10
Von Tomis nach Marcianopolis sind es fast hundert Meilen. Wir ritten fünf Tage. Sebastianus meinte, man könne es auch in drei Tagen schaffen, aber wir hatten es gar nicht so fürchterlich eilig. Wir nahmen den Küstenweg, da dieser recht angenehm zum Reisen war. Sebastianus nahm auch Daphne und einige seiner Haussklaven mit. »Sie haben auch gerne einmal ein bißchen Tapetenwechsel«, erklärte er. »Und niemand kann sagen, wie lange unser Unternehmen dauert. Ich kann es mir ebensogut bequem machen, so lange ich in Marcianopolis bin.« Daphne kam also in einem Planwagen, der inmitten der Soldaten fuhr, mit, und wir reisten in der strahlenden Sommersonne langsam die Küste hinunter. Es war eine wundervolle, glückliche Reise. Ich glaube, kein einziges Mitglied der Reisegesellschaft freute sich darüber, am Abend unserer Ankunft Marcianopolis schwarz drohend vor dem Hintergrund der Berge auftauchen zu sehen.
Es war ein eigenartiges Gefühl, sich daran zu erinnern, welch barbarischen Eindruck die Stadt beim erstenmal auf mich gemacht hatte. Jetzt war sie in meinen Augen ein ganz gewöhnlicher Ort. Sebastianus entließ seine Soldaten in ihre Unterkünfte und lud mich ein, zusammen mit seinem Haushalt in einem Flügel des Hauptquartiers zu wohnen. Er hatte einen Kurier vorausgeschickt, um seine Ankunft anzukündigen. Seine gewohnten Räume waren also bereits für ihn vorbereitet. Sebastianus bot mir auch einen seiner Sklaven an, der während meines Aufenthaltes für mich sorgen sollte, aber ich lehnte das Angebot dankend ab. So konnte ich wenigstens ein bißchen ungestört sein. Ich wusch mich, streifte meine Ersatztunika, die nicht nach Pferd roch, über und entschloß mich dazu, ein neues Paar Hosen zu kaufen. Sebastianus’ Sklave klopfte und überbrachte eine Einladung von seinem Herrn zum Abendessen. Ich dankte ihm und ging hinunter in das Speisezimmer, in dem ich zum erstenmal mit dem Heerführer gegessen hatte. Der erste, den ich nach meinem Eintritt entdeckte, war Athanaric.
Ich hatte nicht erwartet, ihn hier zu sehen, und war nicht auf der Hut. Wie angewurzelt blieb ich auf der Türschwelle stehen, mein Herz schlug heftig. Ich spürte, wie mein Gesicht ganz heiß wurde. Glücklicherweise befanden sich in der Nähe der Tür keine Lampen, so daß niemand meine Röte bemerkte. Sobald Athanaric mich sah, lächelte er mir einen Willkommensgruß zu, eilte herbei und ergriff meine Hand. »Willkommen, Chariton!« sagte er. »Ich habe den Eindruck, daß ich Sebastianus’ Gegenwart hier dir verdanke. Gut gemacht!«
Ich erwiderte nichts; ich versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Athanarics Begrüßung machte mich einigermaßen benommen, so als schwebe ich über einer riesigen Leere dahin.
»Er hat sogar Theodoros dazu überredet, Getreide zu schikken«, berichtete Sebastianus seinem Freund.
»Unsterbliche Götter!« entgegnete Athanaric. »Wie hast du denn das geschafft? Ich habe versucht, ihm gut zuzureden, doch es führte zu nichts: Er sagte, er könne kein Getreide bekommen.«
Es gelang mir, zu niesen, um mein benommenes Schweigen zu entschuldigen. »Jeder Statthalter kann zusätzliches Getreide bekommen, wenn er die Landeigentümer nur ein bißchen unter Druck setzt«, meinte ich schließlich. »Es ging also einzig und allein darum, Thorion von der Notwendigkeit einer solchen Maßnahme zu überzeugen. Er ist ein anständiger Mann, er mag es nicht, wenn andere leiden. Und ich hatte gerade geholfen, seinen erstgeborenen Sohn zu entbinden.«
»Die Vorteile der hippokratischen Methode!« sagte Athanaric und grinste. »Nun, ich freue mich, einen so mächtigen Verbündeten zu haben.«
»Ich dachte, du bist in Antiochia.«
»Ich komme gerade von dort.« Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht, und ich bemerkte, daß er müde und erschöpft aussah. »Unsere dortigen Verbündeten sind nicht so tüchtig. Der erlauchte Eutherios wird auf mich hören, aber Festinus, der hiesige Statthalter, ist ein Freund des Prätorianerpräfekten. Dann kann Eutherios ihrer Erhabenen Majestät noch so viel erzählen: Modestus tut einfach alles mit einer Handbewegung ab. Der Kaiser hört nun einmal auf Modestus. Und alle Welt ist im Augenblick in erster Linie mit Persien beschäftigt. Kein Mensch interessiert sich dafür, was hier passiert; niemand will auch nur das geringste unternehmen. Das wird so weitergehen, bis sich die Terwingen erheben. Es sei denn, du kannst Lupicinus davon überzeugen, der ganzen Sache endlich einen Riegel vorzuschieben«, meinte er an Sebastianus gewandt.
»Ich werde es versuchen. Aber können wir die Terwingen heute abend nicht einmal vergessen? Ich werde morgen noch mehr als genug über sie und ihre Probleme sprechen müssen.«
Wir ließen uns am Tisch nieder, Daphne und Sebastianus auf einer Ruhebank, Athanaric und ich jeder für sich auf einer weiteren. Daphne gähnte, sie war von der langen Reise müde.
Sie lehnte ihren blonden Kopf an Sebastianus’ Schulter: Es war ein sehr hübsches Bild. Athanaric sah sie mißgelaunt an und fing noch während des ersten Ganges erneut an, über die Terwingen zu sprechen.
»Wird Theodoros das Getreide wirklich schicken?« fragte er mich. »Es ist bekannt, daß er und Festinus sich gegenseitig verabscheuen. Keiner von beiden wird auch nur das geringste tun, was dem anderen nützen könnte. Und es fällt in Festinus’ Verantwortungsbereich, Frithigerns Leute mit Lebensmitteln zu versorgen.«
»Ich habe Briefe von Theodoros bei mir, in denen er Festinus bittet, für die Verteilung des Getreides zu sorgen, wenn es in Skythien eintrifft«, entgegnete ich.
