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Am nächsten Morgen traf ich Philon am Tempel, so wie wir es vereinbart hatten. Als er mich sah, machte auch er einen etwas unsicheren Eindruck, aber er hieß mich höflich willkommen, und wir begannen seinen Rundgang.
Philons Patienten waren in der Hauptsache Juden, aber es gab auch vereinzelt Griechen und Ägypter aus der Unterklasse. Wir kamen auf unserem Weg in eine Anzahl schmalbrüstiger Häuser und Wohnquartiere, von denen einige im Südosten der Stadt an die Rückseite winziger Läden angebaut waren. Da gab es zum Beispiel einen Schiffszimmermann, der sich von einem heimtückischen Fieber erholte; die kleine Tochter eines Kopisten mit Ohrenschmerzen; die Frau eines Badewärters mit einem gebrochenen Schlüsselbein. »Ich fürchte, es ist keiner dabei, den man vornehm nennen könnte«, sagte Philon mit einem Lächeln zu mir. »Ich bin kein Modearzt. Dafür bin ich aber auch nicht teuer!« Sorgfältig war er darauf bedacht, mich mit den Patienten bekannt zu machen, und bat mich, alles Wichtige in seinem Patientenbuch zu notieren. Dadurch würde ich lernen, mir zu merken, woran jeder Patient gelitten und was Philon für ihn getan hatte. Er war freundlich und gewissenhaft, benutzte mit äußerster Umsicht eine große Anzahl ganz verschiedenartiger Arzneimittel, vermied jedoch Aderlässe und Abführmittel. Er nahm sich Zeit für jeden Patienten, beantwortete ihre Fragen und erklärte, was er tat.
Die vierte oder fünfte Patientin, die wir an jenem Vormittag besuchten, war die Frau eines Kupferschmiedes, die sich von einer Kindsgeburt erholte. Über der Tür des Hauses hingen Lorbeerzweige und ein wenig Fingerkraut als Zauber gegen den bösen Blick, und neben der jüdischen Schriftrolle der mosaischen Gesetze war ein Talisman befestigt. Philon sah den Zauber und runzelte mißbilligend die Stirn. Die Haussklavin, eine verschrumpelte alte Frau, ließ uns ein, und noch bevor Philon seinen Fuß über die Türschwelle gesetzt hatte, erzählte sie ihm bereits: »Der Herrin geht es schlechter, viel schlechter, und das Baby ist ebenfalls krank, das arme Ding. Es ist ganz gelb.«
»Ein oder zwei Tage nach der Geburt ist das gar nichts Besonderes«, sagte Philon energisch und trat ein, um die Patientin zu untersuchen.
In dem Haus roch es nach Räucherwerk, das von einem eigenartig beißenden Geruch überlagert wurde – wahrscheinlich verbrannte Haare und irgendwelche Pflanzen. Die Frau lag im Bett, sie hatte Fieber und eine ungesunde rote Farbe. Sie trug einen Talisman um ihren Hals und hatte ein Messer unter dem Kissen, um Teufel abzuwehren.
Philon lächelte, stellte mich vor und untersuchte die Patientin. Er reinigte ihr Gesicht mit einer Lösung aus Essig und Myrrhe und gab ihr eine Tinktur aus Opium und kretischem Diptam in Wein zu trinken. Er sah nach dem Säugling, der etwas gelblich war und fest schlief, ebenfalls mit einem Talisman um den Hals. Philon nahm ihn ab, dann nahm er auch denjenigen der Frau an sich. »Diese Dinger sind nicht gut«, meinte er fröhlich. »Es ist heidnisches Zeug, ganz bestimmt nichts für eine Jüdin. Du solltest nicht solchen Dingen vertrauen, sondern dem Gesetz des Moses. Jüdische Teufel scheren sich einen Dreck um solches Zeugs. Glaubst du wirklich, Lilith interessiert sich dafür, was Isis sagt? Was du brauchst, gute Frau, ist eine Schriftrolle des Gesetzes. Binde sie mit Leinenstreifen um deinen Bauch, und bitte deinen Mann, dir die Psalmen vorzusingen, während du Räucherwerk verbrennst. Du brauchst dir auch keine Sorgen wegen deiner kleinen Tochter zu machen: Solch eine leichte Gelbsucht ist nichts Besonderes. Stille sie möglichst oft, und gib ihr eventuell auch noch etwas abgekochtes Wasser zu trinken, dann wird die gelbe Farbe schnell verschwinden. Du mußt nur die richtigen Gebete sagen und das Räucherwerk verbrennen.«
Die Frau sah jetzt nicht mehr ganz so unglücklich aus und nickte. Philon ging hinaus und nahm die Talismane mit. Er riß den übrigen Zauber von der Tür und warf alles zusammen in den öffentlichen Abwasserkanal. »Da gehören sie hin«, sagte er ärgerlich. »Ich wollte, der Bursche, der das hier auf dem Gewissen hat, landete ebenfalls dort.« Als er meine Überraschung bemerkte, fügte er hinzu: »Er ist einer unserer Zauberer hier in Alexandria. Wir haben einen ganzen Haufen davon. Dieser hier hat sich auf Kindbettfieber spezialisiert. Hast du etwas gerochen?«
»Verbrannte Haare und… noch etwas.«
»Die Haare gehörten der Frau und das ›Noch-etwas‹ war ein Stück Papyrus, das mit dem Blut der Frau beschrieben war. Es ist die erste Stufe des Zaubers. Wenn sie nicht wirkt, schneidet der Mann dem Säugling einen Finger ab, um den Teufel, der das Leben des Kindes bedroht, zu beruhigen. Er hat jedoch keine Ahnung von Hygiene: So ein Schnitt infiziert sich für gewöhnlich, und das Kind endet als Krüppel – falls es überhaupt überlebt. Außerdem verbrennt der Kerl gerne irgend etwas. Die vielen Leute, die er schon getötet hat!« seufzte Philon. »Nun ja, die Ägypter sind der Magie äußerst zugetan und haben mit dieser Vorliebe einige Juden angesteckt. Aber ich hoffe, unsere Patientin wird es für diesmal dabei bewenden lassen.«
»Was hast du ihr denn da erzählt, was sie tun soll?«
Er lächelte ein wenig kleinlaut: »Etwas, was für einen Anhänger des Hippokrates eine Schande ist. Aber sie wollte ja unbedingt etwas Magie. Die hippokratische Medizin kann so wenig versprechen. Wir sagen immer, überlaß nur alles der Weisheit des Körpers: Dein Körper wird sich erholen, wenn er kann. Aber inzwischen leidet die Frau, sie hat starke Schmerzen und schreckliche Angst. Ein Zauberer taucht auf und sagt: ›Ich kann dich heilen‹, und das ist mehr, als der Arzt ihr versprochen hat, und so hört sie auf ihn. Nun ja, ich habe ihr meine Art Talisman gegeben, um sie nicht unglücklich zu machen, und wenn er sie beruhigt, dann wird ihr schon allein das helfen.«
Er machte sich zum nächsten Patienten auf den Weg, und ich folgte ihm langsam und äußerst nachdenklich. Das alles unterschied sich doch sehr von den hippokratischen Methoden, von denen ich gelesen hatte. Philon sah sich um, dann blieb er stehen, damit ich ihn einholen konnte.
