mädchen bist, und dann könnte er dich erpressen und alles von dir bekommen, was er will! Nein, ich komme mit dir.«
Aber ich weigerte mich, sie mitzunehmen. Ich erklärte ihr, daß ich mir wegen ihrer Gesundheit während der Seereise Sorgen machte, und in der Tat hatte sie, seitdem sie gefoltert worden war, des öfteren starke Gelenkschmerzen. Deshalb glaubte ich auch nicht, daß ihr Schiffe und billige Unterkünfte besonders gut tun würden. Ich sagte ihr, ich sähe es nicht gerne, wenn man sie für eine davongelaufene Sklavin halten und mich selbst eine Diebin schimpfen würde: Vor dem Gesetz war sie das Eigentum meines Vaters. »Ich möchte dich gesund und munter wiedersehen, wenn ich zurückkomme«, sagte ich ihr. »Ich würde es mir niemals verzeihen, falls du krank werden und sterben solltest, während du mir überallhin folgst.«
Aber das war noch nicht alles. Maia verabscheute meine Verkleidung nach wie vor. Ich wollte sie nicht zu sehr quälen, indem ich sie merken ließ, wie sehr ich diese Verkleidung genoß. Sie liebte das feine Benehmen, das Gefühl, zu einem großen Haus zu gehören und einer vornehmen Dame zu dienen. Was würde passieren, wenn ich sie in eine große Stadt mitnähme, wo ich als armer Student leben, mich in irgendeiner Wohnung einquartieren und bis spät in die Nacht hinein arbeiten würde? Wenn ich nur eine unter vielen wäre? Sie würde kreuzunglücklich sein und immer daran denken, wer wir einmal gewesen waren, und die Gegenwart hassen. Und ich würde unglücklich sein, wenn sie es war, das wußte ich genau. Und konnte ich ihr wirklich vertrauen? Auf ihre Treue konnte ich mich natürlich verlassen, aber konnte ich auch darauf bauen, daß sie den Nachbarn und Ladenbesitzern gegenüber keine Andeutungen machen würde, wir wären etwas Besseres, als es den Anschein habe, und daß sie, wenn sie nur wollte, ihnen erzählen könne… Sie würde es ihnen nicht erzählen. Doch sie würde den Wunsch verspüren, die Leute etwas vermuten zu lassen. Und wenn meine Verkleidung Erfolg haben sollte, dann konnte ich niemanden gebrauchen, der etwas vermutete oder ahnte. Ich mußte alles ändern: die Art, wie ich ging, die Art, wie ich saß – keine niedergeschlagenen Augen und gefalteten Hände mehr –, die Art, wie ich sprach. Das würde wohl das Schwierigste sein: immer daran zu denken, bei den Adjektiven die männliche Form zu benutzen, wenn ich von mir selbst sprach. Sonst würde mich jeder kleine Satz, wie zum Beispiel: »Ich bin hungrig« verraten. Wahrscheinlich wäre es besser, überhaupt keinen Sklaven zu haben und lieber jemanden dafür zu bezahlen, bei mir sauber zu machen und für mich zu kochen. Maia konnte mit Thorion nach Konstantinopel gehen.
Am Tag bevor die Halcyon segeln sollte, mußte Thorion meine Reisekiste zum Schiff hinunterbringen und an Bord schaffen lassen. Er hatte sie außerhalb der Stadtmauer in einer Höhle am Berg Pion versteckt, und es war keine große Angelegenheit, sie auf einen Esel zu laden, in die Stadt zu bringen und dann einen Träger zu besorgen, der sie auf das Schiff beförderte. Meine Bücher hatte ich bereits in ihr verstaut. Ich mußte also nur noch die Kleidung wechseln – und den Schmuck meiner Mutter verstecken. Dieser war mein Eigentum, und ich hatte vor, ihn zu verkaufen, um während meines Studiums meinen Lebensunterhalt damit zu bestreiten. Aber das wollte ich erst in Alexandria tun, wo niemand die Edelsteine erkennen würde.
In jener Nacht hatte ich große Angst, daß etwas passieren könnte: daß Festinus erschiene und verlange, mich auf der Stelle zu heiraten; daß das Schiff in einem Sturm sinke; daß Vater anordne, ich habe am nächsten Tag dort oder dort zu sein. Ich konnte nicht schlafen und lag die ganze Zeit da und starrte das Mondlicht auf der Wand meines Zimmers an, und es wurde mir bewußt, daß ich dieses Zimmer vielleicht nie wiedersehen würde. Als das Mondlicht auf Maias Bett fiel, sah ich, daß sie ebenfalls wach lag und zu mir herüberblickte, und so stand ich auf und kletterte in ihr Bett. »Ich werde dich so sehr vermissen, Maia«, flüsterte ich ihr ins Ohr, und sie umarmte mich. Nach ein paar Stunden schliefen wir beide wohl doch noch ein wenig.