Athanaric ließ einen Pfiff der Bewunderung hören und schüttelte den Kopf.
»Warum sind sie eigentlich verfeindet?« fragte Sebastianus, nippte an seinem Wein und sah Athanaric über Daphnes Kopf hinweg voller freundschaftlicher Zuneigung an.
»Das beruht auf einem persönlichen Groll«, erwiderte Athanaric. »Theodoros’ Schwester sollte Festinus heiraten. Sie verschwand einen Monat vor der Hochzeit und ließ den Bräutigam ziemlich blamiert zurück – vor ein paar Jahren gab es in Asien einen ausgewachsenen Skandal deswegen. Man nimmt an, daß Theodoros das Verschwinden arrangiert hat, um den Sohn des Sklavenversteigerers nicht ›Bruder‹ nennen zu müssen. Festinus war wütend und benutzte seinen ganzen Einfluß dazu, Theodoros und seiner Familie Schwierigkeiten zu bereiten.«
»Und was geschah mit seiner Schwester?« fragte Daphne.
Athanaric zuckte die Achseln. »Das weiß niemand. Irgend etwas muß ja wohl geschehen sein, sonst wäre sie inzwischen wieder aufgetaucht. Vielleicht hat sie sich zu Tode gegrämt, weil ihre zarte Natur den Skandal und das ganze Versteckspiel nicht verkraftet hat. Oder sie ist mit einem Wagenlenker durchgebrannt. Das sind zwei der umlaufenden Gerüchte: Du kannst wählen.«
»Oh, ich wähle den Wagenlenker!« meinte Daphne und lachte.
»Ich liebe Wagenrennen.«
Sebastianus lachte ebenfalls und küßte sie. »Das werde ich mir merken«, sagte er. »In dieses Haus werden keine Wagenlenker eingeladen. Sklaven! Mehr Wein. Und Athanaric, bitte kein Wort mehr über die Goten!«
Am nächsten Tag machte sich Sebastianus auf den Weg zu einem Gespräch mit Lupicinus, und ich gab Athanaric Thorions Briefe für den Statthalter mit. Athanaric zeigte sich überrascht, daß ich die Briefe nicht selbst überbringen wollte. Ich antwortete, ein Curiosus der Agentes in rebus werde sicherlich größere Aufmerksamkeit finden als ein Armeearzt.
»Dann hast du also keine versöhnliche Botschaft von Theodoros für Festinus?« fragte er und machte einen besorgten Eindruck. »In diesem Fall besteht die Gefahr, daß Festinus sich weigert, das Getreide anzunehmen, vor allem, wenn es von Theodoros kommt. Die beiden hassen sich von ganzem Herzen. Und Festinus möchte seine einträglichen Geschäfte für den Augenblick vielleicht lieber fortsetzen. Dann wird er nicht so erpicht darauf sein, Vorräte für die Goten entgegenzunehmen, selbst wenn ein anderer für die Unkosten aufkommt.«
»Auch wenn Theodoros damit einverstanden gewesen wäre, eine versöhnliche Botschaft zu übermitteln«, erwiderte ich, »bin ich nicht unbedingt der Geeignete, sie zu überbringen. Ich würde dem Statthalter lieber nicht begegnen.«
Athanaric stand da und sah mich prüfend an. »Er kennt dich?« Ich zuckte die Achseln. Ich hatte sehr sorgfältig über die Sache nachgedacht und war zu dem Schluß gekommen, daß Festinus mich sehr wahrscheinlich nicht erkennen würde. Er hatte mich im Grunde genommen nur ein paarmal gesehen, und das war Jahre her. Nicht einmal mein eigener Bruder hatte in mir die gelockte und parfümierte junge Dame aus seiner Erinnerung wiedererkannt. Trotzdem war ich nicht gerade erpicht darauf, den Statthalter zu sprechen. »Er wird sich kaum an mich erinnern«, entgegnete ich. »Wir sind uns einmal begegnet, aber es bestand kein Grund dafür, daß er Notiz von mir nehmen sollte. Ich jedoch erinnere mich sehr wohl an ihn, so wie die meisten Leute in Ephesus. Oder hast du nie davon gehört, wie er sich bei uns als Statthalter aufgeführt hat?«
»Ich habe davon gehört. So so! Du hast also nicht nur in Ägypten und Thrazien, sondern auch in Asien Ärger gehabt. Du scheinst im Ärgermachen fast so begabt zu sein wie in der Medizin. Was war damals los? Hast du Theodoros geholfen, das Verschwinden seiner Schwester zu arrangieren?«
Ich lachte: »›Jeder Tag hat seine eigenen Sorgen.‹ Laß alten Hader ruhen. Viel Glück bei Festinus.«
Sebastianus hatte Maximus, den Heerführer Mösiens, von unserer bevorstehenden Ankunft benachrichtigt. So stellte ich mich also als der in Alexandria ausgebildete Arzt vor, nach dem er verlangt hatte. Der Heerführer war ein hochgewachsener, sonnengebräunter Mann mit dem Aussehen, den Manieren und den Grundsätzen eines Straßenräubers. Sobald er gehört hatte, daß ich käme, hatte er zwei seiner Ärzte zu sich nach Marcianopolis befohlen. Er nahm mich in die Unterkünfte seiner Soldaten mit und stellte mich seinen Leuten vor. Dann ging er, damit wir in Ruhe über die Pest sprechen konnten. Die Ärzte waren kaum tüchtiger als Xanthos und Diokles. Ich fragte sie über die Wasservorräte in den Lagern an der Donau aus. Sie meinten, die Leute hätten ja den Fluß. Ich fragte sie über die Hygiene aus. Sie meinten, die Römer hätten die üblichen sanitären Einrichtungen, die Barbaren jedoch gingen auf der Suche nach Nahrung am Ufer auf und ab und verunreinigten es dabei. Ich fragte sie über die Einrichtungen für die Kranken aus. Sie meinten, die Soldaten kümmerten sich gleich an Ort und Stelle um ihre eigenen Leute und schickten lediglich schwere Fälle in das Hospital. Für die Barbaren gab es keinerlei medizinische Einrichtungen. Außerdem waren die Ärzte äußerst schlecht auf die Terwingen zu sprechen, da diese verschiedene Krankheiten hatten, mit denen sie die römischen Soldaten ansteckten. Sie schienen zu glauben, die Goten täten es absichtlich.
