12

Sebastianus behielt mit seinen beiden Vermutungen recht: Bis zum Sommer erhielten wir keinerlei Verstärkungen, und wir bekamen immer mehr Goten zu Gesicht. Der größte Teil der Terwingen zog nach Skythien. Auf einer weiten Ebene, nahe der Grenze zwischen Skythien und Mösien, dort, wo die Donau in einer Schleife bis ganz in die Nähe der Hämusberge kommt, errichteten sie ein festes Lager. Sie stellten ihre Wagen in einem riesigen Kreis auf, um auf diese Weise eine Art Stadt zu bilden, in der die Frauen und Kinder bleiben konnten. Die Männer führten Raubzüge durch, die sie weit hinein nach Thrazien führten. Sie plünderten und brandschatzten, wo sie nur konnten. Einige wagten sich bis auf wenige Meilen an Novidunum heran. Sie machten keinen Versuch, die kleineren Posten anzugreifen oder eine der befestigten Städte zu belagern, sondern beschränkten sich darauf, Lebensmittelvorräte und Kriegsmaterial zu erbeuten, und sie waren äußerst erfolgreich hierin. Viele gotische Sklaven, vor allem diejenigen, die erst kürzlich durch die Praktiken von Lupicinus ihre Freiheit verloren hatten, rannten ihren Herren fort und kehrten zu ihrem Volk zurück. Dann verrieten sie ihren Landsleuten, wo sie die prächtigsten Häuser und das fetteste Vieh finden konnten. Die Goten häuften ihre Beute rascher auf als die meisten bestechlichen Statthalter ihre Bestechungsgelder. Sie plünderten die Goldminen im Süden, sie plünderten die Landgüter, sie plünderten Städte und Landhäuser. Sie schleppten alle römischen Besitztümer fort, die sie schon immer geschätzt hatten – schöne Töpferwaren, Schmiedearbeiten, Silber und Glas; kostbare, aus anderen Ländern importierte Gewänder aus Leinen, Seide und Wolle; Möbel mit Einlegearbeiten; Gemälde und Wandteppiche; Bücher, die sie gar nicht lesen konnten. Und sie nahmen sich römische Sklaven. Männer, die noch vor ein paar Monaten selbst Sklaven gewesen waren, verschleppten die Frauen und Kinder ihrer früheren Herren, und die römischen Soldaten konnten nur wenig tun, um ihnen Einhalt zu gebieten. Sebastianus stellte einen Trupp Soldaten zusammen, um selbst Streifzüge ins Land zu unternehmen und zu versuchen, einige der gotischen Soldaten auf ihren Expeditionen zu ergreifen und zu bestrafen, doch er hatte nicht genug Männer, um damit viel zu erreichen.

Der größte Teil der skythischen Bevölkerung strömte in die befestigten Städte, vor allem nach Tomis und Histria, in einem geringeren Ausmaß aber auch in die Armeelager wie Novidunum. Dank Thorions gehorteter Getreidevorräte gab es in den Städten für jedermann genug zu essen; trotzdem richtete Thorion rasch ein Rationierungssystem ein. Genaues wußten wir allerdings nicht, denn die Verbindungen zur Außenwelt waren unterbrochen. Wegen der Goten war es nicht immer sicher, Botschaften über Land zu schicken, die Donau war inzwischen zugefroren, und mitten im Winter hatte kein Kapitän den Mut, es mit dem Schwarzen Meer aufzunehmen. Wann immer Soldaten längs des Ufers flußaufwärts oder flußabwärts ritten, wurden sie von Kurieren begleitet. Trotzdem konnte man viele Wochen lang meinen, Novidunum sei die einzige Stadt auf der Welt, ganz allein inmitten des Schnees auf dem Steilufer thronend. Gelegentlich kam ein Trupp Soldaten flußabwärts geritten und lud hastig ein paar Verwundete im Hospital ab, doch vom Meer her kam vom Dezember bis zum Frühjahr niemand.

