15

Natürlich machte ich es genauso, wie Amalberga vorausgesagt hatte. Ich gewöhnte mich sehr schnell daran, eine weibliche Jüngerin des Hippokrates zu sein und meinen gotischen Patienten den ganzen Glanz der medizinischen Fakultät Alexandrias zuteil werden zu lassen. Und sie akzeptierten es. Dabei kam mir zustatten, daß die Goten jede Art ärztlicher Hilfe verzweifelt benötigten – gleichgültig, von wem sie ihnen verabreicht wurde. Und für mich war es wahrscheinlich hilfreich, daß es schrecklich viel zu tun gab.

Die Verantwortung für die Gesundheit der gesamten Wagenstadt lag bei Edico, und in Anbetracht der riesigen Schwierigkeiten, hatte er seine Sache recht gut gemacht. Er hatte ein Hospital eingerichtet, das nach dem Modell desjenigen in Novidunum aufgebaut war. Er hatte jeden rekrutiert, der sich auch nur einigermaßen dazu eignete, ihm als Krankenpfleger zu dienen – eine bunte Mischung ehemaliger römischer Armeeärzte, gotischer Hebammen und weiser Frauen, zweifelhafter Zauberer und Hexen sowie eindeutiger Scharlatane. Er hatte klar und deutlich auf die Notwendigkeit strikter Hygiene hingewiesen. Ansteckende Fälle behielt er im Hospital und isolierte sie samt ihrer Pfleger. Aber eigentlich war er nicht darauf vorbereitet, Amtsarzt einer großen Stadt zu werden, und dazu hatte sich die Wagenburg ganz unzweifelhaft entwickelt. Carragines nannten die Goten sie und benutzten dabei das lateinische Wort für »Wagen«. Mein erster Eindruck von ihr war durchaus zutreffend. Sie war groß, und sie war hoffnungslos übervölkert. Außerdem war sie schmutzig und wurde zunehmend ein Brutplatz für Seuchen.

Das Hauptproblem waren die sanitären Einrichtungen. Edico hatte mit großem Nachdruck auf Brunnen bestanden, aber er hatte nichts von der Notwendigkeit einer Kanalisation gewußt.

Die vorhandenen Einrichtungen waren absolut ungenügend. Die Goten verfügten über einfache Senkgruben, jeweils eine für zehn Familien, gleichmäßig über die Ansiedlung verteilt. Das mag für ein nur vorübergehend aufgeschlagenes Lager oder ein kleines Dorf genügen. Aber für eine Stadt von mehreren zehntausend Menschen war es völlig ungenügend. Nur das kalte Wetter hatte es bisher verhindert, daß die Latrinen das gesamte Grundwasser des Geländes verseucht hatten. Schon gab es zahlreiche Fälle von Wassersucht, Typhus und Ruhr. An diesen Krankheiten starben bereits mehr Leute als in den Kämpfen gegen die Römer. Aber die meisten Toten waren natürlich Kinder, und das bedeutete keine Schwächung für die gotische Streitmacht. Was jedoch im Sommer aus dem Lager werden sollte, wagte ich mir gar nicht vorzustellen.

Doch die Goten sind anders als die Römer. Sie kannten gar keine öffentliche Kanalisation und verstanden nicht, warum diese so notwendig sein sollte. Sie glaubten, wenn man sich wegen derartiger Dinge Sorgen machte, zeuge dies von verweichlichten Sitten, ja von niedriger und sklavischer Gesinnung. Edico sah lediglich betreten vor sich hin, als ich ihm sagte, falls nicht sofort etwas unternommen werde, werde das Lager im Sommer eine Todesfalle sein. Natürlich war er meinetwegen sowieso sehr betreten. Als ich im Hospital zum erstenmal als Frau gekleidet erschien, starrte er mich die ganze Zeit an, dann wurde er rot und sah weg. Ich trug meinen Umhang immer noch locker über die Schultern geworfen, damit er mir nicht im Wege war. Ich hatte die Tunika fest um den Oberkörper gebunden und die Schnur zwischen meinen Brüsten gekreuzt, weil die Tunika ein bißchen zu groß war und weil ich den Halt des Korsetts vermißte. Die Veränderung, die mit meiner Figur vorgegangen war, bestürzte ihn wahrscheinlich. Schließlich mußte ich ihm sagen, er solle die Augen schließen und die »edle Frau Charis« vergessen! Ich war sein Meister und Lehrherr in der Heilkunst, und meine Kenntnisse waren die gleichen geblieben. Doch selbst so konnte ich ihn eine ganze Woche lang nicht dazu bewegen, vernünftig mit mir zu sprechen. Ich hatte keine Zeit, darauf zu warten, bis er sich beruhigt hatte: Das Wetter schlug bereits um, es wurde allmählich wärmer, und sobald der Erdboden taute, würde das Problem der fehlenden Kanalisation kritisch werden. Ich ließ das Hospital gleich am ersten Tag im Stich und bat um eine Audienz bei König Frithigern.