Ich hielt ihnen einen langen Vortrag über die Ansteckungsgefahr über Luft und Wasser, wie wichtig es sei, sich ausreichende Vorräte von sauberem Wasser anzulegen, die Kranken zu isolieren und die Luft mit Hilfe von Schwefel zu reinigen. Zum Schluß betonte ich die Notwendigkeit, den Goten ihr eigenes Land zuzuweisen. Als ich ging, waren die Ärzte unzufrieden mit mir, weil ich ihnen keine magischen Zaubersprüche gegen die Pest verraten hatte, und sie waren unzufrieden mit ihrem Oberbefehlshaber, weil er es zuließ, daß sich die pestkranken Terwingen so nahe bei seinen eigenen Truppen aufhielten. Ich war ebenfalls unzufrieden. Falls die Ärzte meine Anweisungen sorgfältig befolgten, gelang es ihnen vielleicht, die Ausbreitung der Krankheit unter den römischen Truppen zu verhindern. Aber ich hatte nichts für die Goten erreicht. Schlecht gelaunt ging ich in das Zentrum von Marcianopolis zurück und verfluchte die römische Habgier.
Als ich ins Hauptquartier kam, fand ich Sebastianus und Athanaric ebenfalls schlecht gelaunt vor. »Dieser Festinus ist ein fetter, erpresserischer Blutsauger«, erklärte Athanaric und senkte die Lautstärke seiner Stimme. »Ich übergab ihm Theodoros’ Briefe und dachte mir ein paar Schmeicheleien aus, aber er wollte sich in dieser Angelegenheit auf nichts festlegen lassen. Für heute abend hat er mich zu einem Festmahl eingeladen. Er hat den Palast des Präfekten wie den Herrensitz eines genußsüchtigen Sybariten ausgestattet und ihn mit terwingischen Sklaven vollgestopft, die ihn von hinten und vorne bedienen müssen. Er steckt bis zum Hals in diesen Wuchergeschäften mit drin.«
»Lupicinus hält ihn für sehr schlau und gerissen«, erzählte Sebastianus angewidert. »Als ich die Angelegenheit ihm gegenüber zur Sprache brachte, versuchte er, alle Schuld auf den Statthalter abzuwälzen. Obwohl die ursprüngliche Idee ganz offensichtlich von ihm kommt. Nun, sie konnten ihren Schiebereien ein paar schöne Monate lang nachgehen: Lupicinus wäre vielleicht damit einverstanden, die Sache jetzt gut sein zu lassen. Ihm sind Gerüchte zu Ohren gekommen, die Goten könnten sich erheben, und er beginnt, sich deswegen Sorgen zu machen. Festinus hat ihn für heute abend ebenfalls zum Essen eingeladen, zusammen mit uns dreien. Und Lupicinus hat mir versprochen, er wolle dort etwas wegen der Goten unternehmen.«
»Aber mich hat er doch wohl nicht auch eingeladen?« fragte ich.
»Er hat alle anwesenden Armeeführer samt Gefolge eingeladen, und dein Name wurde extra erwähnt. Das ist schließlich nicht so überraschend: Du bist ein studierter Mann, und er konnte dich kaum unberücksichtigt lassen. Warum, was ist denn los?«
»Unser Chariton geriet unter der Statthalterschaft von Festinus in Schwierigkeiten«, sagte Athanaric und grinste. »Er will nicht sagen, warum.«
»Ernsthafte Schwierigkeiten?« fragte Sebastianus eindringlich und warf mir einen prüfenden Blick zu.
»Ich wurde niemals direkt beschuldigt«, erwiderte ich, etwas verärgert über Athanarics unbekümmerte Unterstellungen. »Ich bezweifle sehr, daß Festinus mich überhaupt wiedererkennt. Ich kann ruhig hingehen; wahrscheinlich werde ich sowieso auf eine der hinteren Ruhebänke gesetzt.« Ich ging in mein Zimmer hinauf, um mich zurechtzumachen, dann setzte ich mich in meinem guten Umhang auf das Bett und machte mir ernsthafte Sorgen.
Doch das wäre gar nicht nötig gewesen. Das Festmahl war eine große Angelegenheit. Außer mir nahm Sebastianus noch einen Offizier aus seinem Gefolge mit, und als wir im Bankettsaal eintrafen, entdeckten wir, daß der Heerführer von Mösien in Begleitung von sieben Männern erschienen war (seine Ärzte hatte er allerdings nicht mitgebracht), und Lupicinus war mit zehn Männern aufgekreuzt. Festinus begrüßte die Ankömmlinge an der Tür zum Bankettsaal. Er war dicker, als ich ihn in Erinnerung hatte, und in seinem Gesicht waren viele weitere Äderchen geplatzt, so daß es mit roten Flecken übersät war. Aber die starr blickenden blauen Augen waren die gleichen. Er lächelte, als er Sebastianus die Hand schüttelte: Auch an das Entblößen der Zähne erinnerte ich mich, es war wie das Fauchen eines wilden Tieres. Sebastianus stellte mich vor – »Chariton von Ephesus, mein Chefarzt« –, und die Augen glitten flüchtig über mein Gesicht, eine feiste, feuchte Hand ergriff einen Augenblick lang die meine, dann entblößte er seine Zähne gegenüber Athanaric, und einer der Sklaven führte mich zu meinem Platz an der hintersten Ruhebank, wo ich mich während des Essens zusammen mit einem der jüngeren Offiziere aus dem Gefolge des Heerführers niederließ. Ich fühlte mich etwas weich in den Knien. Einer der Sklaven der Präfektur reichte mir einen Becher mit honiggesüßtem Weißwein.
Der Festsaal war groß und prächtig, er war erst vor kurzem frisch verputzt und mit Wandmalereien geschmückt worden, vor den Fenstern hingen neue, brokatene Vorhänge. Drei Ständer mit Lampen, die ein süßes, nach Weihrauch duftendes Öl verbrannten, tauchten den ganzen Raum in ein strahlendes Licht. Der Tisch war aus Ahorn und dem Holz des Zitronenbaums gefertigt, er war auf Hochglanz poliert und funkelte nur so von dem vielen Eßgeschirr aus Silber und korinthischen Tonwaren. An der einen Wand saßen drei blonde, Flöte und Lyra spielende Mädchen. Weitere Sklaven – Mädchen und Knaben – eilten geschäftig hin und her, füllten die Becher der Gäste und verteilten kleine weiße Brotlaibe. Sie waren allesamt jung, sehr anziehend und ganz offensichtlich Goten.