An jenem Morgen hatte ich eine Unterrichtsstunde bei Ischyras. Ich hielt es kaum aus und war so unaufmerksam, daß mein Hauslehrer mich fragte, ob ich mich auch wohl fühlte. Ich sagte, ich hätte Kopfschmerzen. Die Halcyon sollte mit der Abendflut lossegeln. Wenn ich das Haus nach dem Mittagessen verließ, würde ich nicht vor dem Abendbrot vermißt werden, und dann wäre es bereits zu spät. Doch als es soweit war und wir beim Mittagessen saßen, brachte ich kaum einen Bissen herunter. Vater war ebenfalls da, und auch er fragte mich, ob ich krank sei. Ich murmelte wieder etwas von irgendwelchen Kopfschmerzen.
»Du siehst blaß aus, mein Liebling«, sagte Vater. »Möchtest du dich nicht etwas hinlegen? Soll ich einen Arzt rufen?«
»Oh, nein, nein!« erwiderte ich und riß mich zusammen. Ich versuchte krampfhaft, ihn anzulächeln. »Es ist nicht so schlimm. Ich glaube, ich werde ein bißchen im Garten Spazieren gehen: Das wird mir gut tun.«
Als ich endlich vom Eßtisch aufstehen konnte, ging ich in mein Zimmer hinauf und holte das Kästchen mit dem Schmuck meiner Mutter. Ich verstaute die einzelnen Stücke in meiner Kosmetiktasche, dann blickte ich mich um. Zum letzten Mal, dachte ich. Ich atmete einmal tief durch, dann verließ ich das Zimmer.
Durch den ersten Innenhof, durch den blauen Innenhof, an dem Badehaus vorbei, durch den Küchengarten zu der kleinen Pforte. An den Pferdeställen vorbei und hinein in die Felder. Philoxenos und die Stallburschen striegelten einige Pferde im Hof; sie winkten mir zu, und ich winkte zurück. Auf den Feldern leuchtete das frische, feuchte Frühlingsgras: eine grüne, mit roten Mohnblumen gesprenkelte Fläche. Ich raffte meine Röcke, rannte los und blickte mich nicht mehr um. Niemand hatte mich gefragt, wo ich hinging, und niemand würde sich irgendwelche Gedanken machen, bis mein Verschwinden endlich auffallen würde.
Thorion hatte mir erklärt, wie ich die Höhle finden konnte. Sie lag auf der nordöstlichen Seite des Hügels, in der Nähe der Stelle, an der während der Herrschaft des Kaisers Decius einige Märtyrer eingemauert worden waren. Dort gab es eine Öffnung im Felsen, und dort saß Maia und wartete auf mich. Als ich angerannt kam, stand sie auf und küßte mich, dann zog sie mich in die Höhle hinein. Sie war nicht groß – es war gerade genug Platz, um zu zweit darin zu stehen. In einer weiteren Vertiefung auf der rückwärtigen Seite hatte Thorion die Reisekiste und noch eine kleinere Kleidertruhe mit den für mich gekauften Männerkleidern versteckt.
Anfangs hatten wir geglaubt, ich könne vielleicht ein paar von seinen Sachen anziehen, doch selbst die Kleidungsstücke, aus denen er herausgewachsen war, waren viel zu weit in den Schultern und außerdem viel zu prächtig für einen Studenten der Medizin. Deshalb hatte er auf dem Markt einige gebrauchte Sachen gekauft: zwei Tunikas aus Leinen und eine dritte aus Wolle, allesamt aus grobem Gewebe und ziemlich abgetragen – außerdem gingen sie bis unterhalb der Knie, waren also von schicklicher Länge. Dabei waren sie sehr einfach und wiesen keinerlei Stickereien auf. Außerdem verfügte ich noch über einen guten, wollenen Reiseumhang, einen Hut, ein Paar Sandalen und Stiefel. Das meiste davon befand sich bereits auf dem Schiff, jedoch nicht die wollene Tunika, der Umhang, der Hut und die Stiefel.
