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Ganz unschuldig hatte ich geglaubt, in Theogenes verliebt gewesen zu sein; hatte angenommen, daß die Mischung aus Zuneigung und Schmerz, die ich für ihn empfunden hatte, bereits das Schlimmste sei, was ich von der »Leidenschaft, dem Tyrannen der Götter und Menschen«, zu befürchten hatte. Ich erkannte meinen Irrtum. Von ihm hatte ich nicht geträumt, war nicht schweißgebadet aufgewacht, um die halbe Nacht lang heißglühend dazuliegen und an meinen Nägeln zu kauen oder bei dem Geräusch seiner Schritte abwechselnd von heißen und kalten Schauern überlaufen zu werden. Natürlich hätte ich Athanaric wie eine giftige Schlange meiden sollen. Aus einer derartigen Leidenschaft konnte nichts als Bloßstellung und Schande erwachen. Eine Ehe stand außer Frage – sein Vater wollte ihn mit einer reichen Erbin verheiraten, und kein ehrbarer Mensch würde eine Armeeärztin heiraten. Ich fühlte mich ganz benommen vor Sehnsucht und träumte sogar davon, heimlich zu ihm zu gehen und zu sagen: »Ich bin gar kein Eunuch; mein Name ist Charis, nicht Chariton; ich bin noch jung, und früher hielt man mich sogar für hübsch. Bitte schlaf mit mir und behalte es für dich!« Aber wozu sollte das führen? Athanaric war nicht der Mann, so etwas für sich zu behalten. Er würde Fragen stellen und immer weitere Fragen und alles herausfinden, und es wäre nur allzu wahrscheinlich, daß er mich zu Thorion zurückschickte. Und selbst wenn er es nicht tat: Würde die Leidenschaft nach ihrer Erfüllung etwa von selbst erlöschen? Oder würde sie nur wachsen und mich mit unsichtbaren Ketten an Athanaric fesseln? Oder noch schlimmer, mit sichtbaren. Ich konnte schließlich genauso leicht wie die nächstbeste Frau schwanger werden. Hippokrates ist ja der Meinung, daß gesunde und an harte Arbeit gewöhnte Frauen leichter empfangen als verwöhnte, vornehme Frauen. Ich kannte ein paar Arzneien, von denen man annahm, sie könnten die Empfängnis erschweren, doch ich bezweifelte ihre Wirksamkeit. Genau wie Aphrodisiaka sind solche Mittel nicht immer zuverlässig. Und dann steckte ich in einer üblen Klemme: Entweder würde ich vor den Augen der ganzen Welt Schande über mich bringen und das Kind austragen, oder ich würde mir ein Mittel zusammenmischen, um das Kind abzutreiben. Und das würde bedeuten, meinen Eid zu brechen und mein Leben zu riskieren. Nein, es war unmöglich, ich mußte diesem Mann ganz einfach aus dem Wege gehen und alles Erdenkliche tun, um ihn mir aus dem Kopf zu schlagen.

Doch ich fand nicht die Kraft dazu. Ich wollte ihn unbedingt wiedersehen. Ich versuchte, mir diese Leidenschaft auszureden. Warum sollte ich Athanaric denn eigentlich lieben? Sicherlich, er war von vornehmer Geburt, er war intelligent, und er sah auf dem Rücken eines Pferdes phantastisch aus, aber war das wirklich etwas so Ungewöhnliches? Sebastianus zum Beispiel sah besser aus und war gebildeter, doch obwohl ich ihn anziehend fand, brachte er mich doch keineswegs um den Schlaf. Warum sollte das bei Athanaric anders sein?

Es klappte nicht; ich entdeckte nur immer neue Gründe für meine Liebe zu Athanaric – die Art, in der er mich zum Lachen brachte; die Art, in der er noch hochmütiger herumstolzierte, sobald er merkte, daß man ihn nicht mochte, die Art, in der er seinen Daumen unter seinen Schwertgürtel steckte und einfach nur lachend dastand, während die Sonne in seinen Haaren spielte. Und jenseits dieser Äußerlichkeiten noch etwas Tiefergehendes. Eine Leidenschaft, die so heftig war wie die meine, mußte wohl tiefere Wurzeln haben. Geburt und Erziehung, Stellung und Verantwortung machten nicht – wie bei den meisten von uns – sein ganzes Wesen aus. Ich spürte, daß er die Regeln, nach denen er lebte, selbst gewählt hatte und daß er gut gewählt hatte: Er war frei; rund um ihn herum mochte die Welt in Scherben fallen, er würde unberührt davon bleiben und durch das Chaos davon galoppieren, immer noch unzweifelhaft und unerklärbar er selbst. Und ich verwünschte mich dafür, dauernd alles ergründen zu wollen, und hörte damit auf. Aber ich brachte es nicht über mich, ihm aus dem Wege zu gehen.

