18
Die römischen Legionen aus Armenien, die von Konstantinopel herbeimarschiert kamen, wurden im Süden Thraziens stationiert. In den südlichen Provinzen hatten sie eine ganze Anzahl heftiger Zusammenstöße mit gotischen Truppen und zwangen Frithigerns Soldaten, die immer wieder Beutezüge unternahmen, sich in den Norden zurückzuziehen. Doch die Römer waren auch nicht annähernd stark genug, um der gesamten gotischen Armee entgegentreten zu können, und so richteten sie sich in Hadrianopolis ein und warteten auf Verstärkungen aus dem Westen. Doch diese kamen nur langsam voran. Die gesamte Rhein-Donau-Front war von Unruhen erschüttert: Es gab dort keinen Ort, wo in den vergangenen fünfzehn Jahren nicht irgendwann ein Krieg stattgefunden hatte, und es war schwierig, aus einer Provinz Truppen abzuziehen, ohne diese Provinz einer großen Gefahr auszusetzen. Die pannonischen und transalpinen Hilfstruppen trafen im Frühsommer ein, doch ihr Befehlshaber litt an schweren Gichtanfällen, und nach seiner Ankunft unternahm er erst einmal gar nichts. Einige gallische Truppen wurden noch erwartet, aber sie hatten offensichtlich keine Eile, und die Hälfte desertierte lieber, als ihre Heimatprovinz ungeschützt zurückzulassen. Frithigern setzte die Beutezüge aus und wartete ab.
Ich blieb in Carragines. Über eine Ehe wurde nicht mehr gesprochen, und ich hatte sehr viel zu tun. Selbst nachdem wir über eine öffentliche Kanalisation verfügten, verbreiteten sich Krankheiten aller Art unter den Bewohnern des schmutzigen und hoffnungslos überfüllten Lagers. Vor allem viele der römischen Sklaven wurden krank. Sie litten sehr unter ihrer Gefangenschaft und wurden – oft genug angekettet – in überfüllten und verdreckten Hütten gefangengehalten. Man mußte sich unbedingt um sie kümmern, und ich war froh, ihnen helfen und auf diese Weise etwas für mein eigenes Volk tun zu können, selbst mitten unter den Barbaren.
Dann eines Tages im Juli wurde ich zum König befohlen.
Ich war gerade dabei, eine heikle Operation durchzuführen, einen Kaiserschnitt, eine Methode, die Philon mich gelehrt hatte und mit der ich schon einige Male bei sehr schwierigen Geburten Erfolg gehabt hatte. Mit äußerster Konzentration und Sorgfalt führte ich die Operation zu Ende, versorgte Mutter und Kind und gab der Familie der Frau strenge Anweisungen wegen der notwendigen hygienischen Maßnahmen. Dann nahm ich meine Schürze ab, wusch mir die Hände und rannte zu Frithigerns Haus. Könige mögen es nicht, wenn man sie warten läßt.
Ich kam mit zerzausten Haaren und außer Atem dort an, und die Wachen ließen mich sofort in den Audienzsaal. Der Raum war voller Leute. Frithigern, sein Gefolgsmann Alavivus, und Colias, der frühere Befehlshaber der mit den Römern verbündeten Truppen in Hadrianopolis, lagerten allesamt auf ihren Ruhebänken auf dem erhöhten Podium, und ihr Gefolge bildete einen Kreis um sie herum. Amalberga stand hinter dem Podium; sie blickte auf und nickte mir zu, als ich hereinkam. Ein weiterer Mann stand in der Mitte des Raumes, und zwar mitten auf dem Mosaik der Sonne im Zentrum des Tierkreises. Er kehrte mir den Rücken zu, doch selbst so kamen mir die blonden Haare und die hochmütige Neigung des Kopfes sofort bekannt vor. Als die Wachsoldaten die Enden ihrer Lanzen auf den Fußboden stießen, um meinen Eintritt anzukündigen, wandte der Mann sich um, und dann konnte es keinen Zweifel mehr daran geben, daß es Athanaric war.
Ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte ihn an. Es war fast ein Jahr her, daß ich ihn zuletzt gesehen hatte, und ich hatte gehofft, daß die Zeit und meine verzweifelte Lage meine Leidenschaft erstickt hätten, aber als seine Blicke mich trafen, konnte ich mich weder rühren, noch vermochte ich zu sprechen, und ich hatte den Eindruck, als verschwände der ganze übrige Raum um ihn herum. Dann fuhr mir völlig zusammenhanglos der Gedanke durch den Kopf, ich müsse mit meinen halblangen, aufgelösten Haaren, meinem verrutschten Umhang und Blutspritzern auf meinen Armen und sicherlich auch in meinem Gesicht einen eigenartigen Anblick bieten. Athanaric sah mich mit einem merkwürdigen Ausdruck an – Freude, Erleichterung, befriedigte Neugier.
»Hier ist also die edle Frau«, sagte Frithigern. »Wie du sehen kannst, ist ihr nichts geschehen. Bist du jetzt bereit, über die Bedingungen zu sprechen, zu denen deine Auftraggeber einen Waffenstillstand akzeptieren würden?«
Athanaric wandte sich wieder dem Podium zu. »Ich habe dir schon gesagt, daß ich nicht dazu befugt bin, über irgend etwas zu verhandeln. Ich bin jetzt anderswo stationiert, und habe mich für diese Reise zu dir von meinem Posten entfernt. Am Hof hört im Augenblick sowieso niemand auf mich. Du kannst den Waffenstillstand vergessen: Du wirst keinen bekommen, und nichts von dem, was du mir seit meiner Ankunft so begierig erzählt hast, kann daran etwas ändern. Wie ich schon sagte, bin ich nur hergekommen, um mit dir im Namen ihrer Freunde über ein Lösegeld für diese Edelfrau zu sprechen.«
»Was sind das für Freunde?« fragte Alavivus.
»Der Heerführer Sebastianus und die Familie dieser Dame«, erwiderte Athanaric, ohne zu zögern. »Die Summe beträgt einhundert Pfund in Gold.«
»Wer ist diese Familie?« fragte Frithigern, ohne mich aus den Augen zu lassen.
»Ich habe nicht das Recht, darüber zu sprechen«, erwiderte Athanaric. »Leute aus Ephesus und von ausgezeichnetem Ruf.«
»Einhundert Pfund in Gold sind in der Tat gar nicht so schlecht«, meinte Colias und grinste. »Dafür würde ich jeden meiner Gefangenen verkaufen, Frithigern.«
Frithigern schüttelte den Kopf. »Sie ist mehr wert. Sie hat mehr als hundert Leben gerettet, seit sie hier ist. Die Antwort lautet nein.«
»Zweihundert Pfund«, sagte Athanaric. Frithigerns Augen wurden zu engen Schlitzen. Er schüttelte den Kopf.
»Ich brauche Ärzte nötiger als Gold. Wir haben einen Haufen Gold erbeutet, aber keine Ärzte.«
»Vierhundert Pfund«.
Es erhob sich ein lebhaftes Gemurmel. Colias ließ einen Pfiff ertönen. Ich stand da wie eine Sklavin, die versteigert wird, und fragte mich, wie weit Athanaric würde gehen müssen. Ich wußte nicht, ob ich erfreut oder verzweifelt sein sollte.
»Warum ist der Heerführer Sebastianus so an der edlen Frau interessiert?« fragte Frithigern mißtrauisch.
Athanaric warf mir einen flüchtigen Blick zu und zuckte quasi entschuldigend die Achseln. »Er war der Befehlshaber dieser Frau, als man noch dachte, sie sei ein Mann, und er fühlt sich dafür verantwortlich, daß sie in Gefangenschaft geraten ist.«
Ringsum erhob sich Gelächter. »Er war ein Narr, nicht zu merken, wen er da befehligte«, rief Alavivus.
»Es ist leichter, das Geschlecht eines Gefangenen zu entdecken, den man zu allem zwingen kann, als das eines freien Menschen, der es zu verbergen versucht«, erwiderte Athanaric scharf.
