19
Ich wünschte mir verzweifelt, mit Athanaric sprechen zu können, um herauszufinden, was bei den Römern los war und wie es meiner Familie und meinen Freunden ging. Aber als ich Amalberga bat, ein Zusammentreffen mit ihm zu ermöglichen, weigerte sie sich, und mir wurde klar, daß ich isoliert werden sollte, abgeschnitten von jedem, der mich in meinem Entschluß bestärken könnte. In jener Nacht wurden mir meine Schuhe und Gewänder fortgenommen, so daß ich nach Einbruch der Dunkelheit nicht hinausschlüpfen konnte, und am nächsten Morgen wurde ich von Wachsoldaten in das Hospital geleitet und wie ein Gefangener in Edicos Obhut übergeben. Edico machte einen verlegenen Eindruck.
»Ich wußte nicht, daß du eine Edelfrau bist«, sagte er. »Es tut mir leid, daß ich dich beleidigt habe, edle Charis.«
»Ach, sei doch still!« entgegnete ich ärgerlich. »Meine Familie ist nicht annähernd so bedeutend, wie jedermann hier zu glauben scheint; sie hat ganz einfach Geld. Das einzige, was mich beleidigt, ist, wenn ihr darauf besteht, mich die ganze Zeit über bewachen zu lassen.«
»Der König hat angeordnet, dir auf keinen Fall eine Gelegenheit zur Flucht zu geben«, meinte Edico und machte einen höchst unglücklichen Eindruck. »Es tut mir leid, aber ich muß darauf bestehen, daß ab sofort immer jemand bei dir ist.«
Ich verwünschte ihn leise und wandte mich ab, um einige Arzneimittel zuzubereiten. Das waren ja wirklich schöne Aussichten! Einer der Gehilfen kam zu meiner Bewachung; ich zog ihn gleich zur Arbeit heran, ließ ihn die Alraunwurzel zerreiben und fragte mich, wie das Ganze enden sollte. Gegen Ende des Vormittags ging ich, um nach meiner Patientin mit dem Kaiserschnitt zu sehen. Ich hatte sie bei sich zu Hause behandelt. Die Hebamme begleitete mich. Ich ging sehr schnell und blickte mich überall im Lager aufmerksam um, und die Hebamme mußte rennen, um Schritt mit mir zu halten. Vor dem Wagen der Frau fiel ich beinahe über Athanaric. Er saß in aller Ruhe beim nächstgelegenen Brunnen, schärfte sein Schwert, und sah von Kopf bis Fuß gotisch aus. Ich blieb unvermittelt stehen und sah ihn an. Er blickte schnell zu dem Wagen und schüttelte den Kopf. Ich begriff, was er damit sagen wollte, und tat so, als wartete ich nur darauf, daß die Hebamme mich einholte, dann betrat ich den Wagen.
Die Kindsmutter schien sich gut zu erholen. Ich verband die Wunde eigenhändig, dann schickte ich die Hebamme fort, um noch ein anderes Arzneimittel zu holen, das ich angeblich vergessen hatte. Sie ging los, und ich tat so, als hätte ich das Arzneimittel nun doch gefunden. Ich flößte der Frau etwas davon ein, dann trat ich ohne Begleitung ins Freie. Dort wartete Athanaric auf mich.
Ich eilte zu ihm; er ergriff meinen Arm und zog mich zur Seite. »Hier!« sagte er und deutete auf einen Platz unter dem nächststehenden Wagen. Ich kroch darunter, und er folgte mir. Wir waren außer Sicht und so allein, wie man in dieser übervölkerten Stadt nur sein konnte. »Wird die Frau zurückkommen?« fragte Athanaric.