Die Gäste wurden an ihre Plätze geleitet, und das Festmahl begann. Lupicinus bekam einen Platz auf der Ruhebank des Gastgebers zugewiesen, Athanaric und Sebastianus wurden die Ehrenplätze zur Rechten von Festinus eingeräumt. Die Sklaven brachten eine Platte mit Austern herein; drei schlanke, junge Mädchen in dünnen, roten Tuniken servierten am oberen Ende des Tisches, andere reichten die Speisen am unteren Ende, dort, wo ich saß. Die Offiziere rund um mich herum begannen, über irgendwelche Feldzüge zu diskutieren, und ich konnte nichts von dem vernehmen, worüber die Leute am anderen Ende des Tisches sprachen.
Auf die Austern folgten gefüllte Haselmäuse und gegrillte Meereschen mit Lauch. Dann gab es Hühnchen in weißer Soße, Wildschwein mit Honig und Asantgewürz, schließlich gebratenen Pfau, der in seinem eigenen, prächtigen Federkleid hereingetragen wurde. Lupicinus erhielt das Privileg, den Wein zu bestellen, und er verlangte laut und häufig nach ihm; es war ein ungewöhnlicher Rotwein, alt und äußerst wohlriechend; seine Süße bildete ein angenehmes Gegengewicht zu der Säure seines Alters. Ich erfuhr später, daß es ein italienisches Gewächs aus Falernus war, das die Leute aus dem Westreich sehr schätzen und das einen dementsprechenden Preis hat. Unten, auf der letzten Ruhebank, erhielten wir nicht sehr viel davon, doch am oberen Ende der Tafel schienen die Sklaven die Becher dauernd nachzufüllen, und binnen kurzem glühten die Gesichter der dort sitzenden Gäste tiefrot, und ihre Stimmen wurden immer lauter.
Fast während des gesamten zweiten Ganges fuhren die Offiziere mit ihren Gesprächen über Belagerungen und Festungsanlagen fort und hielten nur kurz inne, um die bedienenden Mädchen in den Hintern zu kneifen. Doch am Ende des zweiten Ganges begann die Unterhaltung abzuflauen, und plötzlich rief Festinus mit lauter und deutlicher Stimme:
»Dieser verdammte Theodoros will uns doch tatsächlich Getreide für die Goten schicken.« Er sah Athanaric an, während er sprach.
Lupicinus grinste höhnisch; einige der Offiziere aus seinem Gefolge lachten spöttisch.
»Der vortreffliche Theodoros hat gehört, daß du, edler Festinus, nicht in der Lage bist, die Terwingen mit den notwendigen Lebensmitteln zu versorgen«, erwiderte Athanaric ungerührt.
»Und er hat sich äußerst großzügig damit einverstanden erklärt, dir etwas überflüssiges Getreide aus der von ihm verwalteten Provinz zu schicken, um dich, vorzüglicher Festinus, bei deiner Aufgabe zu unterstützen, die hungernden Goten zu versorgen. Er erläutert dies in den Briefen, die ich dir, weiser Festinus, heute morgen überreicht habe.«
»Was ich in meiner Provinz tue, geht Theodoros einen Dreck an!« polterte Festinus verächtlich. »Ich habe über sein Angebot nachgedacht, und je länger ich darüber nachdenke, desto unverschämter erscheint es mir. Der Bursche hat es nur gemacht, um mich zu beleidigen! Er will mir zu verstehen geben, daß er mich für unfähig hält. Ich habe bereits Provinzen verwaltet, als er noch Maulaffen feilhielt! Von mir aus kann er sein Getreide in der Donau versenken.«
»Trotzdem«, meinte Athanaric immer noch in gemäßigter Lautstärke, jetzt allerdings mit einem scharfen Unterton, »ist es unzweifelhaft, daß die Goten fürchterlich hungern, seit sie römisches Land betreten haben. Und es ist immerhin möglich, daß die Barbaren versuchen könnten, sich durch Waffengewalt etwas zu essen zu verschaffen – zudem sie die sicherlich überzeugenden Gründe, die dich und den höchst geschätzten Lupicinus dazu veranlaßt haben, sie ohne Lebensmittel am Ufer des Flusses festzuhalten, wahrscheinlich nicht verstehen. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, etwas Getreide für sie aufzutreiben.«
Festinus ließ ein verächtliches Schnaufen hören. Lupicinus starrte Athanaric mit offenem Mund an. »Wir haben den Barbaren befohlen, das Donauufer zu verlassen und zu uns nach Marcianopolis zu kommen«, brummte er mürrisch.
Athanaric sah ihn einen Augenblick lang an, dann beugte er sich auf seiner Ruhebank vor, und sein Gesicht rötete sich.
»Damit sie ihr Land in Besitz nehmen können?« erkundigte er sich.
»Um das Land in Besitz nehmen zu können, das ihre Erhabene Majestät ihnen zugeteilt hat«, stimmte ihm Lupicinus zu.
»Gott sei Dank!« Athanaric sank auf seine Ruhebank zurück, als drücke ihn Erleichterung und Erschöpfung in die Kissen. Er sah Sebastianus an, der seine Augenbrauen hob und die Achseln zuckte.
»Mir liegen Berichte darüber vor, daß sich in Thrazien mehr Goten befinden, als dort eigentlich sein sollten«, sagte Lupicinus zu niemandem im besonderen. »Die Greuthungen haben um die Erlaubnis nachgesucht, den Fluß ebenfalls zu überqueren, und ich glaube, einige von ihnen sind mit Unterstützung dieses Fuchses Frithigern bereits mit hinübergeschlüpft. Ich will den Kerl dazu zwingen, herzukommen und mir die Sache zu erklären.«
Die Offiziere fingen alle gleichzeitig an zu sprechen, wie eine Meute Hunde, die eine Fährte aufgenommen hat. Sie beteuerten, sie würden dem unerlaubten Eindringen der Greuthungen bald ein Ende setzen. Athanaric machte erneut einen besorgten Eindruck. Die Terwingen waren ein großer Stamm – selbst wenn sie geschwächt und geteilt waren. Auch die Greuthungen waren nicht zu unterschätzen. Falls sie ihre Kräfte vereinten und sich tatsächlich bereits beide diesseits des Flusses befanden, stellten sie einen durchaus ernstzunehmenden Gegnern dar.