»Die Praxis unterscheidet sich eben von der Theorie«, meinte ich und entschuldigte mich damit für meine Bummelei.
Er lächelte: »Da hast du bereits etwas gelernt, was die Hälfte der Ärzte im Tempel nicht wissen.«
Ich lächelte meinerseits und fragte ihn: »Hast du denn überhaupt eine Theorie, nach der du arbeitest?«
Er wurde ernst und zuckte die Achseln. »Nicht unbedingt. Ich bin kein Anhänger von Galen oder sonst einer bestimmten Lehre und auch kein Allopath – die Professoren oben auf dem Tempel haben mehr Theorien als ein Hund Flöhe, und ich kann sie unmöglich alle kennen und sie dir sicherlich auch nicht beibringen. Aber ich kann praktizieren. Einige werden dir erzählen, wenn man einen Patienten ohne eine bestimmte Theorie behandeln will, nur mit einem Messer in der einen und einem Arzneimittel in der anderen Hand, könne man genauso gut im Nebel herumstochern. Aber meiner Ansicht nach ist keine der Theorien wirklich hieb und stichfest, und man muß sich so gut wie irgend möglich im Nebel vorantasten. Man darf nur nicht vergessen, daß man sich mitten im Nebel befindet. Ich versuche, die Symptome zu behandeln, dem Patienten Mut zuzusprechen und dem Körper dabei behilflich zu sein, sich selbst zu heilen. Ich kann dir ein paar Dinge beibringen, mit denen ich Erfolg hatte, aber keine großen Geheimnisse.«
»Das klingt sehr nach Hippokrates.«
»Hippokrates wußte weniger als Galen, aber er verstand mehr. Das glaube ich zumindest.« Das Lächeln erschien erneut. »Wir müssen uns beeilen: Ich habe noch einen Patienten, der mich erwartet.«
Nachdem ich eine Woche lang mit Philon gearbeitet hatte, war ich froh darüber, daß die angeseheneren Ärzte mich abgewiesen hatten, denn ich hätte keinen besseren Lehrmeister finden können. Er entsprach meinem Ideal von einem wirklichen Hippokratiker: gelehrt, unvoreingenommen, ein methodischer Beobachter – außerdem selbstlos, großzügig und freundlich. Die ärmeren Patienten behandelte er aus reiner Nächstenliebe, und er nahm keine Kupfermünze von jemandem, der es sich nicht leisten konnte. Er tat es, wie er sich ausdrückte, »aus Liebe zu Gott«, und da die meisten Patienten, die er auf dieser Basis annahm, Ägypter, Christen oder Heiden waren, Leute, die den Juden gegenüber normalerweise nur Verachtung hatten, war seine Großzügigkeit erstaunlich. Außerdem war er ein guter Lehrer: Er liebte es, die Dinge zu erklären, und nahm sich wirklich Zeit für mich. Und es freute ihn, wenn ich durchdachte Fragen stellte. Auch er schien inzwischen glücklicher zu sein mit mir und gab seine frühere, recht zurückhaltende Art auf. Er nannte mich Chariton statt »geschätzter Herr«, und gelegentlich entfuhren ihm sarkastische Bemerkungen oder spöttische Scherze über seine Patienten wie: »Der da möchte gerne gelobt werden, daß er so gut spucken kann« oder »Nimm ihre Symptome nicht so ernst, mein Junge – sie hat das bloß wegen deiner schönen Augen gesagt!« Er schlug vor, ich solle mir doch ein Quartier in größerer Nähe seines Hauses suchen, um nicht jeden Morgen den weiten Weg vom Hafen herauf bis zu unserem Treffpunkt machen zu müssen.
Ich fragte ihn, ob er ein Haus ohne Flöhe kenne. »Irgend etwas, wo ich ein Bad nehmen kann«, sagte ich. »Ich mag die öffentlichen Bäder nicht benutzen und fühle mich allmählich wie ein Mönch aus der entferntesten Wüste.«
Philon lachte und sah mich dann verlegen an. »Wir haben ein unbenutztes Zimmer in meinem Haus«, meinte er. »Es ist klein und liegt im dritten Stock. Außerdem ist es ziemlich einfach, aber wenn du möchtest…«
»Würde es dir denn nichts ausmachen? Das heißt, würde es deiner Frau nichts ausmachen, einen Fremden bei sich aufzunehmen, einen Christen und noch dazu einen Eunuchen?«
»O nein, nein! Sie ist eine gute Frau – wie die Psalmisten sagen: ›Mehr wert als Edelsteine.‹ Ich habe ihr von dir erzählt; sie möchte dich sowieso kennenlernen.«
So nahm mich Philon an jenem Nachmittag mit zu sich nach Hause und stellte mich seiner Familie vor: seine Frau, die den fremdartig klingenden jüdischen Namen Deborah hatte; seiner vierzehn Jahre alten Tochter, die den eher geläufigen griechischen Namen Theophila hatte; und seinen beiden Sklaven, Harpokration und Apollonia. Die Sklaven waren Heiden. Ich stellte fest, daß die Juden dies ziemlich häufig so handhaben, da die mosaischen Gesetze von ihnen verlangen, jeden jüdischen Sklaven nach sieben Jahren freizulassen. Philon hatte auch noch einen Sohn, aber dieser junge Mann weilte in Tiberias, um dort das jüdische Gesetz zu studieren. Philon verkündete allen, daß ich bei ihnen wohnen würde. Sie machten einen einigermaßen überraschten Eindruck, erhoben aber keinen Einwand, und Harpokration, ein kräftiger Mann mittleren Alters, der die Göttin Isis anbetete, wurde beauftragt, mir beim Holen meiner Sachen zu helfen.