Ich drängte ihn sogar dazu, mein Gast zu sein, wann immer er in der Festung weilte, und erklärte ihm, genau wie Sebastianus es mir gegenüber getan hatte, daß mir die Gesellschaft gebildeter Menschen fehlte und daß ich sehr auf Neuigkeiten erpicht sei. Und für gewöhnlich nahm er meine Einladungen an. Da er jetzt viel in der Gegend war, sah ich ihn ziemlich häufig. Ich wußte, daß er mich recht gut leiden konnte. Ungeachtet aller Scherze, die er darüber machte, respektierte er meine Fähigkeiten, und er respektierte das, was er meine Ehrlichkeit nannte. Er schien sich in meiner Gesellschaft wohl zu fühlen. Natürlich mußte ich äußerst vorsichtig sein, um ihm meine wahren Gefühle zu verheimlichen. Ich wußte, daß ich ihn nie wieder sehen würde, falls er etwas von ihnen bemerkte. Er gehörte nicht zu denen, die Knaben oder Eunuchen mögen; sonst hätte ich mich auch nicht in ihn verliebt. Und so sagte ich einfach:

»Komm doch zum Abendbrot, wenn du das nächste Mal über den Fluß willst und ein bißchen Zeit hast!« Und er kam und traf mich für gewöhnlich noch im Hospital an. Ich schützte vor, die Einladung vergessen zu haben, bat ihn um Entschuldigung, wusch mich und nahm ihn mit zu mir nach Hause. Während des Abendbrots erzählte er mir die Neuigkeiten aus dem großen Römischen Reich, und ich ließ mindestens einen Vortrag über Hippokrates vom Stapel. Und dann ritt er wieder davon, entweder über den Fluß oder in das Präsidium, und ich nahm ein kaltes Bad, kaute auf meinen Fingernägeln und heulte beinahe vor Enttäuschung. Mein einziger Trost – ein ziemlich verzweifelter Trost! – bestand in der Hoffnung, daß eine derart heftige Leidenschaft mit der Zeit abklingen und versiegen mußte und vielleicht zu einer normalen Freundschaft werden konnte.

Die vielen Neuigkeiten jenes Jahres machten die Sache ein wenig leichter, da wir eine Menge hatten, worüber wir reden konnten. Im Spätherbst starb der Kaiser des Westreichs, der Augustus Valentinian. Der Tod ereilte ihn in Brigetio, in der Diözese Illyrien, wo er einen Feldzug gegen die Barbaren vom Stamme der Quaden vorbereitet hatte. Er hatte fast zwölf Jahre lang über die Welt geherrscht, und er hatte einige Vorrechte gegenüber seinem jüngeren Bruder, den er selbst ernannt hatte, behauptet. Die Nachricht erschütterte die Armee wie ein Erdbeben. (Es hatte den Anschein, daß er am Schlagfluß gestorben war: Er war über die Unverschämtheit eines Gesandten der Quaden ganz außer sich geraten, und es war wohl kein Arzt in der Nähe gewesen, der ihn sofort hätte behandeln können; ich mußte die Besonderheiten des Schlagflusses mit jedermann in Novidunum lang und breit erörtern.) Er hatte seinen Sohn Gratianus schon lange vorher zum Mitregenten ernannt, doch dieser junge Mann war erst achtzehn, und als sein Vater starb, war er weit weg in Gallien. Man befürchtete, einer der illyrischen Generäle könne den Purpur auf der Stelle für sich beanspruchen. Derjenige, dem das besondere Mißtrauen galt, war zufällig Sebastianus’ Vater, der bei seinen Truppen äußerst populäre Heerführer von Illyrien. Der Oberbefehlshaber der Leibgarde, Merobaudes, hielt die Nachricht vom Tode des Kaisers so lange wie möglich geheim und schickte den älteren Sebastianus unter einem Vorwand in das Hunderte von Meilen entfernte Mursa. Dann ließ er den zweiten Sohn des Kaisers holen und rief ihn auf der Stelle zum Augustus aus, um die Erbfolge des Hauses von Valentinian zu sichern. Dieser Sohn war ein kleiner vierjähriger Junge, der zufällig ganz in der Nähe bei seiner Mutter gelebt hatte. Sebastianus war ziemlich wütend.