Ich wurde ziemlich schnell in den Audienzsaal gelassen. Frithigern war heute allein. Er sah mich neugierig an und machte mir wegen meiner Erscheinung ein Kompliment. Ich ignorierte es und kam direkt zur Sache: Ich erklärte ihm, Dutzende seiner Leute stürben im Augenblick aufgrund der unzureichenden hygienischen Verhältnisse und weitere Hunderte würden sterben, sobald es heiß würde. Er starrte mich an. Ich erklärte ihm die Sache, zitierte Hippokrates und Eristratos und erzählte ihm von den römischen Städten mit ihren öffentlichen Abwässerkanälen, mit deren Hilfe derartige Probleme vermieden wurden. Er machte einen etwas unglücklichen Eindruck und fragte mich, was er meiner Ansicht nach tun sollte.

»Laß sofort eine öffentliche Kanalisation bauen«, erwiderte ich. »Oder ein Aquädukt. Aber eine Kanalisation wäre einfacher, und außerdem könnten die Römer sie nicht so leicht zerstören.« Frithigern runzelte die Stirn. Er schlug vor, wir sollten abwarten und sehen, ob das gegenwärtige System nicht doch funktioniere, bevor wir ein neues bauten. Ich erwiderte, es sei bereits jetzt überdeutlich, daß das System nicht funktioniere.

Er meinte, es sei nicht die Aufgabe einer Frau, solche Dinge zu entscheiden.

»Vortrefflicher Frithigern«, entgegnete ich, »du hast dir große Mühe gegeben, dich meiner Dienste zu versichern und zu verhindern, daß ich zu den Römern zurückkehren kann. Jetzt, da du mich in deiner Gewalt hast, kannst du auch ebensogut auf mich hören. Es mag nicht die Aufgabe einer Frau sein, Medizin zu studieren, aber ich habe sie nun einmal studiert, und was ich sage, stimmt.«

»Ich habe von dir erwartet, daß du dich um das Wohl der Kranken kümmerst, nicht aber, daß du mir erzählst, wir benötigten eine riesige öffentliche Kanalisation!« fuhr Frithigern mich an. »Der Bau eines Abwassersystems für die ganze Stadt erfordert Hunderte von Männern. Das ist teuer. Und ich weiß nicht einmal, wie so etwas konstruiert wird, auch sonst niemand hier – es sei denn, du hättest dies auf genauso vorbildliche Weise studiert wie Medizin.«

Die Konstruktion einer öffentlichen Kanalisation war auf der medizinischen Fakultät Alexandrias zwar nicht gelehrt worden, aber ich wußte, daß die Goten einen Haufen römischer Gefangener gemacht hatten, die jetzt als Sklaven bei ihnen arbeiteten. Ich machte den Vorschlag, Frithigern solle einige, die von solchen Dingen etwas verstanden, heraussuchen lassen und ihnen ihre Freiheit sowie eine große Geldsumme versprechen, wenn sie eine Kanalisation für Carragines entwürfen. Ich sagte, sie würden auf ein derartiges Angebot sicherlich freudig eingehen. Es war schließlich etwas anderes, als wenn man sie dazu aufforderte, Befestigungsanlagen oder etwas dergleichen zu bauen, was von den römischen Behörden als Verrat angesehen werden könnte. Die Sklaven mußten im Falle einer Pest höchstwahrscheinlich sowieso am meisten leiden.

»Ich kann unmöglich die Gefangenen anderer Leute freilassen!« wandte Frithigern ein. »Bei der Hälfte der Streitfälle, bei denen ich als Schiedsrichter fungieren muß, geht es bereits um Sklaven. Ich kann schließlich nicht das Gesetz hochhalten und dann selbst das Eigentum anderer requirieren. Nein, es ist ganz unmöglich. Ihr Griechen seid einfach fanatisch, wenn es um Hygiene geht. Vielleicht machen euch fehlende Abwasserkanäle ja wirklich krank. Wir Goten sind da aus härterem Holz geschnitzt. Wir baden ja auch nicht dauernd, und das schadet uns ebenfalls nicht.«

Ich biß mir auf die Lippen, um nicht herauszuplatzen und ihn einen stinkenden, unwissenden Barbaren zu nennen.