Trotz der im Lager herrschenden Ruhe waren wir im Hospital ziemlich beschäftigt. Neben den Verwundeten unserer eigenen Legion mußten wir Versprengte aus Mösien, die desertiert oder vor den Goten geflohen waren, versorgen; dazu kamen noch kranke oder verletzte Bauern, die sich nach Novidunum geflüchtet hatten. Ich machte mir Sorgen wegen unserer Vorräte an Arzneimitteln, stritt mich mit Valerius um Geld für zusätzliche Vorräte, setzte ihm zu, mir noch ein paar weitere Pfleger zu genehmigen, und stritt mich anschließend mit ihnen herum.

Arbetio setzte sich auf eine geradezu bewundernswerte Weise ein und war dabei stets bester Laune. Ich war in das neue, größere Haus umgezogen und hatte ihm das alte überlassen. Er hatte sich fünfzehn Solidi geliehen und seine Freundin freigekauft, um mit ihr zusammenleben zu können. Sie war eine kleine, pummelige junge Frau namens Irene, eine von Valerius’ Köchinnen, und Arbetio war offensichtlich schon seit Jahren in sie verliebt. Nachdem er sie freigelassen hatte, ließen sie sich als Mann und Frau nieder, und alle beide waren außer sich vor Glück.

Ende Februar schickte Sebastianus mir einen Brief und bat mich, flußaufwärts in das Lager Ad Salices, »zu den Weiden«, in der Nähe der mösischen Grenze zu kommen. Einer seiner Trupps, die einen Ausfall gewagt hatten, war von den Goten aufgerieben worden, und es war einfacher, mich zur Behandlung der Verwundeten dorthin zu bringen, als sie alle ins Hospital nach Novidunum hinunterzuschicken. Ich packte einen ordentlichen Vorrat an Heilmitteln zusammen und machte mich mit einer Begleitmannschaft von zwölf Reitern auf den Weg. In der Woche zuvor hatte es getaut, inzwischen war jedoch alles wieder gefroren. Als wir das Lagertor passierten, schneite es heftig, das Tauwetter hatte jedoch eine Eisschicht auf dem darunterliegenden Schnee verursacht, die in die Beine der Pferde schnitt. Plötzlich fiel das Pferd eines Soldaten der Begleitmannschaft auf ihn, so daß er sich das Schlüsselbein brach. Ich mußte ihn behandeln und nach Novidunum zurückschicken. Zu allem Unglück hatte nach unserem Aufbruch auch noch meine Regel eingesetzt, und es war eine heikle Angelegenheit, diese Tatsache zu verbergen: Zumindest war es äußerst lästig, unter diesen Umständen zu reisen.

Nachdem wir drei Tage unter derart widrigen Bedingungen geritten waren, erreichten wir den Kamm eines Berges und sahen Salices unter uns liegen: Seine Wälle hoben sich dunkel gegen den Schnee und den zugefrorenen Fluß ab. Meine Begleitmannschaft stieß einen übermütigen Hurraruf aus, und wir machten uns auf den Weg hügelabwärts. Der Tribun, der die Soldaten befehligte, richtete sich in seinem Sattel auf und winkte mit beiden Armen zur Festung hinüber – dann krümmte er sich zur Seite und fiel vom Pferd. Ich fragte mich, was das bedeuten sollte, doch dann war ich plötzlich nahe genug bei ihm und sah ihn genauer. Seine eine Schädelhälfte war eingeschlagen: Sie war offensichtlich durch eine aus einer Schleuder abgeschossene Bleikugel wie eine Nuß geknackt worden.