»Mein Vater ist ein treuer und aufrichtiger Mann, und Merobaudes hätte ihn ebensogut gleich des Verrats bezichtigen können!« sagte er eines Abends zu Athanaric und mir. Sie waren beide auf Stippvisite in Novidunum, Athanaric auf seinem Weg über den Fluß und Sebastianus während einer Truppeninspektion. Sebastianus hatte uns zum Abendessen eingeladen. Er lud mich meistens ein, wenn er im Lager war, und auch Athanaric war jedesmal, wenn sie sich trafen, sein Gast: Er liebte Gesellschaft.

»Es sind schon andere Leute gegen ihren Willen zum Kaiser ausgerufen worden«, meinte Athanaric besänftigend. »Die Soldaten ziehen einen Kaiser vor, der aus ihrer Mitte stammt, das weiß doch jeder! Und was hätte dein Vater dagegen tun können, wenn sie ihm zugejubelt hätten? Er hätte den Augustus Gratianus nicht davon überzeugen können, daß er es gar nicht geplant hatte.

Er hätte gar nicht anders können, als an dem Titel festzuhalten, nur um am Leben zu bleiben – und nach einem kostspieligen Bürgerkrieg hätte er sein Leben wahrscheinlich sowieso verloren.«

Sebastianus stöhnte. »Merobaudes hätte ihm derartige Befürchtungen ganz offen eingestehen können. Dann hätte Vater seine eigenen Schritte ergreifen können, um es zu verhindern. Vielleicht wäre er aus freien Stücken irgendwohin gegangen und hätte nicht diesen dunklen Fleck auf seinem Ruf. Und dieses Kind zum Augustus auszurufen! Valentinian der Zweite! Was wird er tun? Den Alemannen den Krieg erklären, wenn sie ihm nicht ihre sämtlichen Spielsachen ausliefern? ›Dies Schaukelpferd gehört ihrer Erhabenen Majestät!‹«

Athanaric seufzte. »Er ist jetzt der Augustus, und wir sollten den Mund halten. Es kann nichts Gutes dabei herauskommen, wenn man sich über einen Kaiser lustig macht. Niemand hat irgendwelche Anschuldigungen gegen deinen hochgeschätzten Vater erhoben, mein Freund. Er übt nach wie vor sein Kommando aus und genießt das Vertrauen des neuen Kaisers sowie den Respekt seiner Soldaten.«

»Das wollen wir doch hoffen!« rief Sebastianus, doch er war besänftigt.

In jenem Frühjahr gab es an der Grenze noch eine weitere Veränderung, die Sebastianus empörte. Der Vater seines Freundes Theodosius wurde in Afrika – wo er sich auf das höchste ausgezeichnet hatte – plötzlich seines Kommandos enthoben und in Karthago kurzerhand hingerichtet. Niemand wußte, warum. Niemand beschuldigte ihn offiziell des Hochverrats, und der junge Theodosius durfte die Familiengüter behalten, obwohl auch er seines Kommandos enthoben wurde. Die Leute sagten, der Heerführer sei wegen irgendwelcher zauberischer Praktiken hingerichtet worden, doch Sebastianus wies diese Verdächtigungen zurück. »Ja, es stimmt, der Heerführer war blutdürstig«, meinte er mir gegenüber, als er wieder einmal in Novidunum war. »Aber er war aufrichtig; er hätte niemals das Orakel befragt.«

Bei der Erwähnung des Orakels spürte ich, wie es mir kalt den Rücken hinunterlief. »Vielleicht ist sein Name an allem schuld«, sagte ich.

»Sein Name?« fragte Sebastianus verwirrt. »Was willst du damit sagen?«

»Vor ein paar Jahren weissagte ein Orakel ein paar Verschwörern, wer dem gegenwärtigen Augustus nachfolgen würde.«

»Es sagte, ein Theodoros würde nachfolgen. Das weiß doch jeder.«

Ich schüttelte den Kopf. »Die Verschwörer befragten es, wer Valens nachfolgen würde, und die Antwort lautete THEOD, mehr nicht. Sie folgerten einfach ›Theodoros‹ und fragten nicht weiter nach: Es hätte aber auch Theodotos oder Theodoulos bedeuten können – oder Theodosius. Vielleicht sah Valens jemanden mit einem derartigen Namen nicht so gerne auf einem solch wichtigen Posten und schickte Gratianus seinetwegen eine Botschaft.«