Philons Haus lag in der Nähe der neuen Stadtmauer, südlich der Via Canopica. Es war ein schmales Haus, nicht breiter als zwei Zimmer, hatte allerdings drei Geschosse. Mein Zimmer lag im dritten Stockwerk, unter dem Dach, und das Fenster ging auf das nebenan liegende Haus. Von ferne kam der Geruch vom Hafen herüber.
Der Mareotis-See hat einen Zufluß, der vom Sonnentor und vom Canopica-Kanal kommt und den See mit dem Nil verbindet. An heißen, windstillen Tagen war der Gestank nach Kot und Hafenabwässern überwältigend. Hippokrates sagt, stehende Gewässer seien sehr schlecht für die Gesundheit, und diejenigen, die es trinken, bekämen die Wassersucht und litten an Magenkrankheiten. Die Menschen dieses Viertels tranken das Wasser aus dem Kanal zwar kaum einmal, und das Wasser des Sees ist sowieso brackig und ungenießbar, aber sie schienen trotzdem öfter mit Fieber und Infektionen geschlagen zu sein als Leute, die in den anderen Stadtteilen wohnten. Alles in allem unterschied sich das Haus wirklich sehr von Vaters Haus in Ephesus.
Doch davon einmal abgesehen, lag es in einer sonst recht hübschen Ecke Alexandrias. Der alte, dem Gott Pan geweihte Park befand sich nur ein paar Häuserblocks entfernt, und dort, wo unsere Straße die Via Canopica kreuzte, lag ein öffentlicher Brunnen. Ich mochte das Haus und die Familie sehr gern. Ich zahlte Philon vier Solidi Miete jährlich. Dies schloß das Wasser ein, das Apollonia mir aus dem öffentlichen Brunnen holte, sowie ein Kohlenbecken, um das Zimmer im Winter zu heizen. Ja sogar meine Wäsche wurde dafür zusammen mit den übrigen Sachen aus dem Haushalt gewaschen. Weitere zwei Solidi zahlte ich für Lebensmittel, da ich die meisten Mahlzeiten mit der Familie zusammen einnahm.
Inzwischen hatte ich genug Geld, da Philon auch noch jemanden gefunden hatte, der mir meinen Schmuck abkaufte – einen alten jüdischen Händler, der im Deltaviertel, das heißt, in dem, was von ihm noch übriggeblieben war, wohnte. Auch er fragte mich zuerst, warum ich die Steine verkaufen wolle, da sie doch meiner Mutter gehört hatten. »Ich kann weder Frau noch Tochter haben, die sie tragen könnten«, antwortete ich. »Ich glaube, meine Mutter würde es mir nicht verübeln, wenn ich mit ihrer Hilfe meine Ausbildung bezahle.« Der alte Mann nickte, murmelte etwas und bot mir einen derart guten Preis an, daß ich beinahe beschämt war, ihn anzunehmen. Dabei verkaufte ich vorerst nur ein paar Ohrringe. Sie hatten Perlen und waren mit Saphiren besetzt, und der alte Mann bezahlte mir 68 Solidi für sie – genug, um jahrelang davon leben zu können, zumindest auf die Weise, wie ich in Alexandria lebte.
Ich hatte den Eindruck, mein ganzes Leben lang, jedenfalls bis zu meiner Ankunft in Alexandria, noch nichts getan zu haben. Es war fast so, als habe ich vorher gar nicht existiert. Nur ganz zu Anfang vermißte ich die Bequemlichkeiten von zu Hause, dann vergaß ich sie bei all meinem Glück bald völlig. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, so glücklich zu sein. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, dachte ich: Ich bin in Alexandria! Und es war so, als beginne mein ganzer Körper zu singen.
Für gewöhnlich stand ich vor Morgengrauen auf – wegen der Hitze tut das im Sommer jeder Ägypter. Ich wusch mich in dem ersten fahlen Licht, das durch die Fensterläden drang. Während ich mich über eine Schüssel beugte und mich mit lauwarmem Wasser bespritzte, drangen von der Straße unten die Geräusche der Karren und Lastkamele herauf, die vollgepackt mit Waren zum Markt zogen, und die Stimmen der Frauen, die ihre Tagesration Wasser aus dem öffentlichen Brunnen holten. Für unseren Haushalt besorgte dies die Sklavin Apollonia. Ich begegnete ihr für gewöhnlich in der Küche, wenn ich die Treppe hinunterging. Wir wünschten uns gegenseitig einen guten Morgen, und ich holte mir einen Fladen Kümmelbrot aus der Küche und aß ihn auf dem Weg zum Tempel. Wenn ich aus der Tür von Philons Haus trat, herrschte immer noch das fahle Licht der Morgendämmerung, doch die Straßen waren bereits bevölkert. Ehrbare Männer und Frauen eilten zur Arbeit; Schuljungen stürmten die Straßen hinunter und brüllten sich gegenseitig etwas zu oder gingen brav neben einem der Sklaven ihrer Familie her, die die kleinen Herren zu ihrer täglichen Portion Homer begleiteten. Auf der Via Canopica öffneten die Läden. Bäcker häuften auf langen Tischen vor ihren Läden duftende Laibe frischen Brots auf, das sie während der Kühle der Nacht gebacken hatten; Fleischhändler stellten junge Ziegen mit zusammengebundenen Beinen und geflochtene Weidenkäfige voller Küken auf die Straße; Barbiere wetzten ihre Rasiermesser und hielten Ausschau nach Kunden; Bauern vom Land ließen sich am Straßenrand nieder, breiteten ihre frischen Früchte oder grünen Kräuter zum Verkauf aus und priesen den Passanten in einem nasalen Singsang ihre Waren an. Die verhüllten Sänften und Tragsessel der Reichen segelten über den Köpfen der gemeinen Menge wie Schiffe auf der rauhen See. Ich konnte mir kaum mehr vorstellen, daß ich daran gewöhnt gewesen war, mich in einer von ihnen fortzubewegen. Ich bahnte mir meinen Weg über den Somaplatz, wo in den umliegenden Ruinen Vögel sangen. Dann hielt ich einen Augenblick inne und blickte mich um: Wenn ich die richtige Zeit erwischt hatte, konnte ich sehen, wie sich die Morgenröte vom Sonnentor aus die breite Via Canopica hinunter ergoß und die wuchtigen Baumassen der öffentlichen Gebäude in ihr grelles Licht tauchte, so daß sich Menschen und Tiere überdeutlich wie die Figuren eines Gemäldes von ihnen abhoben. Wenn ich dann am Tempel ankam, war die Sonne über die grüne Ebene des Deltas emporgeklettert: Vom Torweg aus konnte ich die ganze große Stadt überblicken, ein riesiger, glitzernder Edelstein am Ufer des blau schimmernden Meeres.