Die anderen entdeckten es im gleichen Moment; die Beifallrufe blieben ihnen im Halse stecken, und sie begannen, ihre Pferde in gestrecktem Galopp den Hügel hinunterzujagen. Dabei rissen sie ihre Schilder vom Rücken und hielten sie sich über die Köpfe. Ein weiterer Mann sank zu Boden. Ich hatte keinen Schild. Und so beugte ich meinen Kopf tief über den Hals meines Pferdes und trieb es mit kräftigen Fußtritten an. Es war müde, doch es hatte den Geruch von Blut und von Angst geschnuppert und galoppierte hinter den anderen her. Ich hörte, wie etwas über meinen Kopf hinwegpfiff, und betete verzweifelt zu Gott und zu Jesus Christus, sie möchten mich beschützen. Zu meiner Rechten stolperte ein Pferd und brach zusammen; sein Reiter schrie vor Schmerz; dann sprang er auf und schwang sein Schwert. Ich konnte nicht anhalten, um ihm zu helfen, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich schloß die Augen. Mein Pferd stolperte und bäumte sich auf; ich öffnete die Augen wieder und versuchte, es im Gleichgewicht zu halten. Vor mir hatte die Begleitmannschaft in einem Halbkreis Aufstellung genommen und sich den vom Rücken her Angreifenden zugewandt. Ich zügelte mein Pferd und fragte mich, was sie vorhatten. Diese Wahnsinnigen wollten doch nicht etwa kämpfen? Doch die Männer hatten sich in einer Schlachtreihe aufgestellt, ihre Schwerter gezogen und die Schilder über ihre Köpfe erhoben. Ein Trupp Goten kam den Hügel heruntergerannt, ihre Pelzmäntel flatterten im Wind, das Licht der untergehenden Sonne funkelte auf ihren Speeren. Der Mann, der sein Pferd verloren hatte, stieß einen Schlachtruf aus – diesen Schrei, der leise beginnt und in einem heiseren Brüllen endet –, und die Goten stürzten sich auf ihn. Weitere Barbaren tauchten zwischen den Bäumen auf. Der römische Soldat fiel, und sein Feind durchbohrte seinen Körper wieder und wieder, wobei er ein wildes Gebrüll und durchdringende Wutschreie ausstieß. Dann stürzte er sich auf uns. Hinter mir hörte ich den Klang von Trompeten.

»Warum können wir uns denn nicht zur Festung durchschlagen?« fragte ich den Soldaten vor mir.

Der Soldat schnaubte verächtlich. »Der Feind würde uns töten, wenn wir zu fliehen versuchen. Wir können uns den Rücken nicht freihalten. So aber haben wir eine Chance. Hurra!«

Ich fühlte mich schrecklich schutzlos. Die anderen Soldaten befanden sich zwar vor mir, aber sie hatten Helme und Schilder und Harnische; ich jedoch hatte nichts als meinen Pelzumhang und meine Arzttasche. Ich beugte mich tief auf das Pferd hinunter, preßte die Tasche an mich und dachte über Knochenbrüche, Behandlungen von Kopfverletzungen, Wundkompressen, Amputationen und die richtige Dosierung von Alraunwurzeln nach. Vielleicht, dachte ich, sollte ich jetzt etwas davon nehmen, dann hätte ich nicht solche Schmerzen zu befürchten, wenn ich getroffen würde. Die Barbaren kamen schreiend näher. Die Soldaten meiner Begleitmannschaft empfingen sie mit einem Speerhagel, und einer der Feinde fiel. Hinter uns – inzwischen etwas näher – erklang von neuem die Trompete. Die Soldaten stießen wieder ihren Kriegsruf aus und stürmten gegen den Feind vor. Ich rührte mich nicht, saß einfach nur da und klammerte mich an meine Arzttasche. Einige Goten fielen; die übrigen wichen zurück, hügelaufwärts. Die römischen Soldaten verfolgten sie jedoch nicht, sondern machten kehrt und sammelten sich. Ein Geschoßhagel folgte ihnen; ein weiterer Mann fiel, versuchte sich aufzurichten, sank zurück. Unsere Soldaten wollten sich gerade wieder auf den Feind stürzen, da hörten wir das Donnern von Hufen hinter uns: Eine Reiterschwadron aus der Festung kam uns zu Hilfe. Ich wandte mein Pferd um, um mich ihnen anzuschließen, aber ein Schreckensruf entfuhr mir: Hinter unserer Schwadron tauchten weitere Barbaren auf; ein berittener Trupp Goten verfolgte unsere Helfer.