Sebastianus war etwas irritiert, aber er schüttelte den Kopf.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mann wie der Heerführer Theodosius allein aufgrund eines derartigen Gerüchts hingerichtet werden sollte. Obwohl diesem verdammten Orakel eine Menge Männer zum Opfer gefallen sind. Man behauptet, unser Herr, der Augustus Valens, nimmt es sehr ernst. Es hat auch ihm den Untergang geweissagt.«

Von diesem Teil des Orakels hatte ich noch nie etwas gehört. Ich starrte Sebastianus überrascht an und fragte ihn: »Was hat es denn gesagt?«

»›Tisiphones heiliger Zorn wird zur Waffe des Verhängnisses, wenn Ares über die Ebene von Mias rast.‹ So soll sein Spruch gelautet haben. Die Leute behaupten, unsere Erhabene Majestät habe seitdem Angst, sich irgendwo in Asien aufzuhalten – ich glaube, es gibt dort einen Berg, der Mimas heißt.«

»Ja, in der Nähe von Erythrae. Aber ich würde einem Orakel nicht trauen. Selbst wenn sein Spruch etwas Wahrheit enthält, drückt es sich bestimmt irreführend aus, so wie bei jenem Mann, dem geweissagt wurde, er werde in Alexandria sterben und der sich sein ganzes Leben lang krampfhaft bemühte, diese große Stadt zu meiden, nur um in einem winzigen Dorf gleichen Namens zu sterben.«

»Orakel führen in die Irre, das stimmt. Herr im Himmel, ich wünschte, dieses wäre niemals überliefert worden! Ich hatte gehofft, man habe es bereits vergessen.«

In diesem Frühjahr erhielt ich auch einige Neuigkeiten von Thorion. Er schickte mir einen begeisterten Brief aus Antiochia, wo er eine neue Stellung als Assessor am Gerichtshof bekleidete. Er machte sich Hoffnungen auf eine weitere Beförderung, diesmal zum Statthalter.

Der Präfekt Modestus haßt mich, aber der oberste Palastbeamte ist mein Freund. Ich habe jetzt zwei Amtsperioden als Assessor hinter mir, und in der vorigen Woche traf ich den Erlauchten im Hippodrom. Ich hätte niemals gedacht, daß Vaters Streitwagen einmal zu irgend etwas gut sein könnten, doch ich kam mit Eutherios ins Gespräch und fand heraus, daß er ganz verrückt auf Wagenrennen ist. So ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf und schenkte ihm eines von Vaters Rennpferden. Er war hocherfreut und lud mich zum Abendessen ein. Bei ihm zu Haus erkundigte er sich dann sehr freundlich nach meinen beruflichen Plänen und meinte schließlich, ich schiene ein fähiger junger Mann zu sein und vergeude meine Zeit als Assessor. Er wolle mir lieber eine Provinz anvertrauen. Ich antwortete ihm, daß ich mich durchaus in der Lage fühlte, eine zu übernehmen, vorausgesetzt, sie sei nicht allzu groß. Er lachte und meinte, er wolle sehen, was er tun könne. Ich nannte ihm insbesondere eine bestimmte Provinz, aber den Namen verrate ich dir nicht, falls es nicht klappen sollte. Aber ich hoffe, daß es klappt. Als Assessor kann man schon Geld verdienen, aber um den Schaden an unserem Vermögen wieder gutzumachen, brauche ich eine Statthalterschaft. Da wir gerade von Schaden reden, hast du schon gehört, daß dieser Rohling Festinus eine Provinz in Thrazien bekommen soll? Ich glaube, es handelt sich um Mösien. Ich hoffe, er krepiert dort unten.