»Jedenfalls kann Theodoros sein Getreide behalten«, sagte Festinus, als die Hunde mit Bellen aufgehört hatten. Es war ihm deutlich anzumerken, daß er Thorion noch stärker haßte als Thorion ihn: Er ließ sich nicht die kleinste Chance entgehen, seinen Feind zu schmähen. »Gott möge ihn zusammen mit seinem Getreide verfaulen lassen! Er ist ein hochnäsiger und heuchlerischer Tölpel, und nichts berechtigt ihn dazu, sich in meine Angelegenheiten hier in dieser Provinz einzumischen.«
»Vor allem nicht, nachdem er sich in deine Hochzeit eingemischt hat«, meinte Lupicinus und grinste boshaft.
Festinus fluchte. Er hatte bereits zuviel getrunken. »Jeder erzählt diese Geschichte, nur um mich zu ärgern«, erwiderte er wütend. »Dabei sollte sie eher Theodoros ärgern: Ich hatte daran gedacht, mich in Ephesus niederzulassen, und bereits einigen Landbesitz erworben. Dann sehe ich mich nach einer Frau um. Der ältere Theodoros wirft mir seine Tochter praktisch an den Hals – eine fünfzehnjährige, frigide kleine Göre, die aus nichts als großen Augen besteht und dauernd eine Rühr-michnicht-an-Miene aufsetzt. Ich bin einverstanden, das Mädchen zu nehmen, und ihr Vater ist höchst erfreut. Dann verschwindet sie plötzlich. Ihr Vater ist außer sich. Der junge Theodoros gibt aus reinem Hochmut und törichter Eitelkeit zu, daß er sie irgendwo versteckt hat. Er glaubt, über eine Verbindung mit meinem Haus erhaben zu sein, nur weil sein Großvater die Leiter der Macht raufgekrabbelt ist und ihm die Mühe erspart hat, es selbst zu tun. Benimmt sich so ein guterzogener junger Mann? Aber im Grunde genommen hat er mir damit nur einen Dienst erwiesen. Ich war aus dem Schneider: Ich habe dann gehört, das Mädchen sei mit einem Gladiator durchgebrannt.«
»Mit einem Gladiator?« fragte Sebastianus und lächelte. »Wie ungewöhnlich. Ich wußte gar nicht, daß es in Asien Gladiatoren gibt. Ich dachte, das sei etwas für den westlichen Geschmack.«
Festinus warf ihm einen gehässigen Blick zu. »Dann eben mit einem Wagenlenker.«
Lupicinus ließ ein wieherndes Lachen hören und rief nach frischem Wein. Dann erschienen erneut einige gotische Mädchen, diesmal waren sie in noch dünnere und kürzere Tunikas gekleidet. Sie fingen an zu tanzen, die Offiziere klatschten Beifall.
Ich hatte das Festmahl von Anfang an nicht gemocht, und inzwischen hatte ich nur noch den einen Wunsch, zu gehen, und zwar möglichst schnell. Es war mir egal, ob man mir nachsagte, ich sei mit einem Wagenlenker durchgebrannt, aber Festinus über mich schwadronieren zu hören war mir äußerst unangenehm. Und der Anblick der Befehlshaber, die sich dank der Profite, die sie mit Menschen wie Gudrun machten, mästeten und betranken und die drauf und dran waren, mit Mädchen ins Bett zu gehen, die von ihren Eltern verkauft worden waren, um der Hungersnot zu entgehen, machte mich krank vor Wut. Glücklicherweise verabschiedete sich Sebastianus ziemlich früh: Er entschuldigte sich damit, nach der Reise müde zu sein. Dies bedeutete, daß seine Gefährten mit ihm zusammen gehen konnten. Schweigend machten wir uns auf den Weg zurück ins Hauptquartier. Dort lud Sebastianus Athanaric und mich ein, ihm noch bei einem Becher Wein Gesellschaft zu leisten. »Allerdings keinen Falerner«, meinte er.
»Hast du Lupicinus etwa dazu überredet, die Goten hierherkommen zu lassen?« fragte Athanaric, als der Wein – es war ein mit warmem Wasser gemischter, gut verdünnter Chian – auf dem Tisch stand.
»Ich habe mit ihm über die Gefahren einer Erhebung gesprochen«, antwortete Sebastianus und rührte den Wein in seinem Becher um. »Ich hatte allerdings noch nichts davon gehört, daß die Greuthungen den Fluß ebenfalls überqueren wollen.
Das hat ihn wohl letztlich dazu veranlaßt. Nun, ich hoffe, sie bleiben drüben.«
»Das hoffe ich auch«, meinte Athanaric düster.
»Aber du fürchtest, Frithigern könne schon eine Art Erhebung in die Wege geleitet haben?«
Athanaric wischte diese Furcht beiseite. »Wenn Frithigern sich wirklich mit den Greuthungen verbünden sollte… Ach, selbst dann wird es wahrscheinlich nicht zum Krieg kommen. Wenn Lupicinus ihn richtig zu nehmen weiß, geht es vielleicht ohne jeden Ärger ab.« Aber seine Miene blieb umwölkt.
»Es gibt schließlich immer noch die Legionen«, meinte Sebastianus.
»Du vertraust der Überlegenheit der römischen Waffen allzu sehr«, erwiderte Athanaric hitzig. »Mein Vater kommandierte eine mit den Römern verbündete gotische Armee, die genau wie Frithigerns Männer bewaffnet und ausgebildet waren. Und als der Schlachtruf angestimmt wurde, waren sie nicht merklich schwächer als die regulären Truppen.«
»Aber die Terwingen werden doch immerhin schwächer sein, oder?« fragte Sebastianus. »Sie sind schließlich von den Hunnen besiegt worden und haben all diese Monate hindurch gehungert. Dazu sind die meisten von ihnen beim Überqueren der Donau entwaffnet worden. Aber ich hoffe, es kommt gar nicht erst dazu. Es wäre so sinnlos.«
»Es wäre sinnlos«, stimmte Athanaric ihm zu.
»Wo befinden sich die ehemaligen Truppen deines Vaters jetzt?« fragte Sebastianus in einem beiläufigen Tonfall.