Der Befehlshaber der römischen Streitkräfte entdeckte sie ebenfalls und rief seinen Männern zu, sie sollten eine Keilformation bilden. Überall wimmelte es jetzt von Pferden und bewaffneten Männern; die Soldaten meiner Begleitmannschaft machten eine plötzliche Drehung, um mit den Neuankömmlingen einen gemeinsamen Keil zu bilden. Speere blitzten im Licht der untergehenden Sonne. Weitere Trompeten; weitere Soldaten, die aus Salices strömten, diesmal zu Fuß. Lautes Rufen und allgemeine Verwirrung. »Du bist Chariton der Arzt?« fragte der Befehlshaber der Reiterschwadron. »Geh in die Mitte hinter der Keilformation.« Ich ritt dorthin, und der Keil begann sich auf die Festung zuzubewegen. Die gotischen Reiter teilten sich in zwei Gruppen auf, vollführten eine Schwenkung und ritten jetzt zu beiden Seiten von uns. Hinter uns strömten die Barbaren, die mir und meiner Begleitmannschaft den Hinterhalt gelegt hatten, hügelabwärts. »Bei der unbesiegten Sonne!« rief unser Befehlshaber. »Halt! Halt! Bildet einen Kreis! Hebt eure Schilder und haltet die Stellung!« Und etwas ruhiger zu sich selbst: »Mein Gott, wir sitzen ganz schön in der Klemme!«

Die gotischen Reiter hatten sich zu einem Halbkreis formiert, der sich den Römern entgegenstellte und den Weg zur Festung blockierte. Ihre Pferde tänzelten, sie schlugen mit ihren Schwertern an die Schilder und schrien. Die römische Streitmacht war ihnen weit unterlegen; selbst ich konnte sehen, daß wir nur sehr geringe Chancen hatten, uns nach Salices durchzuschlagen. Ich bahnte mir einen Weg zum Befehlshaber. »Müssen wir denn gegen sie kämpfen?« fragte ich. »Was wollen sie?«

»Sie wollen uns töten«, erwiderte der Befehlshaber grimmig.

»Vor zwei Tagen haben wir einige ihrer Kameraden getötet.

Herr im Himmel, ich wußte nicht, daß immer noch so viele Barbaren in der Gegend sind!«

»Wenn wir uns jetzt zum Kampf stellen, werden wir ebenfalls einen Haufen Männer verlieren«, sagte ich. »Und das ist völlig sinnlos. Hör zu, ich bin ein Gastfreund des edlen Frithigern ich habe seine Frau geheilt, bevor das alles angefangen hat. Laß mich gehen und sie um einen Waffenstillstand bitten. Dann können wir uns in die Festung zurückziehen, und sie können wieder ihren Beutezügen nachgehen. Vielleicht gehen sie darauf ein.«

Der Befehlshaber sah mich einen Augenblick lang erstaunt an, dann blickte er zu den Goten hinüber. »Wenn du unbedingt mit diesen Teufeln sprechen willst, dann nur zu!« sagte er.

»Viel Glück! Hier, Valentinus, schneid uns ein paar grüne Zweige ab: Der Arzt will zu den Barbaren reiten und sie um einen Waffenstillstand bitten.«

Die Männer starrten mich an, dann brachen sie in Beifallsrufe aus. Valentinus, der Tribun, schnitt einige Zweige von einem Strauch am Wegesrand ab und reichte sie mir. Ich nahm einen Zweig in jede Hand, und die Männer ließen mich bis in die vorderste Reihe durch. Die Goten hatten ein paar hundert Schritt von uns entfernt Aufstellung genommen und warteten. Ich holte tief Atem, hob die Zweige hoch in die Luft und ritt los. Eine Kugel aus einer Steinschleuder zischte an mir vorbei. Ich zügelte mein Pferd, rührte mich nicht und hielt die Zweige hoch in die Luft. »Waffenstillstand!« rief ich. Ich konnte sehen, wie die Goten auf mich zeigten und miteinander sprachen und entdeckten, daß ich unbewaffnet war. Erneut begann ich, auf sie zuzureiten, und diesmal empfingen mich keine Geschosse.

Als ich mich den gotischen Linien näherte, löste sich aus der vordersten Reihe ein Mann auf seinem Pferd und kam auf mich zugeritten; aufgrund des Schmuckes, den er trug, hielt ich ihn für den Befehlshaber. »Waffenstillstand!« wiederholte ich auf griechisch, dann fügte ich »Freund!« auf gotisch hinzu.