»Zuerst einmal deine Haare«, sagte Maia, als ich mich über die Kleidertruhe hermachte. Ich setzte mich also in den schattigen Höhleneingang, und Maia holte die Scherblätter heraus. Von hier oben, vom Gipfel des Hügels aus, konnte ich meilenweit ins Land hinaussehen. Das Flußtal war eine einzige grüne Fläche, überall wuchs das junge Getreide heran, dazwischen schimmerte die rote Erde der ungepflasterten Wege. In einer Entfernung von einer Meile konnte ich weiß und golden den Tempel der Artemis leuchten sehen. Zu ihm führte das weiße Pflaster des heiligen Pfades. Ich fragte mich, ob Ägypten wohl ebenso schön wie Asien sei. Wahrscheinlich, dachte ich, war es vorwiegend auch eben. Ägypten war ja größtenteils eine Flußebene. Maias Scherblätter klapperten gleichmäßig. Die Haare rieselten meinen Rücken hinunter, und mein Kopf fühlte sich plötzlich leichter an. Lebt wohl, ihr künstlichen und ungeliebten Locken. Keine unnütze Zeit mehr, die beim Zurechtmachen der Haare sinnlos verschwendet wurde. Ich wußte, daß Maia sich davor gegraut hatte – ich hegte den Verdacht, sie weinte sogar wegen meiner langen schwarzen Locken –, doch ich versuchte, sie nicht anzusehen.
Maia hatte einen Krug Wasser mitgebracht, und ich wusch mein Gesicht und spülte die letzten Locken aus meinen Haaren heraus. Vor einem Monat hatten wir damit aufgehört, meine Augenbrauen zu zupfen. Meine Ohrläppchen waren natürlich durchstochen, aber so etwas war nichts Ungewöhnliches für Knaben. Bei einem von den Persern freigekauften Eunuchen würde dergleichen ganz gewiß nicht auffallen. Maia hatte auch eines jener Schnürleibchen mitgebracht, das bisweilen von Frauen getragen wird, wenn sie sich irgendwohin spazierenfahren lassen oder wenn sie ganz einfach nicht zu dick aussehen wollen, und sie half mir dabei, es anzulegen. Meine Brüste waren zum Glück sowieso klein. Mit dem Schnürleibchen würden sie überhaupt nicht zu sehen sein. Ich zog die Tunika über: Es war die wollene, sie war hellblau gefärbt und schon ziemlich ausgebleicht, so daß sie fast grau aussah. Ich wollte sie um meine Taille wickeln, doch Maia schüttelte den Kopf und befestigte sie um meine Hüften, um meiner Figur einen anderen Anstrich zu verleihen. Es war ein eigenartiges Gefühl, eine kurze Tunika zu tragen und die Luft um meine Beine herumstreichen zu fühlen. Der Umhang war von guter Qualität, warm und solide, aber durchgehend blau; keinerlei Muster und kein purpurfarbener Streifen. Maia händigte ihn mir aus, und ich streifte ihn mir über den Kopf und zog ihn seitlich wie einen Schal nach vorne, wobei ich darauf acht gab, die nicht mehr vorhandenen Locken zu schonen. Nein, so ging es nicht. Maia schüttelte erneut den Kopf, nahm den Umhang ab und befestigte ihn auf meiner rechten Schulter. Dann ließ sie ihn in Falten über den Rücken und über die Brust herunterfallen: so wie Männer ihn tragen.
Während sie mir die Stiefel zuschnürte, erschien Thorion. Er blieb vor der Höhle stehen und starrte uns an. Ich wartete, bis Maia fertig war, dann stand ich auf und trat in das Tageslicht hinaus, so daß er mich richtig sehen konnte. »Nun?« fragte ich.
Er bedachte mich mit einem äußerst merkwürdigen Blick, dann schlang er seine Arme um meinen Hals. »Oh, Charition«, sagte er und rang nach Atem. »Ich möchte dich gar nicht fortlassen.«
»Sehe ich nicht so aus, wie ich sollte?« fragte ich.
Thorion schüttelte den Kopf. Ich merkte, daß er weinte. Ich fühlte mich gar nicht wohl.
»Maia«, sagte ich. Sie weinte ebenfalls und reichte mir einen Spiegel.
Ein mageres, langes, schmales Gesicht mit einer langen Nase und einem breiten, dünnlippigen Mund; große, intelligente Augen, die eigenartig und wie losgelöst blickten; glatte, dunkle Haare, die über die Stirn fielen. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich in einen Spiegel und erblickte mich selbst. Nicht eine von jemand anderem angezogene Puppe, sondern mich selbst. Ich lächelte, und das Gesicht lächelte zurück. Nicht das Gesicht eines Jungen und nicht das Gesicht eines Mädchens. Leb wohl, Charis, dachte ich. Sei gegrüßt, Chariton aus Amida und Ephesus, ein Eunuch und Student der Heilkunst!