»Und die Dame Charis war unter den Römern ein freier Mensch. Sie war frei, als sie König Frithigerns Frau heilte und versucht hat, eurem Volk gegen Lupicinus beizustehen. Jetzt streiten wir darüber, welches Lösegeld ihr für eine Frau nehmen wollt, die euer Gast war und die ihr freilassen solltet, ohne Geld für sie zu verlangen. Ihre Freunde bieten vierhundert Pfund in Gold.«
Frithigern warf mir diesen schwer zu deutenden Blick zu, den ich zu hassen und zu fürchten gelernt hatte. »Da ihre Familie und der Heerführer vierhundert Pfund in Gold für ihre Freilassung bieten, ist sie offensichtlich von hohem Rang. Dame Charis, aus welcher Familie stammst du?«
Ich rang meine Hände. »Wenn meine Leute dir ihren Namen nicht verraten wollen, wer bin dann ich, sie zu hintergehen?«
Der Blick aus den blassen Augen haftete noch einen Augenblick länger auf mir, dann wanderte er zu Athanaric und verhielt dort. Endlich schüttelte Frithigern den Kopf. »Es ist nicht genug.«
»Vierhundert Pfund sind nicht genug für eine Frau?« fragte Colias ungläubig. »Wir könnten dieses Geld gebrauchen. Nimm es, um des Himmels Willen!«
»Wozu brauchen wir Geld?« fragte Frithigern. »Kein Römer wird mit uns Handel treiben, und mit Gold können wir uns nichts kaufen. Unsere einzige Währung ist das Schwert. Außerdem ist sie meine Gefangene, nicht deine. Nein. Es ist nicht genug.«
»Sechshundert Pfund in Gold«, bot Athanaric, aber ich konnte sehen, daß er schwitzte.
»Ihrer Familie muß ganz Ephesus gehören!« rief Colias aus. Frithigern runzelte plötzlich die Stirn. »Theodoros«, sagte er.
»Der Statthalter. Er hatte eine Schwester…«
»… die Festinus heiraten sollte!« beendete Colias den Satz, und alle Anwesenden fingen gleichzeitig an zu sprechen.
»Es gibt viele reiche Familien in Asien!« protestierte Athanaric, doch der Aufruhr erstickte seine Worte. Unsere Familie war die einzige wirklich reiche Familie Asiens, von der die Goten gehört hatten, und daß eine Tochter des Hauses vermißt wurde, war in ihren Augen ein unstrittiger Beweis. Sie reckten ihre Hälse, um mich zu sehen, die berüchtigte Schwester des Theodoros, die Festinus ohne Braut inmitten seiner Hochzeitsgirlanden sitzengelassen hatte.
Frithigern sah Athanaric an und lächelte. »Ich werde sie nicht freilassen.«
»Tausend Pfund in Gold!« rief Athanaric. »Mehr kann ich nicht bieten.«
Ich war sicher, daß dies der Wahrheit entsprach. Thorion hätte sich eine Menge leihen müssen, um diese Summe zusammenzubekommen.
»Der höchst ehrenwerte Theodoros kann sein Gold behalten«, entgegnete Frithigern. »Dieser Teufel Festinus hat seine Braut verloren, und einer meiner eigenen Männer wird sie bekommen.«
»Nein!« protestierte ich energisch.
»Mach dich nicht lächerlich!« sagte Athanaric, an Frithigern gewandt. »Glaubst du denn, Theodoros wolle sie mit Festinus verheiraten? Er haßt ihn ebenso sehr wie du!« Dann hielt er inne und biß sich auf die Zunge; er hatte zugegeben, daß Frithigerns Vermutung über meine Herkunft richtig war.
Frithigern nahm keine Notiz davon: Er war sich sowieso sicher gewesen. »An wen will er sie dann verheiraten?« fragte Frithigern. »An den Heerführer Sebastianus?« Er beobachtete Athanaric aufmerksam, dann nickte er und meinte bekräftigend:
»Ich werde diese Frau keinem meiner Feinde aushändigen.«
»Das ist ja lächerlich«, sagte ich und unterbrach ihn erneut.