Ich schob den Brief in den hintersten Teil meines Schreibpultes, da ich keine Zeit hatte, ihn auf der Stelle zu beantworten. Ich hatte sehr viel zu tun: Im Westen drohte sich die Pest unter unseren Truppen auszubreiten, und ich wurde dauernd flußaufwärts gerufen – oder auch auf das andere Donauufer. Frithigern hatte es sich angewöhnt, einen seiner Begleiter nach mir zu schicken, wann immer ein Mitglied seines Haushaltes oder einer seiner Freunde etwas schwerer erkrankten. Meistens konnte ich seinem Ruf nachkommen; ich hatte inzwischen mehrere Gehilfen, auf die ich mich mehr oder weniger verlassen konnte, und so durfte ich darauf vertrauen, daß meine Patienten während meiner Abwesenheit vom Hospital gut versorgt waren. Ich hatte Arbetio all meine Bücher kopieren lassen, und da er eine Naturbegabung war, hatte er soviel daraus gelernt, daß er das Hospital ebensogut leiten konnte wie ich. Außerdem hatte ich noch einen weiteren Schüler, einen Goten namens Edico. Er war der Neffe der weisen Frau Areagni, und er war extra über den Fluß gekommen, um die Kunst des Heilens von mir zu erlernen. Er war ein hochgewachsener, blonder junger Mann von außerordentlicher Intelligenz, aber leider ein Analphabet, so daß es sinnlos war, ihm zu sagen, er möge irgend etwas bei Dioskurides nachschlagen. Ich mußte ihm alles selbst erklären. Ich vereinbarte, daß einer der Pfleger ihm Lesen und Schreiben beibringen sollte. Aber das dauerte ihm alles zu lange, es fiel ihm sehr viel leichter zu begreifen, wie man ein Arzneimittel mischte oder einen Arm wieder einrenkte.

Inzwischen waren viele Goten aus dem Norden ihres Landes bis an den Fluß im Süden gezogen und bereiteten sich eifrig darauf vor, nach Thrazien hinüberzuwechseln, sobald die Römer es ihnen erlauben würden. Sie flohen vor den Hunnen. Viele kamen ohne eine Kupfermünze an, sie hatten ihren ganzen Besitz an die Eindringlinge verloren. Manche hatten sich Verletzungen zugezogen oder litten an alten, infizierten Wunden. Sie schlugen ihr Lager in der Nähe des Flusses auf, fischten, pflückten Beeren und bettelten um Nahrung. Frithigern versuchte, Nahrungsmittel unter ihnen zu verteilen, doch diese wurden allmählich knapp. Unter den aus dem Norden kommenden Goten grassierten die verschiedensten Krankheiten, da die Menschen durch den langen Marsch und den Hunger geschwächt waren. Frithigern erbat meinen Ratschlag, was er tun könne, um die Pest unter Kontrolle zu halten, und Sebastianus war äußerst interessiert daran, daß ich dem gotischen Herrscher behilflich sei: Er wollte unter allen Umständen vermeiden, daß sich die Krankheiten über den Fluß hinaus ausbreiteten. So setzte ich häufig hinüber und wieder zurück und versuchte, von meinen Sklaven etwas Gotisch zu lernen.

Ende Mai, als Diokles von Histria über das Flußdelta zurückkehrte, rammte das Boot einen unter dem Wasser liegenden Baumstamm und wurde aufgeschlitzt. Die Passagiere wurden von einem anderen Segelschiff geborgen, das zufällig in der Nähe war, doch Diokles kam mit pfeifendem Atem und am ganzen Körper zitternd in Novidunum an. Er legte sich ins Bett und stand nie mehr auf: Entweder war ihm das kalte Wasser oder aber irgend etwas, was er sich in Histria aufgelesen hatte, auf die Lungen geschlagen. Als dies passierte, befand ich mich gerade auf der anderen Seite des Flusses, um einige Pestfälle zu behandeln. Bei meiner Rückkehr hörte ich, Diokles sei krank und werde in seinem Hause von Xanthos gepflegt. Ich hatte ihn niemals gemocht, doch ich machte mich auf den Weg, um zu sehen, wie es ihm ging, und bot an, bei der Pflege zu helfen. Sie starrten mich beide wie Basilisken an; Xanthos erklärte mir, ich solle mich fortscheren. Nachdem ich ihn gebeten hatte, nicht so verschwenderisch mit Blutegeln und Nieswurz umzugehen, machte ich mich davon. Ich spürte – vielleicht zu Unrecht –, daß ich in diesem Fall nur eine Empfehlung aussprechen konnte: Ich war nicht dazu berechtigt, einem Kollegen eine Behandlungsmethode aufzuzwingen, die er verabscheute.

Xanthos ignorierte meinen Ratschlag natürlich. Als Diokles eine Woche später starb, war er völlig ausgeblutet. Xanthos war zumindest konsequent gewesen: Er wandte bei Freunden dieselben abscheulichen Methoden an wie bei Fremden. Wahrscheinlich haben nur wenige Patienten diese Methoden überlebt, doch er war von ihrer Wirksamkeit überzeugt. Am Tod von Diokles jedoch gab er mir die Schuld.