»Erlauchter Frithigern, hier handelt es sich um verseuchtes Wasser und nicht ums Baden. Dieses Wasser hat bereits Menschen getötet. Heute morgen sind im Hospital mehrere Kinder gestorben. Wie viele müssen denn noch sterben, bevor du zugibst, daß hier ein ernstes Problem vorliegt?«

»Du übertreibst«, erwiderte Frithigern kalt. »Kinder sterben aus vielerlei Gründen. Ich kann meinen Männern nicht erzählen, sie sollten ihre Beutezüge einstellen und Abwassergräben bauen, nur weil irgendeine griechische Ärztin es für richtig hält.«

»Aber ich bin es doch nicht allein, die es für richtig hält! Alle medizinischen Autoritäten stimmen darin überein, daß verseuchtes Wasser Krankheiten verursacht! Und ein römischer Amtsarzt ist nun einmal dafür da, für die öffentliche Gesundheit zu sorgen.«

»Du bist kein römischer Amtsarzt!« fuhr mich Frithigern an.

»Geh jetzt ins Hospital zurück und kümmere dich um die Kranken!«

Ich starrte ihn einen Augenblick lang an, erkannte, daß ich nichts erreichen konnte und verbeugte mich steif. »Wenn du schon nicht in der Lage bist, mir zu helfen, vortrefflicher Frithigern«, sagte ich bitter, »könntest du dann einige deiner Leute, die auf Beutezüge gehen, nicht vielleicht bitten, nach Heilkräutern Ausschau zu halten? Edico hat mir gesagt, ihm seien eine ganze Menge ausgegangen. Ich könnte Zeichnungen von den Kräutern anfertigen, die wir am dringendsten benötigen.«

»Edico hat schon von Anfang an um Arzneimittel gebeten. Aber meine Männer sind nicht daran interessiert, irgendwelche Wurzeln auszugraben oder Beeren zu pflücken, wenn sie sich auf Beutezügen befinden. Du wirst mit dem auskommen müssen, was zur Verfügung steht.«

Ich biß die Zähne zusammen. »Nun gut, vortrefflicher Frithigern. Wenn du deine Männer nicht in der Hand hast und sie nicht dazu bewegen kannst, Abwasserkanäle zu bauen oder nach Heilkräutern Ausschau zu halten, dann werde ich eben jemanden um Hilfe bitten müssen, der vom Geschäft des Herrschens etwas mehr versteht als du!«

Er wurde rot und sprang von seiner Ruhebank auf. »Was willst du damit sagen?«

»Ich werde mit deiner Frau sprechen, edler Frithigern! Ich wünsche dir alles Gute!«

Und ich verbeugte mich und ging hinaus und hoffte, Amalberga werde mich anhören.

Sie tat es, Gott segne sie. Ich ging direkt zu ihr und erklärte ihr die Notwendigkeit von Abwasserkanälen, und sie verstand mich sofort. Ihr war bereits aufgefallen, daß eine Menge Leute um sie herum magenkrank waren, doch sie hatte nicht gewußt, woran dies lag. »Ist das wirklich der Grund dafür?« fragte sie. »Die Latrinen? Ich dachte, es sei die Luft oder das Wasser.«

»Es ist das Wasser«, sagte ich und zitierte meine medizinischen Autoritäten, bis sie abwehrend beide Hände hob und mich bat, aufzuhören.

»Du hast keine Zeit mit Trübsinnblasen vergeudet, scheint mir«, sagte sie und lächelte.

Ich zuckte die Achseln. »Das Problem ist schließlich äußerst dringend.« Aber erst jetzt wurde mir klar, daß ich überhaupt nicht anders reagierte als früher, als jedermann mich für einen Eunuchen gehalten hatte. Und ich hatte mich ja auch nicht verändert; nur was die anderen von mir wußten, hatte sich geändert. Was die anderen von einem wissen, ist allerdings ungeheuer wichtig, und es kann sogar einen selbst verändern; das könnte auch bei mir noch passieren.

»Nun gut, wir werden also Abwasserkanäle bauen müssen«, sagte Amalberga. »Weißt du, wie man so etwas macht?«

Ich erläuterte ihr den Plan, den ich Frithigern unterbreitet hatte, und zählte dann Frithigerns sämtliche Einwände auf. Sie sah mich kleinlaut an. »Und du hast dich deswegen bereits mit ihm gestritten? Ach du liebe Güte! Ich hoffe, du hast ihn nicht beleidigt. Es wird alles sehr viel schwieriger, wenn er erst mal verärgert ist.«

»Er behauptete immer wieder, seine Männer würden dies oder jenes nicht tun. Ich habe ihm gesagt, ich würde mit dir sprechen, weil du sie besser in der Hand hättest als er.«