»Hier in Thrazien, in Hadrianapolis«, erwiderte Athanaric gelassen. »Unter dem Befehl meiner Vettern Bessas und Colias.«
»Du könntest vielleicht irgend jemandem einen Tip geben, sie woanders hinzubeordern. Nein, ich will ihre Ergebenheit keineswegs in Frage stellen. Aber sie sind terwingische Goten und nach wie vor lediglich Verbündete, sie gehören also nicht zur regulären Armee. Es würde mir gar nicht gefallen, sie gegen ihr eigenes Volk führen zu müssen.«
»Sie würden dir keine Gefolgschaft leisten, nicht in einer derartigen Situation«, sagte Athanaric immer noch in gelassenem Tonfall. »Ich werde in meinem Bericht die Empfehlung aussprechen, sie in eine andere Diözese in Marsch zu setzen. Trotzdem wünschte ich, Festinus hätte eingewilligt, das Getreide anzunehmen. Man kann von den Terwingen kaum erwarten, daß sie mit leeren Mägen nach Marcianopolis marschieren.«
Sebastianus lachte rauh. »Da siehst du, was verschmähte Liebe alles zustande bringt!«
»Vielleicht eher verletzter Stolz. Chariton, wie hat sich denn diese Sache mit der Hochzeit, die keine war, wirklich zugetragen?«
Ich starrte auf meine Hände, froh darüber, daß Festinus’ Sklaven bei den Ruhebänken am unteren Ende des Tisches so knauserig mit dem Wein gewesen waren: Ich brauchte einen klaren Kopf. »Kurz nachdem Festinus sein Amt als Statthalter in Ephesus angetreten hatte, klagte er den älteren Theodoros des Verrats an – einzig und allein seines Namens wegen. Es war kurz nach jener Verschwörung im Zusammenhang mit diesem Orakel, und er spielte sich überaus pflichteifrig auf, um seine Erhabene Majestät zu beeindrucken. Es sprach nichts dafür, Theodoros mit dergleichen Dingen in Verbindung zu bringen, doch Festinus ließ einige der Sklaven foltern und das Haus durchsuchen. Es gelang ihm, den Hausherrn zu erniedrigen, so daß dieser auf dem Bauche vor ihm kroch und um Gnade flehte. Als der ältere Theodoros einwilligte, seine Tochter mit dem Statthalter zu verheiraten, so geschah dies nur, weil er Angst vor ihm hatte. Mein Freund, der jüngere Theodoros, war wütend darüber. Ich glaube, unter diesen Umständen wäre dies jeder gewesen. Er versuchte, seinem Vater die Hochzeitsvorbereitungen auszureden, aber er war ja damals noch abhängig von seinem Vater und konnte rechtlich gesehen nichts tun. Nun, das Mädchen verschwand. Mehr kann ich euch auch nicht erzählen.«
»Ich kann Theodoros deswegen wirklich nicht tadeln«, meinte Sebastianus nachdenklich. »Auch wenn es für einen vornehmen Mann eine Schande bedeutet, inmitten seiner Hochzeitsgirlanden ohne Braut alleingelassen zu werden. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, daß das Mädchen sehr erpicht darauf war, ihn zu heiraten, selbst wenn kein Wagenlenker im Hintergrund auf sie wartete. Obwohl es verdammt schwer ist, zu sagen, was so ein Mädchen aus guter Familie eigentlich denkt. Ich weiß nur, daß sie niemals so furchtbar scharf darauf zu sein scheinen, überhaupt jemanden zu heiraten.«
Athanaric lächelte. »Hat dein Vater dich denn inzwischen bei einigen Bewerberinnen eingeführt?«
»Bei ein oder zwei. Ich sehe ja niemals mehr von ihnen als ihre Haare; sie blicken ununterbrochen auf den Fußboden. Eingedenk meiner Verantwortung, ein Mädchen zu heiraten und kleine Römer zu zeugen, versuche ich, mit der in Frage stehenden jungen Dame ins Gespräch zu kommen. Interessiert sie sich für Literatur? Wenn es sich um griechische handelt, weiß sie, daß Homer ein großer Dichter ist; wenn es sich um lateinische handelt, bewundert sie Vergil. Wenn man ihr sehr zusetzt, zitiert sie unter Umständen einige Verse. Hat sie vielleicht irgendwelche Vorlieben, pflegt sie zum Beispiel gerne ihren Garten? Sie stimmt mir zu, Gärten seien etwas sehr Hübsches. Ist das Wetter für diese Jahreszeit nicht wirklich außerordentlich schön? frage ich, und meine Verzweiflung wächst zusehends. Ja, antwortet sie und starrt auf den Fußboden. Wenn ich dann nach Hause komme, merke ich, daß man von mir erwartet, mich schrecklich in sie verliebt zu haben. Glücklicherweise sind die finanziellen Regelungen bisher immer schiefgegangen, und Vater muß noch eine Braut finden, die seinen Erwartungen entspricht. Ich weiß gar nicht, was ich anfangen sollte, wenn ich so eine junge Frau aus guter Familie im Bett hätte.«
Athanaric lachte. »Ich habe mir immer schon gedacht, daß ich in der Hochzeitsnacht meiner Frau Vergil vorlesen müßte. Es scheint das einzig genehme Gesprächsthema zu sein. Immerhin, gesegnet seien die Finanzen der zur Debatte stehenden Geschöpfe; Vater kann nur wenig Mädchen finden, deren Mitgift er wirklich billigt. Was willst du mit Daphne tun, wenn dein Vater eine Ehe für dich arrangiert?«
»Mach dir keine Hoffnungen: Ich werde sie dir nicht abtreten, das ist sicher. Ich werde sie freilassen, ihr ein Haus kaufen und ihr eine anständige Aussteuer geben, damit sie davon leben kann. Wenn sie jemanden heiraten will, dann ist das ihre Sache, andernfalls würde ich vielleicht gerne auf sie zurückgreifen. Jedenfalls möchte ich nicht, daß sich sonst noch jemand mit ihr einläßt. Sie ist ein großartiges Mädchen.«
»Das stimmt«, meinte Athanaric. Er lehnte sich auf seiner Ruhebank zurück und sann über Daphnes Vorzüge nach. Die Terwingen waren endlich vergessen. »Sie hat einen großartigen Sinn für Humor.«
»Und sie kann singen, vergiß das nicht«, warf Sebastianus ein.