»Ich habe sie fortgeschickt, um ein Arzneimittel zu holen«, antwortete ich. »Sie wird wahrscheinlich annehmen, daß sie mich auf dem Weg hierher verpaßt hat und zum Hospital zurückgehen. Wir haben etwa eine halbe Stunde Zeit, bevor sie anfangen, nach mir zu suchen.«
Athanaric seufzte und rieb sich die Stirn. »Werden sie denn nach dir suchen?«
»Sie haben gerade den strikten Befehl erhalten, mich ununterbrochen zu bewachen, damit ich nicht fliehen kann.«
»Aber du brauchtest gar nicht bewacht zu werden«, meinte er bitter. »Du kannst sowieso nicht fliehen. Im Augenblick jedenfalls nicht. Sämtliche Soldaten, die sonst auf den Beutezügen sind, befinden sich derzeit hier, und die Hälfte davon kennen mich, und allesamt scheinen sie dich zu kennen. Ich könnte dich niemals hier herausbekommen. Aber ich mußte unbedingt mit dir sprechen.«
Im Halbdunkel unter dem Wagen blickten seine Augen aufmerksam und ernst. Er sprach in seinem schnellen, abgehackten Griechisch, und er sprach mit gedämpfter Stimme, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich fühlte einen Kloß in meiner Kehle und schluckte angestrengt. »Schön, daß du gekommen bist«, flüsterte ich. »Ich brauche… ich fühle mich sehr alleine hier. Amalberga meint, ich sollte jemanden heiraten, um nicht als Geisel benutzt werden zu können.«
»Tu das nicht«, sagte Athanaric. »Sie würden es nicht wagen, dir etwas anzutun. Dein Bruder wird noch in diesem Herbst aus Tomis fortgehen; ihm ist für sofort eine andere Statthalterschaft angeboten worden, und zwar in Bithynien. Als Geisel nutzt du ihnen sowieso nichts. Würdest du wirklich jeden Goten töten, der versucht, dich zu heiraten?«
»Wahrscheinlich nicht«, räumte ich ein. »Aber ich will, daß sie es glauben. Ich will nicht, daß es jemand versucht.«
»Falls sie dir glauben, müßtest du eigentlich sicher sein. Sie haben wahrscheinlich keine Angst vor Messern, aber vor Gift fürchten sie sich. Dieser Krieg kann nicht ewig dauern, und irgendwie werden wir dich schon hier herausbekommen.«
Ich hatte mir selbst und auch anderen eingeredet, daß mich nichts mehr erwarte, falls ich zu den Römern zurückkehren könnte. Ich hatte nicht geglaubt, daß mein Herz bei dem Gedanken an Flucht wie rasend hämmern würde. Aber vielleicht lag es auch nur an Athanaric.
»Wie wird es weitergehen?« fragte ich ihn. »Glaubst du, daß der Krieg bald zu Ende ist? Kannst du einen Waffenstillstand aushandeln?«
Er schüttelte den Kopf. »Seit meiner Ankunft hier wollten mir alle klarmachen, was für einen Waffenstillstand ich aushandeln müsse. Aber ich bin nicht in offizieller Mission hier. Ich bin nach Ägypten versetzt worden und bin nur gekommen, weil jemand den Versuch machen mußte, dich auszulösen.«
»Nach Ägypten? Aber…«
»Sie trauen mir nicht mehr bei Hofe«, erklärte Athanaric und lächelte ein wenig unglücklich. »Ich habe mich seinerzeit zu sehr für Frithigern eingesetzt. Und sie mißtrauen inzwischen allmählich allen Goten. Mein Vater befindet sich praktisch unter Hausarrest. Aber der oberste Palastbeamte schätzt mich nach wie vor, und so behalte ich meinen Posten und meinen Rang, werde jedoch woandershin versetzt. Sie glauben bei Hof, daß ich in Ägypten, wo ich auf die Nachfolger deines alten Freundes Athanasios aufpasse, keinen Schaden anrichten kann. War es das, was der Bischof über dich herausgefunden hat? Daß du eine Frau bist?«
Ich nickte. »Wirst du etwa Ärger bekommen wegen dieses Ausfluges?«
»Falls ich jetzt schnurstracks nach Ägypten zurückkehre, keinen allzu großen. Sebastianus und dein Bruder können für mich bürgen. Außerdem brauchten sie mich unbedingt; es gab sonst niemanden, den sie in das gotische Lager zu schicken wagten.«
»Werden die Goten dich gehen lassen?«
»Oh, mach dir keine Sorgen deswegen. Auch Colias ist mein Vetter, und seine Männer haben ihre Befehle von meinem Vater entgegengenommen. Sie werden sich nicht mit mir anlegen wollen. Aber ich kann dich hier nicht rausschaffen. Ich habe die ganze Nacht wachgelegen und über eine Möglichkeit nachgedacht, aber bei den vielen Soldaten, die inzwischen hier versammelt sind, hat das überhaupt keinen Zweck. Die Festungsanlagen wimmeln vor Wachen, und ich soll bis heute abend verschwunden sein. Frithigern traut mir nicht und will nicht, daß ich länger bleibe. Du wirst ganz einfach tapfer sein müssen und warten. Ich habe mit einigen von Colias’ Männern gesprochen: Sie werden versuchen, dich zu beschützen, falls das Lager erobert wird. Ich wünschte nur, ich könnte mehr tun.«