»Freund?« erwiderte der gotische Befehlshaber in seiner Muttersprache, zügelte sein Pferd direkt vor mir und starrte mich an. »Kein Römer ist ein Freund der Goten! Wer bist du, und was willst du?«

»Ich bin Chariton von Ephesus, ein Arzt und Gastfreund des edlen Frithigern, ich möchte für die Römer einen freien Abzug nach Salices erbitten. Wenn ihr uns angreift, sterben wir, und viele von euch sterben ebenfalls. Doch keiner von uns kann einen Vorteil daraus ziehen.« Die Angst beflügelte meine Zunge und ließ mich fast fließend gotisch sprechen.

»Chariton von Ephesus?« fragte der Befehlshaber; einer der anderen Goten, der beinahe ebenso bedeutend ausstaffiert war und einen Mantel aus Wolfspelz trug, stieß einen Ruf der Überraschung aus und ritt auf uns zu. Er zog den Befehlshaber zur Seite, und sie flüsterten kurz miteinander und warfen mir immer wieder bedeutungsvolle Blicke zu. Dann wandte sich der Befehlshaber zu mir um. »Ich heiße den Gastfreund des edlen Frithigern willkommen«, sagte er in einem sehr viel freundlicheren Tonfall. »Bleib hier; übergib Triwane das Zeichen des Waffenstillstands. Deine Leute können nach Salices reiten.« Triwane, derjenige, der dem Befehlshaber offensichtlich etwas über mich erzählt hatte, nahm die Zweige, hielt sie hoch in die Luft und ritt langsam auf die Römer zu. Der Befehlshaber rief seinen Truppen etwas zu, die gotischen Linien teilten sich erneut in zwei Reihen, und die Römer begannen vorwärts zu reiten, geleitet von Triwane, der die grünen Zweige empor hielt.

Ich schluckte. Es war vorbei, den Göttern sei Dank.

»Ich danke dir, Herr«, sagte ich und drehte mich zu dem Befehlshaber um. »Kann ich mich jetzt meinen Leuten anschließen?«

Er betrachtete mich nachdenklich, kaute auf seinem Bart herum, dann beugte er sich zu mir hinüber und ergriff die Zügel meines Pferdes. »Der edle Frithigern möchte dich sprechen.« Ich starrte ihn einen Augenblick lang begriffsstutzig an. Frithigern wollte mich sprechen. Dann wurde mir blitzartig klar, daß Frithigern zweifellos ganz dringend Ärzte benötigte. »Nein«, erwiderte ich. »Ich bin Frithigerns Gastfreund, ich habe das Leben seiner Frau gerettet, als sie nach der Kindsgeburt krank war. Freiwillig komme ich nicht mit. Und Frithigern ist ein edel denkender Mann und wird es dir nicht danken, wenn du seinen Gastfreund bei dem Versuch, ihn mit Gewalt mitzubringen, tötest.« Ich versetzte meinem Pferd einen heftigen Tritt, und aufgeschreckt riß es sich von dem gotischen Befehlshaber los. Ich wandte mich den römischen Streitkräften zu, die jetzt durch das Festungstor ritten und galoppierte so schnell, wie ich konnte, in ihre Richtung. Hinter mir schleuderte jemand ein Wurfgeschoß nach mir, doch der Befehlshaber rief ihnen zu, sie sollten damit aufhören. Statt dessen hörte ich, wie andere Pferde hinter mir her galoppierten. Kurz vor mir sah ich, wie der römische Tribun sein Pferd zügelte und seinen Männern Befehl gab, anzuhalten. Dann stolperte mein ermüdetes Pferd und stürzte. In dem Moment, als es den Boden berührte, rollte ich mich von ihm weg und lag einen Augenblick lang zusammengekrümmt da. Die Goten galoppierten heran und sprangen von ihren Pferden. Einer von ihnen fing mein Pferd ein. Ich erhob mich auf Hände und Knie; der Schnee war naß, und das Tageslicht schwand allmählich. Einen Augenblick lang vermochte ich mich nicht zu rühren. In der Mitte zwischen den feindlichen Streitkräften fühlte ich mich so, als sei ich meiner Persönlichkeit beraubt worden. Und ich hatte Angst, Angst nicht so sehr vor all der Gewalt um mich herum – obwohl auch diese mich sehr mitgenommen hatte – als vor etwas anderem: vor der Dunkelheit, vor der Schutzlosigkeit und davor, überhaupt niemand mehr zu sein.