»Oh, sie entspricht nicht meinen Idealvorstellungen – ich bin nicht irgend so ein Chaireas oder Charikles, die einer Frau ewige Liebe schwören – aber sie ist hübsch, und sie ist kurzweilig, und ich kann mich gut mit ihr unterhaken. Das ist es wohl mehr oder weniger, was du von einer Frau erwarten kannst, aber es ist leider sehr viel mehr als das, was du von einer erwarten kannst, die für eine Ehe in Frage kommt.«
»Nur allzu wahr«, seufzte Athanaric. »Wie sieht denn deine Idealfrau aus?«
»Ah!« Sebastianus richtete sich auf und setzte seinen Weinbecher ab. »Nun, ich habe darüber nachgedacht und bin zu der Ansicht gekommen, ich würde jederzeit eine wie die Lesbia des Catullus nehmen. ›Nimis elegante lingua‹, ›dulce ridentem‹. Ich hätte nichts dagegen, wenn der Rest der Beschreibung ebenfalls auf sie zuträfe – groß und schlank, mit hübschen Fesseln und dunklen Augen –, aber mir ist es eigentlich wichtiger, daß man sich mit ihr unterhalten und seinen Spaß mit ihr haben kann. Ich würde gerne eine intelligente Frau aus meiner eigenen Klasse heiraten. Sie soll ihren Wert kennen und sich mit mir unterhalten können. Catullus war glücklich zu schätzen. Wenn Lesbia ihn später betrog, dann sicherlich nur, weil er den Fehler beging, solche überschwengliche Gedichte an sie zu richten: ›Lingua sed torpet, tenuis sub artus flamma demanat…‹«
»Aber das ist doch von Sappho«, rief ich aus.
»Catullus hat es bearbeitet«, erwiderte Sebastianus. »Ihr Griechen lest nie etwas, das nicht in eurer eigenen Sprache geschrieben ist.«
»Warum sollten wir, wenn alles, was die Lateiner tun, darin besteht, griechische Gedichte zu ›bearbeiten‹?«
Athanaric lachte. »Hast du jemals von irgendwelchen lateinischen Gedichten gehört, abgesehen von denen, die Sebastianus dauernd zitiert?«
»Ich hörte, wie Festinus damals in Ephesus etwas zitierte«, erwidertre ich leichtsinnigerweise. »Es lautete: ›Vitas inuleo me similis, Charis‹, aber ich hielt nicht so furchtbar viel davon.«
»Ich glaube, das muß Chloe heißen«, korrigierte mich Sebastianus sofort. »Aber ich stimme dir zu, es ist eins von den schwächeren Gedichten des Horaz. Und ich kann mir sowieso nicht recht vorstellen, daß du den eigentlichen Sinn von Liebesgedichten mitbekommst. Ich will es dir erlassen, Catullus zu lesen. Aber was ist mit dir, Athanaric? Wie sieht dein Idealbild von einer Frau aus?«
»Im Gegensatz zu dir habe ich noch nie darüber nachgedacht«, entgegnete er. »Ich nehme an… nun, rechtschaffen sollte sie sein. Aufrichtig.«
»Unmöglich!« rief Sebastianus und lachte.
»Ich meine nicht eine, die die Wahrheit sagt«, erwiderte Athanaric und lachte jetzt ebenfalls. »Wozu sollte das auch gut sein? Aber eine, die ihren eigenen Wert kennt, um deine Worte zu gebrauchen. Unbestechlich, mutig, edel und hochherzig, eine Frau, die ein Haus führen und sich gegen die Welt behaupten kann.«
»Eine gotische Prinzessin also«, sagte Sebastianus und lächelte.
»Solch eine Frau hast du eben beschrieben.«
Athanaric machte einen verlegenen Eindruck. Ich mußte an seine Kusine Amalberga denken. »Genau wie Frithigerns Frau«, warf ich ein und versuchte, nicht allzu bitter zu klingen. Auch wenn es töricht und unnütz war: Ich wünschte mir ganz einfach, Athanaric wäre derjenige mit einer Vorliebe für intelligente, großgewachsene, schlanke Frauen mit dunklen Augen gewesen. »Wie ist sie denn?« fragte Sebastianus mich interessiert. »Tapfer«, entgegnete ich. »Und sie behält einen klaren Kopf. Ich habe ihr wegen eines Kindbettfiebers einen Besuch gemacht; sie hatte ziemliche Schmerzen, war aber immer noch in der Lage, ihren Pflegerinnen Anweisungen zu erteilen und deren Einwände mir gegenüber beiseite zu fegen. Ich glaube, sie ist außerdem schön – sehr hübsch und zart jedenfalls.«
»Das stimmt«, meinte Athanaric. »Ja, ich glaube, ich habe an eine Frau wie sie gedacht.«
»Was hält dein Vater davon?« fragte Sebastianus. »Als ich ihn das letztemal gesehen habe, wollte er dich unbedingt mit einer reichen römischen Erbin verheiraten.«
»Daraus ist nichts geworden«, erwiderte Athanaric ohne besonderes Interesse. »Es stimmt, mein Vater möchte mich mit einer Römerin verheiraten. Aber es muß ja schließlich auch römische Mädchen geben, die nicht die ganze Zeit auf den Fußboden starren.«
Sebastianus schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich glaube, sie werden von klein auf dazu erzogen.« Dann sah er mich mit einem Ausdruck des Bedauerns an. »Es tut mir leid«, sagte er.