Ich verbrachte den frühen Vormittag im Tempel, besuchte Vorlesungen und diskutierte mit den anderen Medizinstudenten. Es gab etwa hundert von ihnen, und sie kamen von überallher aus dem Ostreich, obwohl die meisten wahrscheinlich Alexandriner waren. Während der ersten paar Wochen hielt ich mich bei den Diskussionen zurück, da mich ihr Wissen nach wie vor einschüchterte. Ihrerseits neigten sowohl die Studenten als auch die Vortragenden dazu, hämisch über mich zu grinsen. Es war offensichtlich, daß sie mich für einen verweichlichten asiatischen Eunuchen hielten, der sich einbildete, ein Arzt werden zu müssen. Sie erwarteten alle miteinander, daß ich bald aufgeben und nach Hause gehen würde, besonders, da Philon dafür bekannt war, »wie ein Sklave« zu arbeiten. Anfang Juni jedoch machte einer der Studenten, ein sehr gesprächiger junger Mann aus Antiochia, lauthals eine Bemerkung, bei der er die Methode, Verrenkungen zu behandeln, mit derjenigen für Muskelzerrungen verwechselte. Da niemand sonst etwas dazu sagte, wies ich nach einigem Zögern sehr zurückhaltend darauf hin, daß mein geschätzter Gesprächspartner wohl einem Irrtum erlegen sei, und zitierte aus einer Schrift des Hippokrates. Der andere machte einen verlegenen Eindruck, die übrigen Studenten feixten, und der Vortragende war überrascht und zollte mir Beifall. Mir wurde klar, daß keiner der übrigen Studenten das in Frage stehende Werk gelesen hatte. Ich konnte also ruhig ebenso frei heraus reden wie irgendeiner von ihnen und brauchte nicht mehr aus Angst, mich lächerlich zu machen, den Mund zu halten. Nach diesem Vorfall machte ich immer öfter diese oder jene Bemerkung oder stellte irgendwelche Fragen, und die anderen begannen allmählich mich ernst zu nehmen. Einige mochten mich noch weniger als zuvor, da ich plötzlich ein Rivale war und keinen Anlaß mehr zum Scherzen bot, doch andere fingen an, mich mit größerer Hochachtung zu betrachten. »Und was hätte Hippokrates dazu gesagt?« pflegte Adamantios seine Zuhörerschaft zu fragen. Und dabei sah er mich erwartungsvoll an.
Am späten Vormittag ging ich dann in die Stadt hinunter, um Philon zu treffen. Wir verabredeten uns gewöhnlich auf dem Somaplatz, an einer Säule mit einem in Stein gemeißelten Delphin. Ein Lächeln und ein Wort zur Begrüßung, dann ergriff ich seine Arzttasche, und wir machten uns auf den Weg zu seinen Patienten und diskutierten im Gehen medizinische Probleme. Bisweilen luden uns die Patienten zum Mittagessen ein; bisweilen kauften wir in einem Laden oder bei einem Straßenhändler etwas Wein und Brot oder Früchte. Philon arbeitete den ganzen Nachmittag, sogar während der heißen Mittagsstunden, wenn die meisten Leute schliefen: Er meinte, die Menschen fühlten sich um diese Zeit oft am schlechtesten. Außerdem verbrachte er seine Abende gerne zu Hause mit seiner Familie. Wir waren stets vor Sonnenuntergang zu Hause. Im Hauptraum des Hauses mit seinem gelbgefliesten Fußboden und dem abgenutzten Eichentisch nahmen wir eine einfache Mahlzeit ein, sprachen über medizinische Probleme, über die Patienten oder den Klatsch aus der Nachbarschaft. Nach dem Abendbrot pflegten Philon und seine Familie einige Gebete zu sprechen und in den Büchern Moses zu lesen. Nach den ersten paar Wochen ging ich dann hinauf in mein Zimmer und las medizinische Texte oder bereitete irgendwelche Arzneien vor, die Philon am nächsten Tag brauchte. Anfangs erschöpfte mich dieses Leben sehr. Mehrere Wochen hindurch war ich unfähig, am Abend auch nur das geringste zu tun, außer in mein Zimmer hinaufzugehen, die Tür zu verriegeln und auf das Bett niederzusinken. Ich glaube, Adamantios und die Spötter im Tempel hatten recht: Es war Schwerstarbeit, und jemand, der so etwas nicht gewohnt war, war schlecht beraten, sich darauf einzulassen. Allerdings kam es mir nicht so vor wie Arbeit. Sich den ganzen Tag lang, von der Morgendämmerung bis spät in die Nacht hinein, mit nichts anderem zu beschäftigen als mit der Kunst des Heilens – das war der Gipfel der Freude und keine Arbeit. Das Gefühl der Müdigkeit verschwand, sobald ich mich an mein neues Leben gewöhnt hatte, nicht aber das Glücksgefühl. Ich hatte vorher gar nicht bemerkt, wie eingeschränkt mein früheres Leben gewesen war. Ich hatte niemals selbständig die Straßen hinunterspazieren oder mein eigenes Geld ausgeben, ja nicht einmal einfache Dinge selbständig entscheiden können, wie zum Beispiel, was ich lesen oder anziehen oder zum Mittagessen zu mir nehmen wollte. Jede Einzelheit war mir vorgeschrieben worden. Jetzt war der Geschmack der Freiheit um so köstlicher.
Der Sommer schien jahrelang zu dauern: Ich lernte so viel, veränderte mich so sehr. Es schien mir ganz natürlich, an mich selbst als an einen Mann zu denken, und in den Vorlesungsräumen des Tempels verlor ich allmählich den letzten Rest meiner mädchenhaften Bescheidenheit. Wie wild kaufte und las ich Bücher. Einige handelten von den verschiedenen medizinischen Theorien, aber diese waren im großen und ganzen nicht sehr hilfreich. Wenn der eine Schriftsteller behauptete, Krankheit sei das Ungleichgewicht im Verhältnis der vier Körpersäfte und diese seien Blut, Schleim, schwarze Galle und gelbe Galle, so stimmte ein anderer mit diesem vielleicht in bezug auf die Krankheit überein, war jedoch, was die vier Körpersäfte anbetraf, anderer Meinung. Ein dritter vertrat eine vollkommen entgegengesetzte Ansicht und behauptete, Krankheiten würden durch ein Mißverhältnis zwischen Nahrungsaufnahme und Ausscheidung hervorgerufen. Doch wenn man ganz konkret mit einem wirklichen Patienten konfrontiert ist, der wirklich krank ist und schwitzend und bleich vor einem liegt, ist nichts davon auch nur im geringsten hilfreich. Ich war mit Philon einer Meinung, daß der Praxis eine höhere Wahrheit innewohnt als allen Theorien, und deshalb konzentrierte ich meine Bemühungen darauf, praktische Erfahrungen zu sammeln.