Erneutes Hufedonnern, dann kam der römische Tribun angeritten. Ich hockte mich auf meine Fersen und versuchte, meine Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. Die Goten riefen etwas, und einer zog sein Schwert.

»Was ist hier los?« fragte der Römer. »Ich dachte, wir hätten einen Waffenstillstand geschlossen?«

Der gotische Befehlshaber rief seinem Soldaten zu, er solle sein Schwert wegstecken, dann wandte er sich dem Römer zu. »Wir haben einen Waffenstillstand geschlossen«, sagte er in perfektem Latein. »Aber der Arzt kommt mit uns.«

Der Tribun sah auf mich herunter und berührte den Knauf seines Schwertes. »Er ist Römer, und der Heerführer schätzt ihn außerordentlich«, sagte er in entschiedenem Tonfall. »Du hast kein Recht dazu, ihn gefangenzunehmen.«

»Schätzt ihn der Heerführer mehr als dich und all deine Männer?« fragte der Gote. »Wir können den Waffenstillstand jederzeit widerrufen. Kämpf doch gegen uns, wenn du willst. Der edle Frithigern hat diesen Arzt als einen der Männer erwähnt, die er unbedingt in seine Dienste stellen möchte. Ich werde ihn zu ihm bringen, und wenn ich dazu einige Römer töten muß.«

Mühsam kam ich auf die Beine und fühlte mich sehr klein. Außerdem war mir kalt. Der Tribun saß auf seinem Pferd und blickte auf mich herunter. Dann sah er den gotischen Befehlshaber an, die gotischen Soldaten und seine eigenen Männer. Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid«, sagte er zu mir, »du wirst mit ihm gehen müssen.«

Mir war plötzlich zum Heulen zumute. Ich wußte, daß Frithigern mir nichts Böses antun würde, aber ich fühlte mich zutiefst den Römern zugehörig, empfand den verzweifelten Wunsch, zusammen mit Sebastianus und den Truppen in der Festung zu sein und nicht außerhalb mit all den Barbaren und dem vielen Schnee. Es war so, als hörte ich auf, zu existieren, wenn ich aller Menschen beraubt wäre, die mich kannten – so jedenfalls, als hörte ich auf, als Chariton zu existieren.

Doch zu weinen würde mir wenig helfen, und sowohl die Goten als auch die Römer würden nur verächtlich die Nase rümpfen. »Also schön«, sagte ich zu dem Tribun. Der gotische Soldat hielt immer noch mein Pferd fest; ich trat zu ihm und griff nach dem Sattel. Der Gote ließ die Zügel nicht los. »Richte Sebastianus aus, daß ich mich wie Iphigenie in Aulis fühle«, sagte ich zu dem Tribun und versuchte, meiner Stimme einen unbekümmerten Tonfall zu verleihen. »Sag ihm: Siegreiches Heil zu bringen dem Hellenenvolk, mach ich mich auf!‹ Er wird sich darüber freuen.«

Der Tribun blickte mich verständnislos an, nickte jedoch. »Es tut mir leid«, wiederholte er. »Vielleicht zahlt jemand Lösegeld für dich. Leb wohl, viel Glück.« Er wandte sein Pferd und ritt zu seinen eigenen Männern zurück. Die römischen Soldaten zogen an mir vorbei und verschwanden in der Dämmerung. Von den Festungstoren schimmerte der Schein vieler Lampen; vor den Wällen standen die Fußsoldaten zuhauf. Unterhalb der Lampen entdeckte ich einen goldenen Schimmer: Sebastianus’ vergoldeter Helmbusch, vielleicht auch seine Haare. »Fackelträger Tag und du, Lichtstrahl des Zeus! Ein andres Leben, ein andres Los tut sich uns leuchtend auf. Fahr wohl, du süßes Licht!« Ja, ich empfand Euripides’ Stück passend, selbst wenn Sebastianus anderer Meinung war.

Die Goten wendeten ihre Pferde und zogen das meine mit sich. Es war nicht länger aufzuschieben. Ich bestieg mein Pferd, und wir ritten in die Nacht hinein.

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