Sie starrte mich an, dann ließ sie ein leises glucksendes Lachen hören. »O Gott! Ich hoffe, es war sonst niemand zugegen! War es eine Privataudienz? Dann dürfte es nicht allzu schlimm sein. Ich kann so tun, als sei deine Bemerkung ein Scherz gewesen. Nun, jetzt muß ich ja wohl etwas unternehmen. Was brauchen wir? Freiheit und Geld für ein paar römische Sklaven, um das System zu entwerfen. Arbeiter zum Graben – ich glaube, die Frauen und Haussklaven sollten dazu in der Lage sein. Die Soldaten werden niemals einwilligen, Abwasserkanäle zu graben. Du hättest gleich zu mir kommen sollen. Mein Gemahl kümmert sich in erster Linie um den Krieg, in zweiter Linie um die Vorräte, und dann spricht er noch Recht. Diese kleinen Probleme in Haus und Lager sind Sache der Frauen und Sklaven.«

Ich machte ihr klar, daß eine große Epidemie wohl kaum ein »kleines Problem« wäre.

Amalberga lächelte. »Nein, aber für gewöhnlich ist es schon so… Wir sind solche großen Lager, solche großen Städte nicht gewohnt. Wir haben so etwas noch nie gebaut. O ja, ich werde meinem Gemahl erzählen, daß er im Begriff ist, eine große Stadt zu gründen, so wie einst Konstantin und Alexander. Das wird ihn dazu bewegen, diesem Problem mehr Aufmerksamkeit zu widmen.«

»Frithigernopolis?« fragte ich mürrisch.

Amalberga lachte. »Ist das wirklich ein soviel törichterer Name als Hadrianopolis? Aber ich denke, wir werden die Stadt nach wie vor einfach Carragines nennen; auch wenn wir über eine öffentliche Kanalisation verfügen, werden wir nicht lange hier leben. Wenn wir Glück haben, wird man uns anderswo eigenen Grund und Boden zuteilen, und wenn nicht…« Sie machte eine Pause, ihr Blick schweifte unwillkürlich zu ihrem kleinen Sohn, der in einer Ecke des Zimmers saß und mit einem Holzpferdchen spielte. »Wenn nicht, wird die Stadt sowieso nicht überdauern.« Sie sah das Kind einen Augenblick lang besorgt an, so als brenne die Stadt bereits, dann seufzte sie. »Aber das ist im Augenblick nicht so wichtig. Was brauchen wir sonst noch für die Abwassergräben?«

Amalberga sprach mit ihrem Mann, sprach mit den Damen ihres Gefolges und deren Ehemännern, und innerhalb einer Woche schaffte sie es, daß die Arbeiten an der Kanalisation begonnen wurden. Inzwischen war es wärmer geworden, und wir befanden uns mitten in einer Epidemie, aber es gelang uns, sie mit harter Arbeit und strikter Quarantäne unter Kontrolle zu bringen. Wir gaben strenge Anweisung, jeder müsse sein Trinkwasser abkochen. Mit dieser und ähnlichen Maßnahmen kamen wir mühsam durch, bis ein paar Wochen später die Abwasserkanäle fertiggestellt waren. Dann wurden die Probleme, wie vorhergesagt, geringer, und die Goten waren von meiner Weitsicht und von der Klugheit des Hippokrates enorm beeindruckt.

Noch wichtiger aber war es, daß die Königin mehrere der gotischen Anführer dazu überreden konnte, ihre Soldaten auf den Beutezügen nach Heilkräutern suchen zu lassen. Auf diese Weise konnten wir einen ausreichenden, wenn auch unregelmäßig hereinkommenden Vorrat von unentbehrlichen Arzneimitteln wie Alraun und Nieswurz anlegen – obwohl wir ohne Opium auskommen mußten. Edico war überrascht.

»Ich habe seit Monaten versucht, jemanden dazu zu bewegen, nach diesen Kräutern Ausschau zu halten«, erzählte er mir. Im Verlaufe der Epidemie hatten wir wieder zu unserer früheren Partnerschaft gefunden. »Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich Frithigern deswegen angesprochen habe.«

»Was solche Dinge anbetrifft, kannst du Frithigern vergessen«, meinte ich selbstgefällig. »Laß mich nur mit Amalberga reden. Du kannst dich auf die natürliche Überlegenheit der Frauen verlassen.«

Edico schnaubte verächtlich. »Ich bin froh, daß es nicht ›die Frauen‹ sind, sondern nur du und Amalberga. Sonst würden wir Männer den Haushalt führen und uns um die Säuglinge kümmern, und die Frauen würden die Welt regieren.«

»Das können wir euch doch gar nicht überlassen«, erwiderte ich. »Ihr verursacht ein solches heilloses Durcheinander beim Regieren, daß wir euch die Säuglinge nun wirklich nicht auch noch anvertrauen können. Das wäre das Ende der Menschheit.«

»Ich glaube, als Eunuch warst du mir lieber«, meinte Edico, und wir lachten alle beide.

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