Ich studierte die Heilkräuter und stellte in ihrem Zusammenhang viele Fragen. Auf dem Gebiet der Arzneien fühlte ich mich am hilflosesten, da ich noch nichts über sie wußte. Eine meiner Pflichten als Philons Assistent bestand darin, die verschiedensten Medizinen vorzubereiten. Diese Aufgabe war in Alexandria sicherlich einfacher als in den meisten anderen Städten. Ich benutzte natürlich auch die Kräuter in den Tempelgärten, aber diejenigen, die wir am häufigsten brauchten, konnten wir auf dem Markt kaufen, und zwar bereits fertig zubereitet in kleinen Kästchen oder in Flaschen. So mußten wir nicht auf die richtige Jahreszeit warten oder das Mark herauspulen oder den Saft herauskochen oder in die Berge hinaufwandern, um nach der richtigen Wurzel zu suchen. Wir mischten die Präparate einfach mit der erforderlichen Menge Wein, Essig oder Öl und versuchten, die richtige Dosis für den Patienten abzuschätzen. Ob es sich nun um Enzian oder Schierling handelte, um Myrrhe, Krokus oder Kassiaschote, um Opium, griechische Veilchen oder Zedernöl – in Alexandria konnte man jedes Heilkraut auf dem Kräutermarkt kaufen. Das meiste davon waren Arzneien, von denen Hippokrates nie gehört hatte. Wir wissen mehr über den Körper und die Natur als er. Aber es war genauso, wie Philon sagte, er verstand mehr, als er wußte. Ich fand seine Methoden und seine forschende Geisteshaltung weit eindrucksvoller als den engstirnigen Standpunkt mancher späterer Schriftsteller. Und die Frage:
»Was hätte Hippokrates wohl getan?« war es stets wert, gestellt zu werden. Ich jedenfalls war allmählich dafür berüchtigt, sie dauernd zu stellen. Meine Kommilitonen am Tempel fingen jedesmal an, über mich zu lachen, wenn die Frage kam, aber schließlich hörten sie mit ihrem hämischen Grinsen auf und fragten mich immer öfter um meine Meinung.
Anfang August sezierte Adamantios einen menschlichen Körper. Dies war ungewöhnlich, selbst in Alexandria, wo derartige Untersuchungen eine gewisse Tradition hatten. Die Behörden argwöhnten stets, ein derartiges Sezieren hätte etwas mit Zauberei zu tun – obwohl ich sagen muß, daß magische Praktiken, die in Ephesus die Todesstrafe zur Folge gehabt hätten, in Ägypten offen ausgeübt wurden. Deshalb verstehe ich nicht, warum sich überhaupt jemand darüber aufregte, wenn Leichen medizinisch korrekt seziert wurden. Die hippokratische Tradition stand schon immer in scharfem Gegensatz zu jedweder Magie. Doch die Behörden machten eben manchmal ein Getue. Außerdem ist es schwierig, einen geeigneten Leichnam zu finden, so daß nicht so häufig seziert wird, wie man sich das wünschen könnte. Jedesmal wenn es einem der Professoren des Museums gelang, eine Leichenöffnung zu arrangieren, versuchten sämtliche Studenten wie wild einen Platz in der Nähe des Seziertisches zu erobern, um alles mitzubekommen. Adamantios hatte fünf Assistenten, und sie bekamen natürlich die besten Plätze. Doch schon die zweitbesten Plätze verursachten beträchtliche Machenschaften und ein fürchterliches Geschubse zwischen den übrigen. Ich landete schließlich ganz hinten, in der Nähe der Wand, wo ich überhaupt nichts sehen konnte. Doch bevor Adamantios sein Messer ansetzte, blickte er einmal in die Runde und bemerkte mich. »Chariton«, rief er, »kannst du von dort aus etwas sehen?«
Ich gab zu, daß ich fast nichts sah.
»Dann komm nach vorne«, forderte Adamantios mich auf.
»Du bist neu hier und hast so etwas bisher noch nie gesehen. Und du wirst einen besseren Gebrauch von dem Gesehenen machen können als der größte Teil des Haufens hier.«
»Der größte Teil des Haufens« stöhnte gemeinsam auf: Einige sahen richtig wütend aus – aber sie machten mir Platz. Ich traute mich kaum zu atmen. Ich spürte, daß mir niemals ein größeres Kompliment gemacht worden war, bahnte mir einen Weg nach vorne und beobachtete alles, so als hinge mein Leben davon ab. Als Adamantios sein Messer an dem Leichnam ansetzte (es war der einer älteren Frau; ich glaube, sie war die Sklavin eines Freundes von ihm gewesen), fühlte ich mich ein bißchen flau, aber schon bald dachte ich nicht mehr darüber nach. Der menschliche Körper ist ein Rätsel, ein Geheimnis und ein Wunder zugleich, und ich war von ihm vollkommen in den Bann gezogen. Adamantios arbeitete langsam, erklärte alles, fragte und beantwortete Fragen, während er mit dem Sezieren fortfuhr. Der Magen und die Verdauungsorgane, die Leber, das Zwerchfell, die Lungen, das Herz…
An dieser Stelle fiel einer von Adamantios’ Studenten in Ohnmacht – es war der junge Mann aus Antiochia. Adamantios legte sein Messer zur Seite und sah verärgert aus, dann kam er um den Seziertisch herum und verscheuchte die anderen Studenten. »Laßt ihn in Ruhe atmen!« sagte er. Er richtete den jungen Mann in eine sitzende Position auf und prüfte, ob seine Atmung irgendwie beengt war. Dann legte er den Kopf des Studenten in seinen Schoß. Einen Augenblick später konnte man ein Stöhnen vernehmen, und der Kopf des Studenten kam wieder hoch.