Kaum hatte ich davon gehört, daß Diokles tot war, als Valerius mich zu sich auf das Präsidium bestellte. Er mochte mich immer noch nicht, war jedoch von all meinen Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Hospital tief beeindruckt und behandelte mich mit großem Respekt. »Hm, ja, höchst geschätzter Chariton«, sagte er an seinem Schreibpult sitzend und überflog ein Stück Papyrus. »Es tut mir sehr leid, aber, hm, dein Kollege, der höchst ehrenwerte…. das heißt, dein Kollege Xanthos bezichtigt dich der Zauberei.«

Ich starrte ihn an. Das Sezieren, dachte ich, doch warum hatte er so lange damit gewartet? »Was soll ich denn getan haben?« fragte ich vorsichtig.

Valerius spitzte angeekelt seine Lippen und nahm das Stück Papyrus erneut zur Hand. »Er behauptet hier, du habest den höchst unglücklichen Diokles einmal besucht, und unmittelbar nach diesem Besuch sei es Diokles sehr viel schlechter gegangen. Er behauptet, gleich nach Diokles’ Tod sei dessen Zimmer durchsucht worden, und man habe unter der Kleidertruhe die in einem Stück Tuch eingewickelte Pfote einer Ratte gefunden. Er behauptet, du habest in deiner Eigenschaft als Zauberer die Kadaver mehrerer Tiere und sogar den Leichnam eines Mannes verstümmelt. Es sei sowieso allgemein bekannt, daß du ein Zauberer bist und deine Heilungen durch Magie bewirkst. Er sagt, er werde den Fall vor das Provinzgericht in Tomis bringen. Außerdem verlangt er von mir, dich in Arrest zu nehmen und dein Haus nach Beweisen für zauberische Praktiken zu durchsuchen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich dein Haus durchsuchen lasse? Ich bin sicher, höchst ehrenwerter Chariton, daß sich diese Anschuldigungen als haltlos erweisen, aber ich möchte in den Augen des Statthalters nicht als pflichtvergessen dastehen.«

Ein Blick in Valerius’ nervöses Gesicht zeigte mir, daß er alles andere als sicher war, diese Anschuldigungen seien haltlos, und daß er erwartete, ich werde mich weigern, mein Haus durchsuchen zu lassen, zumindest so lange, bis ich Zeit hätte, jeglichen Beweis für meine Zaubereien beiseite zu schaffen. Ich schwieg und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »Kann Xanthos mit seiner Klage denn überhaupt zum Statthalter gehen?« fragte ich schließlich. »Ich dachte, dafür ist das Militärgericht zuständig.«

»Ihr seid alle beide nicht im Militärdienst. Er könnte das Militärgericht zwar anrufen, aber er ist nicht dazu verpflichtet.«

Bei einem Militärgericht hätte Sebastianus den Vorsitz geführt, und es war klar, daß Xanthos dies tunlichst vermeiden würde.

»Es steht dir frei, mein Haus zu durchsuchen«, sagte ich. Meine Stimme klang bestimmt ebenso wütend, wie ich auch tatsächlich war, denn Valerius zuckte zusammen. »Ich möchte allerdings bei der Durchsuchung dabeisein, um sicherzugehen, daß nichts kaputt geht. Aber zuerst möchte ich mit Xanthos sprechen.« Xanthos war zu Hause, sein Sklave öffnete mir die Tür. Als dieser sah, wer dort stand, stieß er einen Schrei aus und schloß sie wieder. Ich klopfte noch einmal, und einen Augenblick später ging die Tür auf, und da stand Xanthos. Er machte das Zeichen gegen den bösen Blick, blieb auf der Schwelle stehen und starrte mich haßerfüllt an.

