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Amalberga fand genau die richtige Art, mit mir umzugehen. Ich hätte niemals gedacht, daß man mich so leicht lenken könne: Meine Familie und meine Freunde würden darin wohl mit mir übereinstimmen. Doch Amalberga ging so geschickt mit mir um wie ein Kindermädchen mit einem widerspenstigen Kind oder ein geschickter Reitknecht mit einem störrischen Pferd. Und ich merkte es nicht einmal, ehe es geschehen war. Fast blind vor Tränen wurde ich in den rückwärtigen Teil des Hauses geführt, in dem die Frauen wohnten. Amalberga saß zusammen mit einigen der anderen Edelfrauen an der Feuerstelle und spann. Sie machte einen äußerst erstaunten Eindruck, als die Wachsoldaten ihr erklärten, was passiert war, dann sprang sie auf, schickte die Männer fort und führte mich in ein leeres Schlafzimmer. »Leg dich eine Weile hin«, sagte sie zu mir und ließ mich allein. Und ich weinte – ziemlich hysterisch, nehme ich an – etwa eine Stunde lang, und lag dabei auf dem Bett, biß in meine Ärmel, wand mich in Krämpfen und schluchzte hemmungslos. Ich hätte mir ein Messer in den eigenen Leib stoßen können; ich war wütend auf ihn, weil er ein weiblicher Körper war und weil er mich verraten hatte.
Als das Schluchzen etwas nachgelassen hatte, kam Amalberga wieder herein und stand in der offenen Tür.
»Hochgeschätzte Chariton«, sagte sie auf griechisch, »eine meiner Frauen hat ein krankes Kind; sie ist ganz verzweifelt und fleht darum, daß jemand nach ihm sieht. Ich weiß natürlich, daß du müde bist, vortreffliche Chariton, aber könntest du vielleicht einen Blick auf das Baby werfen?«
In diesem Augenblick haßte ich sie abgrundtief, weil der von ihr geäußerte Verdacht zu meiner Bloßstellung geführt hatte. Aber wie hätte ich mich weigern können, ein Baby zu untersuchen? Ich stand auf, unterdrückte meine letzten Schluchzer und ging, um nach dem kranken Kind zu sehen. Es litt an Ohrenschmerzen und hatte Fieber. Ich gab ihm etwas gegen das Fieber ein wenig Nachtschatten – und machte ihm außerdem heiße Kompressen, um seine Ohrenschmerzen zu lindern. Dann beruhigte ich die Mutter und versicherte ihr, das Kind sei keineswegs so furchtbar krank und es werde sich bestimmt erholen. Amalberga fand noch einen anderen Patienten, der angeblich meine Hilfe dringend brauchte, fragte jedoch, ob ich mich vielleicht zuerst waschen wollte: »Ich weiß, daß ihr griechischen Ärzte großen Wert auf Hygiene legt, wenn ihr eure Patienten behandelt. Ich habe das Badehaus vorbereiten lassen, wenn du dich also dorthin begeben willst.« So badete ich, während mehrere Sklaven und einige von Amalbergas Frauen hereinschauten, um sicherzugehen, daß ich wirklich kein Mann und auch kein Teufel war.
Als ich aus dem Bad stieg, waren meine alten Kleider verschwunden, und an ihrer Stelle hatte jemand eine lange Tunika mit Ärmeln, ein paar Hausschuhe und einen goldverzierten Gürtel bereitgelegt. Die Sklaven hielten mir das Gewand erwartungsvoll entgegen, und ich starrte es an. Doch was hätte es für einen Sinn gehabt zu protestieren? Ein Patient wartete auf mich, und eine Verkleidung würde sowieso nichts mehr bewirken. Ich zog das Ding über und schnallte mir den Gürtel um die Taille. Das Gewand war aus Wolle mit einer Untertunika aus Leinen: gute Qualität. Es war dunkelgrün, ohne einen Saum oder irgendwelche Muster, und die Ärmel gingen bis zum Ellbogen, so daß sie nicht im Wege waren: praktisch für die Arbeit. Aber ich kam mir seltsam vor ohne mein Korsett, und der lange Unterrock fühlte sich unnatürlich an.