»Es ist sehr heiß und voll hier drin«, sagte Adamantios taktvoll. »Warum setzt du dich nicht eine Weile nach draußen neben den Brunnen, bis du dich besser fühlst?«
Der Student aus Antiochia – ich erinnerte mich daran, daß er Theogenes hieß – blinzelte, blickte beschämt, rappelte sich auf und machte sich davon. Adamantios ging wieder um den Tisch herum und fuhr mit dem Sezieren fort.
Ich mußte gehen, bevor Adamantios seine Arbeit beendet hatte: Ich war noch vor dem Mittagessen mit Philon verabredet. Als ich den Tempelhof durchquerte, saß Theogenes immer noch neben dem Brunnen und starrte niedergeschlagen ins Wasser. Als er meine Schritte hörte, blickte er auf. Dann rief er: »He! Chariton! Sind sie fertig da drinnen?«
»Fast«, antwortete ich und blieb stehen. »Als ich ging, nahm er gerade allgemeine Fragen durch.«
»Ich habe mich wie ein Narr aufgeführt, findest du nicht?« sagte Theogenes und grinste. Er hatte ein angenehmes Lächeln, seine Zähne waren weiß, und er war stets gut gelaunt. Er war ein großer, schlanker junger Mann mit dichten schwarzen Locken und braunen Augen. Wenn er sprach, fuchtelte er viel mit seinen Händen herum und lächelte oft. »Es war das erstemal, daß ich da dabei war – aber bei dir war es ja auch das erstemal, nicht wahr? Und ich habe schließlich von Kindesbeinen an von solchen Dingen gehört, also habe ich überhaupt keine Entschuldigung. Hattest du kein flaues Gefühl im Magen?«
»Am Anfang schon«, gab ich zu. »Aber ich würde mir deswegen keine Gedanken machen; es war sehr heiß da drinnen, und die vielen Leute haben einem die ganze Luft zum Atmen genommen.«
»Genau, nicht wahr? Bei der Art, wie jedermann alle Anstrengungen unternahm, etwas zu sehen, hätte man meinen können, bei einem Wagenrennen zu sein. ›Schneller, Grüne!‹ Schnitt vom Dünndarm zum Magen!‹«
»Schneller, Blaue! Die Hauptschlagader hinauf zu den Lungen!« ging ich auf das Spiel ein und grinste zurück. Vater ließ seine Gespanne für gewöhnlich unter den blauen Farben laufen, und ich war daran gewöhnt, sie anzufeuern.
»Und?« fragte Theogenes. »Haben sie herausgefunden, woran sie gestorben ist?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es war nichts zu sehen, was offensichtlich darauf hingewiesen hätte.«
»Arme alte Frau! Könntest du mir vielleicht erzählen, was sie überhaupt rausgefunden haben? Ich lade dich zum Mittagessen ein.«
Ich war überrascht und freute mich sehr über das Angebot. Selbst die Studenten, die mir gegenüber nach und nach höflicher geworden waren, hatten außerhalb der Fachdiskussionen nicht mit mir gesprochen. Dennoch mußte ich seine Einladung ablehnen. »Es tut mir leid, ich kann nicht. Mein Lehrmeister wartet auf mich – ich bin schon spät dran. Vielleicht ein anderes Mal?«
»Er läßt dich am Nachmittag arbeiten?«
»Er arbeitet immer nachmittags. Er hat einen Haufen Patienten, und er verbringt die Abende gerne mit seiner Familie.«
Theogenes ließ einen Pfiff hören. »Es ist verdammt heiß zum Arbeiten! Nun, dann vielleicht morgen abend – nein, morgen beginnt der Sabbat.«
»Bist du auch Jude?«
»Ja. Mein Vater ist ein Vetter zweiten Grades von Adamantios. Du bist aber nicht jüdisch, nicht wahr?«
»O nein. Ich bin Christ. Aber mein Lehrmeister ist Jude, deshalb halte ich den Sabbat ein.«
Theogenes lachte. »Dein Lehrmeister scheint ja ein rechter Kauz zu sein!«
»Er ist einer der besten Ärzte der Stadt«, erwiderte ich heftig. Theogenes sah mich verdutzt an. »Ich wollte damit nur sagen, daß es für einen jüdischen Arzt ungewöhnlich ist, einen christlichen Assistenten zu haben, der den Sabbat einhält. Vor allem …« Er sah verlegen aus und hielt inne.
»Vor allem, wenn sein Assistent ein Eunuch ist?«
»Nun ja. Das soll keine Beleidigung sein. Sieh mal, Chariton, ich würde gerne deine Meinung über das Sezieren hören. Einige der anderen und ich treffen uns am Abend nach dem Sabbat in der Taverne des Kallias in der Nähe des Castellum, um über alles mögliche zu reden. Möchtest du auch kommen?«
»Oh!« sagte ich und starrte Theogenes etwas töricht an. Zum erstenmal seit Wochen fühlte ich mich wieder schüchtern und unbeholfen. Ich hatte das dauernde hämische Grinsen ignorieren können, weil ich nichts von meinen Kommilitonen gewollt hatte und weil ich sowieso fast meine ganze Zeit mit Philon verbrachte. Jetzt bot mir Theogenes eine Art Kameradschaft an, und ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Junge Damen besuchen keine Tavernen. Aber ich war keine junge Dame, warum also nicht? »Sicherlich«, sagte ich und lächelte ein wenig nervös. »Danke.«
Er lächelte zurück. »In Ordnung also. Es ist eine große Taverne mit einem Pferdekopf als Schild. Du kannst sie nicht verfehlen. Ich sehe dich dann dort!«
Ich kam so spät auf den Somaplatz, daß ich Philon verpaßte und von Patient zu Patient hinter ihm herjagen mußte, bis ich ihn fand. Aber als ich ihm erklärte, warum ich mich verspätet hatte, freute er sich.
»Ich habe Adamantios gebeten, dir mir zuliebe eine faire Chance zu geben«, erzählte er. »Wir haben bei demselben Lehrer studiert. Deshalb war er einverstanden. Aber er hätte dich nicht nach vorne gebeten, wenn er nicht der Ansicht gewesen wäre, daß du einiges versprichst. Ich dachte mir schon, daß er seine Zusage einhält.« Ich fühlte mich so, als hätte ich die Welt erobert.
Als ich an jenem Abend nach Hause kam, erzählte ich begeistert von Theogenes’ Einladung und schilderte alle Einzelheiten des Sezierens. Die andern waren es gewohnt, daß solche Dinge am Abendbrottisch besprochen wurden, und so verdarb es niemandem den Appetit.