»Mach dich nicht lächerlich; du mußt mich reinlassen und mit mir sprechen«, sagte ich. »Ich habe gehört, daß du mich der Zauberei bezichtigst. Du hast keinerlei Beweise. Ich weiß, daß du mich haßt, aber ich bin unschuldig. Warum ersparst du uns nicht allen beiden die Unkosten und den Ärger eines Verfahrens beim Provinzialgericht?«

Xanthos spuckte vor mir aus. »Glaubst du, daß du mich zum Narren halten kannst? Ich weiß, daß du Diokles mit deinen Zaubersprüchen auf dem Gewissen hast. Ich wollte, du wärest tot, bevor du mich ebenfalls tötest. Außerdem weiß ganz Novidunum, daß du ein Zauberer bist: Das werde ich ohne große Schwierigkeiten beweisen können.«

»Du hast Diokles mit deinen Blutegeln und deiner Nieswurz doch selbst auf dem Gewissen!« rief ich wütend und verlor die Beherrschung. »Wenn du mich vor Gericht bringst, wirst du gar nichts beweisen außer deiner eigenen Unfähigkeit!«

Xanthos grinste mich hämisch an und schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich werde es noch erleben, daß du auf die Folterbank kommst, Chariton! Jetzt scher dich fort.« Er schloß die Tür. Ich schlug noch einmal dagegen, doch nichts rührte sich.

Als ich nach Hause kam, warteten einige Soldaten und der Schreiber von Valerius auf mich, um mein Haus zu durchsuchen. Sueridus und Raedagunda standen in der offenen Tür und sahen verängstigt aus. Raedagunda war inzwischen schwanger: Sie und Sueridus hatten es wohl als selbstverständlich angesehen, miteinander zu schlafen, da sie in demselben Haus und bei demselben Gebieter lebten. Ihr Geflüster und Gekichere nach Einbruch der Dunkelheit hatten mich oft genug geärgert, vor allem, seit ich selbst liebeskrank war, doch als ich jetzt sah, wie sie auf der Türschwelle standen und sich aneinander klammerten, fühlte ich einen Stich im Herzen. Wenn das Gericht Xanthos’ Vorwürfe ernst nahm, würde man sie beide foltern.

Die Soldaten gingen meine Sachen sehr respektvoll durch, und der Schreiber fertigte eine Liste von allem an, was sie fanden. Mein Reservekorsett erregte einen Augenblick lang ihre Neugier:

»Was ist das hier?« fragte der Soldat, der es gefunden hatte.

»Ein Verband für gebrochene Rippen«, erwiderte ich, ohne mit der Wimper zu zucken, und der Schreiber notierte »eine große Leibbinde«.

Natürlich gab es nichts, was mich wirklich belasten konnte. Ich hatte mir ein wenig Sorgen gemacht, Xanthos habe vielleicht etwasins Haus geschmuggelt, aber das wäre äußerst schwierig für ihn gewesen, da der eine oder andere meiner Sklaven meistens anwesend war. Als sich die Durchsuchung jedoch immer länger hinzog, wurde mir ziemlich unbehaglich bei dem Gedanken, wie viele giftige Arzneimittel ich im Hause aufbewahrte.

Vergiftung und Zauberei treten stets zusammen auf. Und es stimmte zwar, daß meine Bücher samt und sonders medizinische Texte waren, aber ich erinnerte mich daran, wie der Soldat in Alexandria auf die Illustration in meinem Galen reagiert hatte. Ein Statthalter oder sein Stellvertreter, die diese Liste des Schreibers überprüften, würden wahrscheinlich das Gefühl haben, hier seien noch einige zusätzliche Untersuchungen erforderlich, vor allem, falls Xanthos noch ein paar von seinen Geschichten über angebliche Zauberei vorbrachte und Zeugen benannte, die von meinem Ruf als Zauberer gehört hatten. Es war in der Tat sehr wahrscheinlich, daß man meine Sklaven folterte. Es war sogar wahrscheinlich, daß man nach ihrer Zeugenaussage auch mich folterte. Jesus Christ, dachte ich, nicht schon wieder.

Doch Thrazien war nicht Alexandria. Ich hatte mächtige Freunde hier. Sebastianus konnte die Dinge vielleicht mit dem Statthalter regeln, und Athanaric hatte ebenfalls einigen Einfluß. Sebastianus hielt sich gegenwärtig irgendwo flußaufwärts auf; Athanaric sollte eigentlich bald vom anderen Donauufer zurücksein. Ich mußte mit allen beiden sprechen und mich ihrer Hilfe versichern.