»Besser könnte es gar nicht sein«, sagte ich.
»Man erkennt dich überhaupt nicht mehr«, stöhnte Thorion.
»Ich bringe diesen Festinus um.«
»Er wird wahrscheinlich an Schlagfluß sterben«, meinte ich.
»Er ist cholerisch veranlagt und trinkt zuviel.« Ich lächelte Thorion zu. »Es wird schon schief gehen.«
Maia schüttelte den Kopf. Sorgfältig sammelte sie meine verstreut herumliegenden Kleider auf – die lange weißgelbe Tunika und den langen, weißgrünen Umhang mit seinem purpurfarbenen Streifen. Sie faltete die beiden Gewänder zusammen und legte sie in die kleine Kleidertruhe. »Sie ist aus Sandelholz«, sagte sie. »Sie ist sicherlich noch hier, wenn du zurückkommst.« Sie hob eine meiner Haarlocken auf, strich sie glatt, dann legte sie sie auf die Kleider. Thorion schob die Truhe in den hinteren Felsspalt zurück und häufte ein paar Steine davor auf, so daß nichts von ihr zu sehen war.
»Laßt uns für deine baldige Rückkehr beten«, sagte Maia. Wir ergriffen uns an den Händen und standen eingezwängt in der Höhle. Maia betete. Mein Kopf fühlte sich leicht und leer an, und ihre Worte bedeuteten mir nichts. Eine baldige Rückkehr? Hoffentlich nicht allzu bald. Ich hieß von nun an Chariton, und Chariton, das spürte ich, hatte ein interessanteres Leben vor sich als Charis.
Wir traten wieder an das Licht der Sonne hinaus und gingen auf die andere Seite des Hügels. Ephesus lag zu unseren Füßen. Die grüne Kuppel unseres Festsaales ragte ganz in der Nähe aus dem Meer der Dächer heraus, zu unserer Linken konnte man die rote Erde der Pferderennbahn erkennen. Rechts unter uns war das Theater zu sehen, davor die weißgepflasterte Hafenstraße, die von ihm zum Meer hinunterführte. Sie war von den farbigen Vorhängen der Läden gesäumt.
Im Hafenbecken hatten einige Schiffe festgemacht, und wir konnten das geschäftige Treiben dort unten auf einem der Segelschiffe beobachten. Es war ein großes Schiff mit orangefarbenen und gelben Segeln. Von dieser Höhe aus sah das Wasser des Hafens braun und schmutzig aus, aber dahinter leuchtete hell das offene Meer und löste sich weit draußen im gleißenden Sonnenlicht auf.
»Also«, sagte Thorion und schluckte. »Leb wohl.«
»Leb wohl.« Ich umarmte zuerst ihn, dann Maia. »Ich schreibe euch. Ich werde zwar ein bißchen warten müssen, aber ich werde euch schreiben, wenn ihr in Konstantinopel seid.«
Sie umarmten mich ihrerseits, wobei Maia mich nur widerwillig losließ. Dann begann ich, mit festen Schritten den Hügel hinunterzugehen. Ich würde durch das Haupttor gehen und dann zum Hafen hinunter. Thorion und Maia würden durch die Pforte zurückgehen, und sie würden versuchen, den Anschein zu erwecken, als seien sie den ganzen Nachmittag über zu Hause gewesen.
Ich ging etwa hundert Schritte, dann blickte ich mich um, aber sie hatten sich bereits auf den Weg gemacht, und ich sah sie nur noch von hinten, wie sie langsam nach Hause wanderten. Ich warf einen Blick auf das Schiff mit den orangefarbenen Segeln im Hafen. »… unten im Hafen warten die griechischen Schiffe«, dachte ich. Aber nein, das gehörte nicht hierher. Ich wollte mich lieber an einen anderen Chor aus einem anderen Stück erinnern:
… auf den weiten Wogen, Drehen die Falleinen die Segel dem Wind entgegen, Und der Bug des schnellen Schiffes schießt herum. Blitzschnell wie ein Kurier werde ich dort sein, Wo der Strahl der Sonne die Welt in Flammen setzt.
Denn ich ging nicht der Sklaverei entgegen, sondern der Freiheit.