Als ich aus dem Badehaus kam, saß Amalberga wieder an ihrem Spinnrad und sprach mit den anderen Frauen. Zu ihren Füßen spielten einige Kinder. Sie lächelte, machte jedoch keine Bemerkung über mein Aussehen. Ich hätte es auch nicht ertragen, wenn sie es getan hätte. Statt dessen entschuldigte sie sich dafür, keinen Umhang besorgt zu haben: »Ich dachte, du könntest deinen alten benutzen, er muß jedoch erst gereinigt werden. Aber Frigda liegt nebenan, du brauchst nicht nach draußen zu gehen, um sie zu behandeln. Darf ich dir ein paar Ohrringe geben?«
»Nein danke«, erwiderte ich.
Amalberga lächelte entschuldigend. »Es wäre besser, wenn du etwas Schmuck trügest. Die Leute würden dir mehr Respekt entgegenbringen. Wenn jemand keinen Schmuck trägt, glauben sie, er müsse von niedrigem Rang sein, und ein Arzt von niedrigem Rang kann nur unfähig sein. Deine Patienten würden mehr Vertrauen haben, wenn du etwas Schmuck trügest. Hier, nimm diese.« Sie händigte mir ein paar feine römische Perlenohrringe aus – sie waren zweifellos aus irgendeiner thrazischen Villa geraubt worden. Ich betrachtete sie mürrisch.
»Ich würde es vorziehen, dir nichts schuldig zu sein«, erklärte ich und machte den Versuch, sie ihr zurückzugeben.
»Aber ich bin es doch, die dir etwas schuldet!« wandte Amalberga ein. »Du hast mir das Leben gerettet, und ich habe zum Dank deinen Namen bei deinem Volk zerstört. Ich schwöre, daß ich das zu keiner Zeit beabsichtigt habe. Ich hatte einen Verdacht, und ich erwähnte ihn gegenüber meinem Gemahl – doch das war vor Beginn des Krieges. Ich habe niemals erwartet, daß der König dich bloßstellt, und es tut mir aufrichtig leid. Laß mich dir zumindest dabei helfen, dir einen neuen Namen unter uns Goten zu machen. Deine Geschicklichkeit wird das meiste dazutun, aber es wird von großem Nutzen sein, wenn du wie eine Edelfrau aussiehst.« Sie schloß meine Hand um die Ohrringe, ihre lebhaften blauen Augen blickten mich aufrichtig bittend an.
Ich zögerte einen Augenblick, dann legte ich die Ohrringe an. Meine Ohren waren gleich nach meiner Geburt durchstochen worden, und die sechs Jahre, die ich ohne Ohrringe gelebt hatte, hatten nicht genügt, die Löcher zu schließen.
Amalberga nickte beifällig. »Jetzt siehst du schon eher wie eine Person von Rang aus«, sagte sie. »Darf ich dich nach deinem wirklichen Namen fragen?«
»Charis«, antwortete ich und stand unglücklich da, nackt und lächerlich in meinem neuen, grünen Gewand.
»Natürlich«, meinte Amalberga und lächelte erneut. »In Wirklichkeit hast du ihn gar nicht geändert. Du brauchst mir nichts weiter zu erzählen, wenn du nicht möchtest. Zu deiner Patientin geht es da entlang. Sie ist schwanger und hat jetzt schon seit einer Woche Schmerzen in der Leistengegend. Wir machen uns Sorgen um sie. Ich hoffe, du kannst ihr helfen.«
Amalberga war eine geschickte Herrscherin. Bei unserem ersten Zusammentreffen hatte ich ihre Selbstbeherrschung bewundert; wenige Frauen, die Kindbettfieber haben, können ihren Hebammen Befehle erteilen. Jetzt sah ich, daß Selbstbeherrschung noch das wenigste war. Sie war äußerst geschickt darin, die Leute dorthin zu bekommen, wohin sie sie haben wollte, und sie stellte sich dabei sehr viel geschickter an als ihr Mann. Sie hatte eine natürliche Begabung, zu verstehen, was andere fühlten, und sie konnte mit großem Geschick auf diesen Gefühlen spielen. Es war keine Heuchelei und kein Theater dabei im Spiel: Das war ihre Stärke. Ihre Freundlichkeit war absolut aufrichtig, und sie war wirklich interessiert daran, die Leute zu versöhnen – miteinander, mit den Anordnungen ihres Mannes, mit ihrem Schicksal. Sie verstand vollkommen, wieviel mir die Heilkunst bedeutete, und sie benutzte diese Tatsache dazu, mir meine Unfreiheit zu erleichtern. Erst als ich an jenem Abend zu Bett ging, wurde mir klar, daß ich ganz einfach nachgegeben hatte. Ich hatte Patienten, die meine Aufmerksamkeit benötigten, und ich mußte Edico dabei helfen, ein Hospital zu leiten: Aus diesem Grunde würde ich es ertragen, eine gotische Ärztin zu werden.