»Wunderbar!« sagte Deborah und lächelte nachsichtig. »Weiß dein Wohltäter eigentlich, wie gut du dich inzwischen hier eingelebt hast?«
Einen Augenblick lang war ich vor Schrecken ganz stumm. Mir wurde plötzlich klar, daß ich seit Wochen kaum an zu Hause gedacht hatte. Ich murmelte etwas, das wie eine Antwort klingen sollte – ich hätte die Absicht, bald zu schreiben –, und wandte mich erneut der Beschreibung der sezierten Leber zu.
Aber als ich in meinem Zimmer war, machte ich mir Sorgen. Ich hatte es immer wieder aufgeschoben, Thorion zu schreiben, da ich nicht wußte, ob er in Ephesus oder in Konstantinopel wohnte. Ich konnte es nicht riskieren, daß der Brief fehlgeleitet wurde und in Vaters Haus landete. Auf dem Markt hatte ich einige der Neuigkeiten aus Asien gehört – in Alexandria treffen die Nachrichten aus der ganzen Welt ein. Mein Verschwinden einen Monat vor der Hochzeit hatte einen riesigen Skandal verursacht. Festinus war angeblich völlig außer sich. Ich konnte mir vorstellen, daß Vater wie gelähmt vor Angst war. Wenn er gewußt hätte, wo ich war, hätte er sofort jemanden losgeschickt, um mich nach Hause zu holen. Und wenn ich erst einmal zu Hause war, würde man mir wieder meine längst überholte, mädchenhafte Bescheidenheit aufzwingen, vielleicht sogar die Ehe. Und man würde vertuschen, wo ich gewesen war. Aber ich mußte Thorion und Maia schreiben. Sie mußten sich inzwischen große Sorgen machen. Doch was konnte ich ihnen erzählen?
»Wir haben heute einen Leichnam seziert. Einer der Studenten hat mich in eine Taverne eingeladen, um mit mir über die Einzelheiten zu sprechen. Gestern hat mich mein Lehrmeister den entzündeten Finger eines Schiffszimmermannes mit einer Pinzette öffnen und anschließend vernähen lassen«? Sie wären entsetzt gewesen. Ich empfand plötzlich Angst. Ein riesiger Abgrund hatte sich zwischen meinem früheren Ich und meinem jetzigen, wirklichen Ich geöffnet, und ich wußte nicht, was die beiden davon halten würden.
Ich ging zum Tisch und goß mir etwas von dem Wasser aus dem Krug ein, dann setzte ich mich. Auf dem Tisch lag ein Buch, eine der Abhandlungen des Herophilos über die Anatomie. Ich nahm es in die Hand und blätterte hin und her. Eine Stelle schien sich auf das Sezieren zu beziehen, und ich begann, ernsthaft darin zu lesen. Nach und nach vergaß ich meine Familie und die immer größer werdende Notwendigkeit, ihr zu schreiben.
Zwei Abende später zog ich los, um Theogenes und die übrigen in der Taverne zu treffen. Ich konnte das Haus, genau wie er es versprochen hatte, überhaupt nicht verfehlen. Es lag an dem öffentlichen Platz gegenüber den an das Castellum angebauten Kasernen, und außer dem großen, vergoldeten Pferdekopf schmückte ein auffallend bemalter Fries von Zechern sein Portal. Daneben standen mehrere Amphoren mit Wein. Ich wartete einen Augenblick lang draußen in der warmen, herrlichen Abendluft und war fast krank vor Nervosität. Von drinnen hörte ich das Geräusch von Stimmen, es waren nicht sehr viele, und sie waren nicht sehr laut, da es noch früh war. Die Taverne hatte auch nicht etwa einen schlechten Ruf. Doch das war es nicht. Hier stand ich, die behütet aufgewachsene Tochter eines Mannes, der die Würde eines Konsuls bekleidete, und war drauf und dran, eine öffentliche Taverne zu betreten. Davon einmal abgesehen, hatte ich furchtbare Angst, was die anderen wohl von mir denken würden, ob sie vielleicht ärgerlich waren, daß Theogenes mich eingeladen hatte. Ich wäre fast umgekehrt und wieder nach Hause gegangen, allein der Gedanke, Philon und seiner Familie alles erklären zu müssen, ließ mich innehalten. Nun, sagte ich zu mir selber, wenn sie glauben, daß du ein eingebildeter, überheblicher Eunuch bist, dann liegen sie falsch. Und was sie auch immer glauben mögen, es darf dir nichts ausmachen. Ich riß mich zusammen und ging hinein.
Im Innern befand sich ein großer Hauptraum, der von einer Anzahl blankgeputzter Messinglampen erleuchtet war, die von der Decke herabhingen. Der Raum war mit Tischen vollgestellt. Ich stand immer noch an der Tür und blickte mich um, als Theogenes meinen Namen rief und ich ihn und die anderen am entgegengesetzten Ende des Raumes entdeckte. Ich eilte zu ihnen, und Theogenes stellte mich den übrigen auf seine forsche Art vor. Vom Sehen kannte ich bereits alle, die meisten sogar mit Namen. Eigentlich hatte ich erwartet, daß sie genau wie Theogenes allesamt Juden waren. Doch sie waren bunt gemischt: Juden, Heiden und Christen; Schüler ganz verschiedener Ärzte und gebürtig aus ganz verschiedenen Städten. Die meisten lächelten, nickten mir zu, als Theogenes ihren Namen nannte, und sahen mich neugierig an. Einer oder zwei machten einen etwas mürrischen Eindruck, aber keiner verlor eine Bemerkung über mein Auftauchen in der Taverne. Theogenes machte mir Platz auf seiner Bank, und ich setzte mich.
»Noch einen Becher für unseren Freund und mehr Wein, Liebling!« sagte Theogenes zu dem Mädchen, das uns bediente, und sah ihr einen Augenblick lang nach, als sie sich gehorsam in Trab setzte, um das Geforderte zu holen. »Ist sie nicht hübsch?« fügte er hinzu, ohne sich dabei an jemanden im besonderen zu wenden. Dann drehte er sich zu mir um: »Wir haben für unsere Diskussionen hier eine Regel aufgestellt, Chariton: nicht über Religion zu sprechen. Jeder, der ein religiöses Thema anschneidet, muß eine Runde ausgeben. Im übrigen teilen wir uns die Kosten und haben unseren Spaß, obwohl wir meistens über medizinische Probleme sprechen. Kannst du mir sagen, was du bei dem Sezieren neulich gelernt hast? Bisher habe ich von jedem, den ich gefragt habe, eine völlig anderslautende Schilderung bekommen.«
Das Thema war so interessant, daß ich meine Nervosität vollkommen vergaß. Als wir mit dem Sezieren endlich durch waren (und ich ein paar Becher Wein geleert hatte), spürte ich, daß ich unter Freunden war und lehnte mich entspannt und zufrieden an die Wand zurück.