»Sebastianus ist ein Edelmann von allerhöchstem Rang. Er kann sich wirklich etwas Besseres antun, als eine Armeeärztin zu heiraten, deren Mitgift bereits für ihr Lösegeld draufgegangen ist.«
Athanaric warf mir einen raschen Blick zu, dann sah er wieder weg. Frithigern grinste. »Es spielt keine Rolle, Sebastianus oder Festinus oder irgendein anderer. Die Dame wird keinen Römer heiraten. Festinus’ Braut wird einen meiner Männer heiraten und bei uns alt werden und auf diese Weise eine Schmach für die Römer darstellen. Das ist es wert, dafür auf tausend Pfund in Gold zu verzichten.«
Die Goten brachen in Beifallsrufe aus, sogar Colias. Athanaric wurde blaß. Er stand da und schlug an den Griff seines Schwertes. Ich spürte, daß ich etwas unternehmen mußte, etwas sagen mußte, oder es wäre alles verloren: Ich würde in das Haus eines gotischen Edelmannes gebracht werden, um Festinus, Thorion und Sebastianus zu kränken, und keinem würde es auch nur in den Sinn kommen, daß sie mir ein Unrecht zugefügt hatten.
»Edler König!« rief ich aus und trat einen Schritt vor. Jedermann blickte auf mich, die Goten grinsten, als sei ich eine zweitklassige Schauspielerin, die nun auf die Bühne kam, um ihren Text aufzusagen. »Edler König«, wiederholte ich und vermochte einen Augenblick lang nicht mehr zu denken; ich fühlte mich ganz krank. »Ich habe dir einige Dienste erwiesen«, sagte ich endlich. »Ich habe dir und deiner Familie geholfen, bevor dieser Krieg begann. Du hast es mich entgelten lassen, indem du mich zu deiner Gefangenen gemacht hast. Ich habe dir gesagt, wie du eine große Epidemie vermeiden kannst, die dich Hunderte, ja sogar Tausende deines Volkes gekostet hätte, und du willst mich wie eine Sklavin verkaufen. Ewiger Christus! Es würde dir, ehrenwerter Frithigern, besser anstehen, mich ohne Lösegeld nach Hause zurückkehren zu lassen.«
»Ich verkaufe dich nicht wie eine Sklavin«, entgegnete Frithigern. »Ich will dich auf höchst ehrenwerte Weise mit einem Edelmann verheiraten.«
»Ich will deinen Edelmann nicht«, sagte ich ausdruckslos. Und dann, vielleicht, weil mich alle beobachteten und ich mir wie eine Schauspielerin in einem Stück vorkam, fuhr ich fort. »In Novidunum gab es einen Arzt, der mich gegen meinen Willen nehmen wollte. Ich tötete ihn mit seinem eigenen Messer. Ich werde das gleiche mit dem Mann tun, der es noch einmal versucht, und wenn er kein Messer hat, dann kenne ich ein paar hundert Arzneimittel, die genau das gleiche bewirken. Ich kann nicht länger leugnen, daß ich die Tochter des Theodoros von Ephesus bin, doch ich vermag nicht einzusehen, warum dies die Verpflichtung zur Gastfreundschaft oder deine Schuld mir gegenüber weniger schwer wiegen läßt. Und ich sehe nicht ein, warum ich mir deswegen nicht länger selbst gehören soll und warum du über mich verfügen willst, nur um deine Feinde zu kränken, so als seien meine eigenen Wünsche völlig unerheblich.«
Athanaric warf mir einen Blick voller Bewunderung und Stolz zu. Mir wurde schwindelig, als ich es bemerkte. Die Goten starrten mich mit einer Art widerwilligem Respekt an. Frithigern und seine Gefolgsleute blickten wütend. Hinter ihnen erkannte ich Amalberga, die mich entsetzt ansah. Ich bemerkte, wie sie versuchte, ihrem Gemahl ein Zeichen zu geben. Ich wußte, was sie ihm bedeuten wollte: »Laß es gut sein für den Augenblick, ich werde mit Charis sprechen, du wirst auf keinen Fall etwas bei ihr ausrichten, wenn du sie anbrüllst.« Aber was eine Ehe anbetraf, würde sie wohl kaum mehr ausrichten als ihr Mann.