Bei diesem Gedanken richtete ich mich voller Entsetzen in meinem Bett auf. Ich teilte das Zimmer, ja sogar das Bett mit einer gotischen Edelfrau, deren Ehemann auf einem Beutezug war. Das Zimmer hatte einen mit Binsen ausgelegten Steinfußboden und Wände aus Flechtwerk, das mit Lehm beworfen war.
Es war schon seit einiger Zeit nicht mehr saubergemacht worden, und das dauernde Herdfeuer im Hauptraum des Frauenquartiers hatte es ganz rauchig werden lassen. Meine Gefährtin murmelte etwas und drehte sich im Schlaf um. Ich mußte an Alexandria und mein Studium denken, an den Geruch des Nilschlamms, die Rufe der Straßenverkäufer, die ehrwürdigen medizinischen Texte. Ich dachte an das Haus meines Vaters in Ephesus. Mit dieser Stadt der Barbaren hatte ich nichts gemein. Wenn ich jetzt fortlief, könnte ich vielleicht wieder bei den Römern sein, bevor sie die Neuigkeiten erhalten hätten. Salices war nicht so furchtbar weit.
Ich kletterte aus dem Bett, ergriff das grüne Gewand und zog es mir über. Der Steinfußboden war kalt. Ich suchte nach meinen Stiefeln, dann erinnerte ich mich daran, daß ich nur die Sandalen hatte und noch nicht einmal einen Umhang. Wie konnte ich aus dem Frauenquartier gelangen, die verschiedenen Wagenburgringe des Lagers überwinden, aus dem Tor schlüpfen und zwei Tage durch das feindliche Land hindurch zu den Römern zurückreiten, ohne wenigstens einen Umhang dabeizuhaben? Konnte ich denn überhaupt reiten in einem langen Frauenhemd?
Ich stand da und ballte hilflos meine Fäuste. Dann ging ich in den Hauptraum hinaus. Ich mußte irgend etwas tun; selbst wenn ich heute nacht nicht fliehen konnte, mochte mir vielleicht doch etwas einfallen, was ich tun könnte. Das Feuer brannte nur noch ganz schwach, und der Raum war leer. Meine Arzttasche stand neben der Tür, die zum Hauptteil des Hauses führte. Ich ging hin und hob sie auf. Der Ledergriff war vom vielen Gebrauch ganz schwarz, und dort, wo sie immer gegen meine Seite geschlagen war, wenn ich sie trug, war sie eingebeult. Sie war ziemlich schwer, voller Schächtelchen und Flaschen mit Arzneimitteln, dazu ein Haufen Messer, Verbände und mein Patientenbuch. Ihr Gewicht war meiner Schulter inzwischen so vertraut, daß ich mich ganz nackt fühlte, wenn ich das Haus ohne sie verließ. Aber ich dachte: Wenn die Nachricht über meine wahre Identität die Römer erreicht, und wenn ich zurückgehe, dann kann ich sie ebensogut für immer hinter mir lassen.
Eine Tür öffnete sich, und Amalberga kam herein. Sie hatte ihre Tunika nachlässig übergeworfen, die langen Haare hingen ihr offen über die Schultern. Ihre Umrisse hoben sich gegen das schwache Licht des Feuers ab. Sie sah mich einen Augenblick lang unbewegt an, dann sagte sie: »Es wäre besser, wenn du bliebest. Was auch immer du morgen tun wirst, es wird dir besser gelingen, wenn du jetzt schläfst.«
»Was auch immer ich morgen tun werde?« erwiderte ich bitter. »Ich habe doch gar keine Wahl. Ich dachte, man hätte beschlossen, daß ich Edico bei der Betreuung seiner Patienten helfen soll.«
»Das ist richtig«, entgegnete Amalberga ruhig. »Ich hoffe, du kannst etwas für sie tun.«
»Weißt du, was du mir angetan hast?« fragte ich sie. »Vielleicht bist du ja der Meinung, ich verdiente die Sklaverei, da ich mich so unschicklich verhalten habe. Aber ich habe dir niemals etwas getan.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bewundere, was du getan hast. Wenige Frauen sind in der Lage, so klar zu entscheiden, was sie wollen, und noch weniger können es auch erreichen. Es ist wahrscheinlich grausam, dir etwas zu nehmen, wofür du hart gekämpft hast, und es tut mir leid. Viele Leute aus meinem Volk wurden im letzten Sommer versklavt, und seitdem sind auch viele aus deinem Volk versklavt worden. Sie würden dich selbst jetzt noch um deine Freiheit beneiden.«