»Dein Hippokrates behauptet, daß die Gefäße, die den Samen bei einer Frau in ihre Gebärmutter leiten, die gleichen sind wie diejenigen, die bei einem Mann in den Penis führen. Angeblich kommen diese Gefäße aus dem Kopf und führen über die Nieren«, sagte einer der anderen Studenten spät am Abend. »Ich habe nichts dergleichen entdecken können.«
»Du wußtest eben nicht, wonach du suchen solltest«, sagte Theogenes ein wenig hochmütig.
»Und du warst nicht einmal in der Lage, überhaupt nach etwas zu suchen«, erwiderte sein Freund. »Du warst draußen im Hof.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob es da überhaupt etwas zu suchen gab«, sagte ich widerstrebend. »Ich glaube, Hippokrates hat das vielleicht falsch verstanden.«
»Was!« rief Theogenes lachend aus. »Der unsterbliche Hippokrates hat einen Fehler gemacht?«
»Nun, er hat nie jemanden seziert, oder?« erwiderte ich. »Zu seiner Zeit hatten sie damit wohl noch größeren Ärger als heute. Er stellte eben nach bestem Wissen und Gewissen Mutmaßungen an, ohne jemanden aufzuschneiden.«
»Hippokrates behauptet auch, die Blutgefäße eines Mannes gingen durch die Hoden«, fuhr der andere Student fort. »Das sei auch der Grund dafür, warum Eunuchen keine Kinder haben können, weil bei der Entfernung der Hoden diese Verbindung zerstört wird.« Es entstand ein verlegenes Schweigen, und alle starrten mich neugierig an. »Wie war das bei dir?« wollte mein Gegenüber wissen. »Hat es sehr weh getan?«
Ich fühlte mich von neuem bloßgestellt und war plötzlich ganz nüchtern. »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern«, erwiderte ich nach einer verlegenen Pause. »Ich war noch sehr jung damals.«
Der Fragesteller schlug den Blick zu Boden. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich war ganz einfach neugierig.« Ich wußte, daß er an all die unerfreulichen Dinge dachte, die er jemals über Eunuchen gehört hatte.
»Du bist in Ephesus aufgewachsen, nicht wahr«, fragte einer der anderen in das unbehagliche Schweigen hinein. Es hätte eine beiläufige Frage sein können, aber irgendwie klang sie eindringlich, mißtrauisch. »Warum bist du nach Alexandria gekommen?«
Doch ein alexandrinischer Heide namens Nikias mischte sich ein, bevor ich antworten mußte. »Du hättest ihn gar nicht zu fragen brauchen, ob er aus Asien ist«, sagte er mit einer übertrieben wirkenden Unbekümmertheit. Er war einer von denen, die bei meinem Hereinkommen einen abweisenden Eindruck gemacht hatten. Jetzt beobachtete er mich mit einem boshaften Grinsen auf seinem feisten Gesicht. »Ein perfekteres asiatisches Lispeln habe ich noch nie in meinem Leben gehört. ›Hippokratess ssagt, daß‹ – nein, ich kann es nicht.«
Allem Anschein nach waren seine Worte ein harmloser Scherz, aber ich konnte den Unterton von Abneigung spüren, so wie ich in der vorhergehenden Frage das Mißtrauen gespürt hatte. Ich errötete und wurde allmählich ärgerlich. Schließlich war ich in die Taverne eingeladen worden und war ein ebenso guter Student wie sie. Niemand hatte das Recht dazu, mir peinliche Fragen zu stellen und sich über mich lustig zu machen. Ich blickte in die vom Licht der Lampen erhellten Gesichter rings um mich her. Sie beobachteten mich, um zu sehen, wie ich reagieren würde. Theogenes sah immer noch verlegen aus, als habe er allein den Anstand, sich der schlechten Manieren seiner Freunde zu schämen. Das besänftigte meinen Ärger und nötigte mir ein Lächeln ab.
»Du hast also noch nie einen so schlimmen Akzent gehört?« fragte ich. »Du bist hoffentlich nie in Ephesus gewesen. Du solltest mal einige von meiner Fa… von den Freunden meines Wohltäters sprechen hören. ›Mein lieber und höchsst gessätzter Nikias, die Sstute, die du ssoeben erwähnt hast, ist eine ssolche Perle. Ich würde ssie ssofort an einem Wettrennen teilnehmen lassen, doch zßufällig ist ssie gerade jetzt trächtig. Wirklich, mein lieber Freund, ich habe keine Ahnung, wie ssie das gessafft hat!‹« Es war genau der Tonfall, über den Thorion und ich uns seit unserer Kindheit immer lustig gemacht hatten. In Wirklichkeit sprach der alte Pythion so, aber man mußte ihn nicht kennen, um den lispelnden Akzent komisch zu finden. Die Spannung wich, und die anderen Studenten brüllten vor Lachen.
»Bei meiner Seele, das ist gut«, sagte Theogenes. »Dein Wohltäter hat also Pferderennen veranstaltet?«
»In Ephesus nannten sie ihn ›Meister der Pferderennens Vielleicht habt ihr von ihm gehört – es ist der höchst vortreffliche Theodoros.«
Theogenes schüttelte den Kopf. Doch einer der anderen, ein Sidonier, rief sofort, er habe eines der Pferde des Theodoros bei einem Rennen in Tyrus siegen sehen, und die ganze Unterhaltung wechselte auf das Thema Wagenrennen und auf die beliebtesten Wagenlenker der hiesigen Pferderennbahn über. Als die Gesellschaft aufbrach und nach Hause ging, wünschten mir die anderen mit der Herzlichkeit alter Freunde gute Gesundheit. Ich antwortete im gleichen Tonfall. Im großen und ganzen hatte ich den Abend genossen, und ich spürte, daß ich eine schwierige Prüfung bestanden hatte. Aber ich schwor mir, den anderen gegenüber vorsichtiger zu sein und in ihrer Gesellschaft niemals zuviel zu trinken. Ich würde meine fünf Sinne benötigen, wenn ich mit ihnen zusammen war.