»Es war taktlos von mir, in Anwesenheit eines Eunuchen von Heirat zu reden.«
»Es macht mir nichts aus«, erwiderte ich. »Außerdem klingt die Sache bei euch ja nicht gerade sehr verlockend.« Ich erhob mich und streckte mich. Es war spät, und ich war müde. »Ich werde euch ein Liebesgedicht zitieren: ›Der Mond ging dahin, die Plejaden sind fort; Mitternacht ist vorbei, bald zieht die Dämmerung herauf.‹«
Sebastianus lachte. »Und du mußt ganz allein zu Bett gehen!«
»Nun, mit deiner Erlaubnis, vortrefflicher Sebastianus, würde ich mich morgen gerne auf den Rückweg nach Novidunum machen. Ich habe mit den Ärzten des Heerführers Maximus gesprochen, und ich sehe keinen Grund, noch länger hierzubleiben. Um die Wahrheit zu sagen, ich finde diese Stadt, abgesehen von der augenblicklichen Gesellschaft, recht unangenehm.«
»Ich auch«, räumte Athanaric ein. »Ich hatte vor, Frithigern die Anweisungen von Lupicinus zu überbringen. Wir können ein Stück des Weges gemeinsam reiten.«
»Sehr gut«, meinte Sebastianus. »Aber schleppe ihn bitte nicht mit dir mit, um irgendwelche Goten zu behandeln.«
Athanaric warf ihm einen gereizten Blick zu. »Warum denn nicht?«
»Weil Frithigern einen Aufstand plant. Ich möchte nicht, daß er meinen Chefarzt entführt. Wenn es zum Krieg kommt, möchte ich, daß Chariton Römer behandelt und nicht Goten.«
»Es gibt wahrscheinlich gar keinen Krieg«, protestierte Athanaric. »Und die Terwingen könnten gut einen Arzt gebrauchen.«
»Dann soll Lupicinus sich darum kümmern. Ich weiß nicht, warum er das nicht tut; es liegt in seinem eigenen Interesse, die Gesundheit der Goten zu erhalten. Ich werde es morgen mit ihm besprechen. Ich bleibe noch etwas; da ich schon einmal in Marcianopolis bin, kann ich mit dem Feldherrn ebensogut noch andere Dinge besprechen. Daphne kann mir Gesellschaft leisten.«
»Sei nicht so unausstehlich«, fuhr Athanaric ihn an. »Gute Nacht.«
Athanaric begleitete mich bis zur ersten Poststation hinter Marcianopolis. Er war immer noch verärgert, daß Sebastianus es ihm verboten hatte, mich zu den Goten mitzunehmen. »Du wärst doch mitgekommen, oder?« fragte er mich.
Ich nickte. In Skythien wartete nicht allzuviel Arbeit auf mich, und ich war sicher, daß die Terwingen in Mösien dringend medizinische Hilfe benötigten. Die Vorstellung, Frithigern könnte mich festhalten, schien mir ganz einfach lächerlich, und das sagte ich auch.
»Genau«, sagte Athanaric. »Ich glaube nicht, daß es jetzt zu einem Krieg kommt, es sei denn, Lupicinus begeht irgendwelche außergewöhnlichen Grausamkeiten. Außerdem bist du Frithigerns Gastfreund und deshalb gegen jede Gewalttätigkeit gefeit. Die Goten nehmen Gastfreundschaft viel ernster als die Römer. Aber Sebastianus glaubt, jeder verhalte sich so wie ein römischer Befehlshaber.«
»Ich dachte, du bewunderst römische Befehlshaber.«
»Oh, es ist mehr an Rom als die paar Lupicini des Kaiserreichs! Es ist mehr an Rom als je an irgendeinem gotischen Königreich dran sein wird. Aber es stimmt, daß die Goten redlicher sind.« Er ritt ein paar Minuten lang schweigend neben mir her, dann runzelte er die Stirn und fragte mich plötzlich: »Wie ist diese Geschichte mit Theodoros’ Schwester denn nun wirklich gewesen?«
»Warum willst du das wissen?« fragte ich.
»Reine Neugier. Irgend etwas stimmt nicht daran; ich habe so ein Gefühl. Irgend etwas ist mir entgangen, was mir hätte auffallen müssen. Etwas, was auf der Hand liegt. Willst du mir nicht auf die Sprünge helfen?«
»Um ehrlich zu sein, ich finde, daß die Sache dich nichts angeht. Es ist, jedenfalls kein Landesverrat im Spiel oder etwas anderes dergleichen, nichts, was den Staat angeht.«
»Das habe ich auch nicht behauptet. Ich möchte aus rein persönlichen Gründen wissen, was wirklich passiert ist. Ich gehe den Dingen nun einmal gerne auf den Grund. Ich möchte verstehen, was um mich herum vorgeht.«
»Oh, bei Artemis der Großen! Etwas zu verstehen ist ja ganz schön, aber du sprichst davon, jemandem seine Geheimnisse zu entreißen. Es könnte Menschen verletzen, auf diese Weise bloßgestellt zu werden, hast du daran nicht gedacht? In einem Fall wie diesem ist Neugier ungehörig.«
»Ich wollte niemanden verletzen; ich wollte nur die ganze Wahrheit kennenlernen. Wenn du etwas mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun hast, brauchst du keine Angst davor zu haben, daß ich darüber einen Bericht an Festinus anfertige. Es ist ganz einfach… wie ein Jucken in meinem Ohr: Ich versuche dauernd, mich zu kratzen, und kann nicht an die Stelle gelangen, wo es juckt. Du hast Angst, es könne dir weh tun, nicht wahr? Und wenn ich dir nun verspreche, niemandem etwas davon zu erzählen? Nein? Nun, vielleicht erzählt Theodoros mir mehr darüber. Ich werde ihn fragen, wenn ich das nächste Mal in Tomis bin.« Er seufzte und fügte hinzu:
»Was vorerst leider nicht der Fall sein wird.«
Ich hoffte, es würde genug Zeit bis dahin vergehen, so daß er das Ganze vergaß. Aber ich sagte nichts.
An der ersten Poststation wechselte Athanaric sein Pferd und galoppierte in nördlicher Richtung davon. Ich sah ihm nach, wie er davon ritt, der sommerliche Staub wirbelte von den Hufen seines Pferdes, sein kurzer Umhang flatterte über seiner rechten Schulter, seine kräftigen Hände hielten die Zügel, die Augen waren aufmerksam auf die Straße gerichtet, seine Haare wehten im Wind. Mir fiel noch ein Liebesgedicht ein: »Ohne daß du es weißt, treibst du meine Seele voran.« Aber er konnte mir gefährlich werden. Es war nicht gut, mir zu wünschen, er möge mein Geheimnis entdecken. Es war nicht gut, im Zusammenhang mit ihm überhaupt etwas zu wünschen. Ich mußte in Tomis Station machen, bevor ich nach Novidunum zurückkehrte, um Thorion über den Fehlschlag meiner Mission zu berichten und um nach Melissa und meinem Neffen zu sehen. Ich würde den Besuch außerdem dazu benutzen, Thorion zu bitten, er solle mit seinen Bemerkungen Athanaric gegenüber äußerst vorsichtig sein.