»Du unverschämtes, hochmütiges Weib!« rief Frithigern, dann gelang es Amalberga, seinen Blick auf sich zu lenken. Er zögerte, und sie eilte auf ihn zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er sah wieder zu mir hin, kaute auf seinem Bart herum, und Amalberga flüsterte erneut. Dann schlug Frithigern auf die Lehne seiner Ruhebank. »Es hat keinen Zweck, einer überheblichen Frau, die sich dauernd wie ein Pfau spreizt, vernünftig zureden zu wollen, es sei denn, eine andere Frau versucht es. Wenn meine Gefährten einverstanden sind, erkläre ich die Audienz für beendet. Vetter Athanaric, ich werde kein Lösegeld für meine Gefangene nehmen. Wenn du über einen Waffenstillstand mit uns verhandeln willst, dann bist du willkommen. Andernfalls fordere ich dich auf, das Lager bis morgen abend vor Sonnenuntergang zu verlassen.«
Alle begannen erneut durcheinander zu reden, rund um mich herum sprachen sie über mich, aber nicht mit mir. Colias sprang vom Podium herunter und eilte auf Athanaric zu. Die gotischen Gefolgsleute liefen planlos im Kreis herum. Ich stand da wie betäubt. Dann trat Amalberga auf mich zu und ergriff meinen Arm. »Du solltest besser mit mir kommen«, sagte sie und warf Athanaric, der bereits hinausbegleitet wurde, einen ängstlichen Blick zu. Ich sah ihn ebenfalls an; unsere Blicke trafen sich, und er zuckte die Achseln. Ich ging mit Amalberga mit.
Wie ich erwartet hatte und wie Frithigern vorausgesagt hatte, setzte sie mir hart zu. Natürlich, meinte sie, sie verstünde meine Gefühle, doch was sei denn so schlimm daran, einen gotischen Edelmann zu heiraten? Sie verstünde jetzt, warum ich Edico abgewiesen hätte, meinte sie; natürlich, er war von viel niedrigerem Rang als ich – aber jetzt würden sie jemanden wirklich Vornehmen für mich finden, einen Mann mit römischer Bildung. Da war zum Beispiel Munderich, ihr Vetter, der vor dem Krieg viel umhergereist war und ein Jahr in Konstantinopel verbracht hatte; er denke daran, sich zu verheiraten, und werde allgemein als gute Partie betrachtet. Ob ich denn nicht sähe, wie erfreut die Leute bei dem Gedanken seien, daß ich eine der ihren werde?
»Ich freue mich aber nicht«, entgegnete ich. »Ich möchte nicht in ein Volk hineinheiraten, daß sich mit meinem eigenen im Krieg befindet. Warum gehst du nicht und sprichst mit Frithigern? Siehst du denn nicht, daß du mir meine Freiheit schuldest? Warum ergreifst du nicht die Gelegenheit und zeigst mir deine edle Gesinnung, indem du mir die Freiheit schenkst?« Sie blickte zu Boden, wurde rot, und ich sah, daß sie sich ihrer Schuld mir gegenüber bewußt war, aber daß sie es nicht zugeben konnte, da sie wußte, daß ihr Mann mich niemals ziehen lassen würde.
»Du würdest doch nicht jeden Mann töten, der dich heiratet, nicht wahr?« lenkte sie ab.
»Jeden Mann, der mich gegen meinen Willen nimmt. So habe ich es gesagt, und so habe ich es auch gemeint.« Ich war mir selbst nicht ganz sicher, ob es der Wahrheit entsprach. Es ist eines, großartige Reden zu halten, aber es ist etwas ganz anderes, einen jungen Mann aus Fleisch und Blut zu erstechen oder zu vergiften. Aber ich hatte es gesagt, und vielleicht bestand ja kein Anlaß, die Probe aufs Exempel zu machen, falls ich die Goten in dem Glauben ließ, ich würde mein Wort auf jeden Fall halten. Deshalb starrte ich entschlossen vor mich hin und sagte: »Was ich über diesen Mann in Novidunum gesagt habe, stimmt ebenfalls. Er hieß Xanthos; du kannst Edico über ihn ausfragen.«
Amalberga sah mich nachdenklich an, dann seufzte sie.