»Dann werde ich eben warten«, meinte ich und versuchte, mich in mein Schicksal zu ergeben. »Zumindest habe ich genug Arbeit, um mich in Trab zu halten. Wie macht sich Arbetio in Novidunum?«
Athanaric sah mich einen Augenblick lang an, dann zuckte er die Achseln. »Ziemlich gut. Er hat noch eine Hilfskraft angeheuert. Die Soldaten meinen trotzdem, du seiest ein besserer Arzt. Was soll das heißen, daß du die Terwingen vor einer Epidemie bewahrt hast?«
»Ich habe sie dazu veranlaßt, Abwasserkanäle zu bauen.«
»Und so etwas verhindert eine Epidemie? Eine Epidemie hätte uns nützen können.«
»Sie hätte vor allem die Alten und die Kinder getötet, nicht die Krieger. Ich habe versucht, keine Soldaten zu behandeln – mach dir keine Sorgen deswegen. Was ist mit meinen Sklaven in Novidunum? Weißt du, wie es ihnen geht?«
»Arbetio beaufsichtigt sie für dich. Er hat dieses Mädchen, das er von Valerius gekauft hat, geheiratet, und sie leben alle zusammen in dem von dir gekauften neuen Haus. Arbetio legt etwas Geld für den Pachtzins für dich zur Seite. Du kannst ihm vertrauen. Er wollte sich im Austausch gegen dich anbieten, aber Sebastianus meinte, ein dickes Lösegeld würde eher zum Erfolg führen.«
»Haben wir noch ein paar Arzneimittel von Philon in Ägypten bekommen?«
Athanaric antwortete nicht. »Guter Gott, Charis!« rief er statt dessen aus. »Warum um alles in der Welt hast du niemandem erzählt, wer du bist? Sebastianus hätte dich auf der Stelle nach Hause geschickt, dann wärst du nicht in dieses Schlamassel geraten. Du hast hier nichts zu suchen.«
»Und wo glaubst du, habe ich etwas zu suchen?« fragte ich ihn.
»Vielleicht in Festinus’ Haus, in das mein Vater mich geschickt hätte?«
»Natürlich nicht. Aber ich habe mit deinem Bruder gesprochen, ich weiß, daß er dich schon seit Jahren zu überreden versucht, heimzukehren.«
»Heimzukehren, wohin? Um mit Schande bedeckt in seinem Haus herumzusitzen oder irgend so einen Tölpel zu heiraten und meine Zeit damit zuzubringen, Homer zu lesen und auf den Fußboden zu starren? Ich bin Arzt, und ich will es bleiben.«
»Sebastianus ist kein Tölpel, und er würde nicht von dir erwarten, daß du deine Zeit damit zubringst, auf den Fußboden zu starren.«
»Mach dich nicht lächerlich. Sebastianus würde mich nicht heiraten.«
»Er hat deinen Bruder darum gebeten, einen Ehevertrag aufzusetzen, und dein Bruder ist einverstanden.« Ich starrte ihn fassungslos an.
»Verstehst du das nicht?« fragte er. »Du warst doch in Marcianopolis dabei, als er seine Vorstellung von einer vollkommenen Frau entwickelte. Es muß dir doch klar gewesen sein, daß die Beschreibung auf dich zutrifft. Einen Tag, nachdem ich ihm erzählt hatte, wer du wirklich bist, sagte er zu mir, er wolle dich heiraten. ›Ich werde kein zweites Mal einer solchen Frau begegnen‹, sagte er.«
»Aber… aber seine Familie ist doch sicherlich von höherem Rang als die meine, und ich glaube nicht, daß meine Mitgift so besonders hoch ist.«
»Tausend Pfund in Gold wären genug. Aber im Grunde genommen ist Sebastianus bereit, die Mitgift für das Lösegeld auszugeben und den Vertrag ohne Billigung seines Vaters abzuschließen. Deine Familie ist genausogut wie seine – von konsularischem Rang. Und er möchte dich heiraten.«
»Aber warum? Das halbe Kaiserreich zerreißt sich über mich die Zunge.«
»Mein Gott nochmal! Was möchtest du denn, was ich dir darauf antworte? Daß er dich will, weil du intelligent, gebildet, edel, reich, mutig, tugendhaft und sehr hübsch bist? Daß er all dies mir gegenüber erwähnt hat? Du bist es doch, die ihm das alles vor Augen geführt hat. Du weißt doch ganz genau, daß er so denkt; warum mußt du es denn unbedingt von mir hören?« Ich saß dort im Halbdunkel unter dem Wagen und starrte Athanaric einen Augenblick lang an, dann schüttelte ich den Kopf. Plötzlich verspürte ich den heftigen Wunsch zu weinen, und ich preßte die Hand gegen den Mund, um mich daran zu hindern. »Ich weiß, daß ich intelligent bin«, sagte ich nach einer Pause. »Aber ich wollte nicht… das heißt… oh, heiliger Christ!« Ich biß in den Ärmel meiner Tunika, aber es half nichts: Mir kamen die Tränen. Ich war sehr müde von der harten Arbeit und all dem Ärger und der Warterei, und plötzlich schien ich es nicht ertragen zu können, daß Athanaric ärgerlich war und mich indirekt beschuldigte, Sebastianus verführt zu haben.