Ich biß mir auf die Lippen. »Das mag sein«, erwiderte ich nach einem Augenblick. »Aber das entschuldigt dich noch lange nicht.«
»Unser Volk hat sehr gelitten. Auch wir hatten keine Wahl: Wir sind dazu gezwungen worden, uns zu erheben. Mein Gemahl hofft immer noch, mit dem Kaiser Frieden schließen zu können und sein Vasall zu werden. Worauf können wir sonst hoffen? Niemand kann das Imperium besiegen – es ist zu groß. Aber unsere erste Pflicht, seine und meine, gilt unserem Volk, wir müssen es ernähren und beschützen. Das verstehst du sicherlich, und du verstehst auch, warum wir dich bei uns haben wollen, sogar gegen deinen Willen und gegen unsere Ehre.« Sie trat auf mich zu und berührte meine Hand, wobei sie mich ernst ansah. »Aber es muß nicht unbedingt so überaus schrecklich sein. Du kannst deine Heilkunst bei uns offen praktizieren und wirst dafür geehrt. Das ist doch immerhin etwas, oder?«
»Ich liebe mein eigenes Volk«, entgegnete ich. »Ich gehöre nicht hierher.« Sie ließ ihre Hand sinken und seufzte. »Ich verstehe nicht, warum die Menschen das Kaiserreich so lieben.«
»Wir sind in ihm geboren, und es hat uns geformt.«
Sie zuckte die Achseln. »Viele Goten, die unter unseren eigenen Königen geboren sind, geben ihr Volk auf, um bei den Römern zu leben. Mein Onkel Ermaneric hat das getan, und sein Sohn, mein Vetter Athanaric, liebt das Kaiserreich ebenso wie irgendein römisch geborener Bürger. Aber nur wenig Römer wollen bei uns leben, auch wenn man ihnen Reichtum und Ehre bietet. Mein Gemahl träumt immer noch von Rom, obwohl er sich im Krieg mit ihm befindet.«
»Ich mag keine Träume. Aber… das Leben, das ich gewählt habe, gibt es bei deinem Volk nicht. Ich bin Arzt und Hippokratiker, kein Zauberer, keine weise Frau oder Hexe. Ich passe nicht hierher.«
»Ärztinnen gibt es bei deinem eigenen Volk aber auch nicht.«
»Nun, ich war ja auch keine, oder?«
Bei dieser Bemerkung lächelte sie. »Nein. Aber bei uns könntest du eine sein. Du hast Edico schon halbwegs in der hippokratischen Medizin ausgebildet. Wenn wir diesen Krieg überleben, könntest du auch noch andere ausbilden. Vielleicht sind wir ja wirklich unwissende Barbaren, aber wir möchten ein Teil des Kaiserreichs sein und die römische Lebensweise erlernen vor allem römische Handfertigkeiten und römische Künste, so wie die deine. Warum willst du uns so rasch abtun? Bei deinem Volk mußt du so tun, als seist du jemand, der du gar nicht bist, um jemand sein zu können, der du tatsächlich bist. Hier hast du die Möglichkeit, dir dein eigenes Gesetz zu schaffen; hier kannst du ein Hippokratiker und eine Frau sein.«
Ich starrte sie an und war im Innersten aufgewühlt. Hatte sie vielleicht recht? In Alexandria hatte ich davon geträumt, eines Tages ganz offen sagen zu können, eine Frau und ein Arzt zu sein. Aber Alexandria ist eine Stadt mit vielen unterschiedlichen Gesetzen. Bei den Goten waren die Sitten und Gebräuche nicht so vielfältig. Und doch gibt es bei ihnen weibliche Heiler. Und vielleicht überstanden sie tatsächlich den Krieg, vielleicht konnten sie ihr Vasallenkönigtum errichten und Teil des Kaiserreichs werden. Es war durchaus vorstellbar, daß ich (wie es in der Rechtssprache hieß) einen Präzedenzfall schaffen konnte.
Und ich hatte kaum eine andere Wahl, als es zu versuchen. Amalberga lächelte mir zu. Sie bemerkte zweifellos, daß ihre Worte mich beeindruckt hatten. Sie berührte mich erneut am Arm. »Aber ruh dich aus. Ohne Essen oder Schlaf wirst du es nicht schaffen.«
So ging ich also wieder ins Bett.