»Meine Liebe«, sagte sie, »du mußt einsehen, daß wir dich nicht gehen lassen können. Selbst wenn du niemanden aus unserem Volk heiraten willst, können wir es uns nicht leisten, dich freizulassen. Wir könnten die Hilfe deines Bruders benötigen.«
Ich erwiderte ihren Blick und wurde ebenfalls nachdenklich.
»Du glaubst, ich sollte heiraten, um nicht als Geisel benutzt werden zu können?« fragte ich. »Du glaubst, daß ich einen derartigen Schutz benötige? Würdet ihr mich töten oder foltern lassen, um von Theodoros irgendwelche Zugeständnisse zu erlangen?«
Sie wich meinem Blick aus. »Wir könnten gezwungen sein, dich gegen Getreide und nicht gegen Gold zu verkaufen«, antwortete sie einen Augenblick später. »Es gibt nicht mehr viel Lebensmittel nördlich der Hämusberge, und wenn die Beutezüge noch länger ausgesetzt werden, werden uns die Vorräte ausgehen. In Tomis gibt es jede Menge Getreide, und der Statthalter könnte uns etwas davon abgeben.«
»Und wenn mein Bruder mich nicht freiwillig kauft, dann würdet ihr mich foltern oder wenigstens damit drohen, um ihn dazu zu zwingen? Obwohl ihr mir gegenüber zur Gastfreundschaft verpflichtet seid und in meiner Blutschuld steht, da ich dich gesund gemacht habe?«
»Wenn die Leute erneut Hungersnot leiden, werden wir alles tun«, erwiderte sie und blickte mir in die Augen. »Es sei denn, du bist verheiratet und eine von uns.«
Ich stand auf. Ich brauchte ein wenig Bewegung, um mich zu beruhigen. Ob Amalberga die Wahrheit sagte? Oder versuchte sie nur, mir Angst zu machen, damit ich ihrem Manne gehorchte? Ich konnte nicht glauben, daß Frithigern mir wirklich etwas antun würde. Ich war sein Gast. Außerdem war ich ihnen in höchstem Grade nützlich, war ihnen allein aufgrund meiner medizinischen Fähigkeiten mehrere hundert Pfund in Gold wert.
Auf der anderen Seite ist Hunger wirklich etwas Schreckliches. Niemand kann sagen, was die Menschen tun oder nicht tun werden, wenn sie wirklich hungrig sind.
Aber die Tage des Hungers lagen noch weit entfernt, falls sie überhaupt drohten. Die Goten mochten bis zum Winter bereits eine vernichtende Niederlage erlitten haben. Dann war ich vielleicht bereits tot oder aber frei. Oder die Römer verloren die nächste Schlacht, und die Beutezüge würden genügend Lebensmittel einbringen. Und vielleicht wurde Thorion bald als Statthalter abgelöst, und es wäre zwecklos, mich länger als Geisel zu behalten, wenn ein Fremder über Skythien herrschte. Nein, ich vermochte die Drohung nicht ernst zu nehmen.
»Ihr werdet es nicht schaffen, mich gegen meinen Willen zu verheiraten«, erklärte ich und wandte mich erneut Amalberga zu. »Wenn ihr mich nicht nach Hause gehen lassen wollt, dann laßt alles so, wie es ist. Ich werde damit fortfahren, die Kranken zu behandeln und niemandem zu schaden – solange ihr mir meine Freiheit laßt.«
»Das einzige, was wir nicht können, ist, dir deine Freiheit zu lassen«, erwiderte die Königin traurig. »Aber laß es für den Augenblick gut sein. Wir können es uns erlauben, abzuwarten.«