Er sah mich überrascht an. »Ich dachte…« begann er. »Du freust dich doch darüber, oder etwa nicht? Du bist doch in ihn verliebt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Aber… aber wen hast du denn damals in Tomis gemeint? Du hast gesagt, daß du in jemanden verliebt bist. Ich dachte…«
»Laß nur«, entgegnete ich. Wenn er nicht von selbst darauf kam, würde ich es ihm nicht erzählen; ich würde mich nur lächerlich machen. Wenn er auch nur halb soviel empfand wie ich, sagte ich mir, wüßte er es. »Ich mag Sebastianus sehr gerne, aber ich bin nun einmal nicht in ihn verliebt. Und ich bin mir nicht sicher, ob es klug von ihm ist, mich heiraten zu wollen. Inzwischen kann ich mir wirklich nicht mehr vorstellen, mich mit einem Mann irgendwo als würdige Ehefrau niederzulassen.«
»Ich dachte mir, du könntest deine Mitgift dazu benutzen, ein privates Hospital zu gründen«, meinte Athanaric – ein aufregend einfacher und naheliegender Vorschlag, der mir den Atem nahm.
»Würde Sebastianus das denn billigen?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er ehrlich. »Aber wen hast du denn damals gemeint? Jemanden in Ägypten – diesen Burschen Philon?«
»Laß nur! Nein, natürlich nicht Philon. Das Ärgerliche an dir ist, daß du immer alles wissen willst, du kannst niemals etwas auf sich beruhen lassen. Wann bist du eigentlich zuerst darauf gekommen, die Wahrheit über mich zu erraten? Schon vor meiner Gefangennahme?«
Zwei von Frithigerns Männern rannten am Brunnen vorbei und hämmerten an die Wagentür meiner Patientin. Athanaric zog mich weiter in den Schatten zurück. »Die Suche hat begonnen«, sagte er. »Ich denke, wir sollten die Diskussion darüber, warum ich das Offensichtliche nicht früher entdeckt habe, bis zum nächsten Mal verschieben.«
»Wird es ein nächstes Mal geben?«
»Bei Gott, ich hoffe doch. Obwohl ich nicht weiß, wann ich wieder aus Ägypten weg darf. Vielleicht gelingt es Sebastianus, dich vorher rauszuholen. Doch was auch immer geschieht, laß dich von niemandem heiraten. Es würde alles nur viel komplizierter machen, dich hier rauszuholen. Und es würde Sebastianus mehr als alles auf der Welt verletzen. Kannst du ihm eine Botschaft übermitteln, selbst wenn du nicht in ihn verliebt bist?«
»Sag ihm, daß mich sein Angebot sehr ehrt und ich sehr dankbar dafür bin, die Klugheit dieses Entschlusses jedoch bezweifle. Und sag ihm, daß es mir gutgeht. Erzähl das auch Thorion und bitte ihn, er soll sich keine Sorgen machen, wenigstens klagt mich hier niemand der Zauberei an. Ich muß gehen; ich kann es nicht zulassen, daß diese Männer meine Patientin aufregen. Liebster Freund, ich wünsche dir alles Gute!« Er ergriff meine Hand, sah mir ins Gesicht und runzelte die Stirn. Ich hörte, wie im Wagen meiner Patientin Leute zu rufen anfingen. Dann schrie das Baby. Ich konnte nicht anders, ich beugte mich vor und gab Athanaric ganz rasch einen Kuß – ein gestohlenes Vergnügen! –, dann riß ich mich von ihm los, glitt unter dem Wagen hervor und lief los, um meiner Patientin zu Hilfe zu kommen. Als ich danach mit den Wachen herauskam, warf ich rasch einen Blick unter den Wagen, doch Athanaric war fort.