Die Soldaten gingen fort und baten mich für ihr Eindringen um Entschuldigung. Sueridus und Raedagunda sahen mich unglücklich an. Man hatte ihnen den Grund für die Durchsuchung genannt, und es war ihnen inzwischen klargeworden, was dies für sie bedeuten könnte. Ich lächelte. »Macht euch keine Sorgen«, versuchte ich ihnen Mut zuzusprechen. »Ich bin unschuldig, und genau das wird der Statthalter schon beim ersten Verhör herausfinden. Der Heerführer und der vortreffliche Athanaric werden uns ihren Schutz angedeihen lassen.«

Sie machten einen erleichterten Eindruck. Der Heerführer war die höchste Autorität Skythiens, zumindest was sie betraf, und Athanaric war sowohl als Gote als auch als Römer ein Mensch von unvergleichlicher Vornehmheit. Mit ihrer Protektion dürfte uns eigentlich nichts passieren. Vertrauensvoll machten sie sich wieder an ihre Arbeit. Ich ging in mein Zimmer und wünschte, ebenso sicher sein zu können wie sie.

Unmittelbar nach Diokles’ Beerdigung machte sich Xanthos auf den Weg nach Tomis, um seine Klage beim Provinzgericht vorzubringen. Er mußte einen Haufen Bestechungsgelder ausgegeben haben, da die Voruntersuchung für Ende Juni angesetzt wurde, also bereits zwei Monate später. Eigentlich hätte ich bis zu diesem Termin ins Gefängnis gesperrt werden müssen, da Mord aufgrund von Zauberei eine äußerst schwerwiegende Anschuldigung ist. Doch die zivilen Gerichtshöfe haben keine Befugnis, einen Haftbefehl in einem Armeelager zu erzwingen. Aus Tomis kamen mehrere Beamte und sprachen mit Valerius und anschließend auch mit mir. Ich versprach ihnen, in der angesetzten Verhandlung persönlich zu erscheinen, und sie gingen wieder fort, erleichtert über soviel Hilfsbereitschaft. Sebastianus war wütend, als ich ihm erzählte, was passiert war. Als erstes befahl er Xanthos zu sich und drohte ihm damit, ihn sofort an die Luft zu setzen, falls er die Klage nicht zurückzog. Doch Xanthos weigerte sich. Ich hätte Diokles ermordet, erwiderte er, und ich würde ihn ermorden, wenn er mich nicht vorher aburteilen ließe.

»Zur Hölle mit ihm!« meinte Sebastianus hinterher mir gegenüber. »Ich hätte ihn gleich an die Luft setzen sollen, als du damals hier aufgetaucht bist.«

Er hatte mich zum Abendessen ins Präsidium eingeladen, um den Fall mit mir durchzusprechen, aber er war viel zu wütend, um etwas essen zu können. Er ging ans Fenster und starrte eine Zeitlang mit finsterem Blick hinaus, dann trank er seinen Becher mit unverdünntem Wein aus und stierte auf den leeren Grund. »Ich hätte nie gedacht, daß Bosheit und Eifersucht ihn soweit bringen würden. Ich dachte, er werde auf seinen eigenen Vorteil bedacht sein.«

»Er glaubt wirklich, was er sagt«, entgegnete ich müde. »Vielleicht hat er tatsächlich Angst um sein Leben. Sein Haß ist so stark, daß er alles glaubt. Ich hätte mich ihm gegenüber vorsichtiger verhalten müssen.«

Sebastianus stöhnte mißgelaunt. »Er ist ein verdammt unfähiger Schlächter. Wenn es ihm gelingen sollte, daß ich auf deine Dienste verzichten muß, werde ich ihn höchstpersönlich auspeitschen. Den besten Arzt an der gesamten Grenze wegen der Rachegelüste eines irregeleiteten Quacksalbers zu verlieren!«

»Du hast mich ja nicht verloren«, sagte ich und verspürte mit jedem seiner Worte größere Angst. »Noch jedenfalls nicht. Könntest du nicht irgend etwas tun, um mich zu beschützen?«

Sebastianus zuckte die Achseln. »Du wirst nach Tomis gehen müssen. Ich würde dir gerne raten, dich nicht um die Beschuldigungen zu kümmern, aber das kann ich nicht. Zauberei ist eine äußerst schwerwiegende Anklage; wenn du nicht öffentlich davon freigesprochen wirst, könnte es dir in Zukunft schaden – und auch mir könnte es schaden, wenn ich dich in Schutz nehme. Es wäre etwas anderes, wenn du Diokles einfach die Kehle durchgeschnitten hättest: Dann könnte ich dem Statthalter sagen, er solle seinen Haftbefehl im Schwarzen Meer versenken; ich duldete es nicht, daß einer meiner Männer vor so ein dämliches Zivilgericht gebracht wird. Nein, du wirst nach Tomis gehen müssen.« Er trat wieder an den Tisch und goß sich etwas Wein nach, dann blickte er auf und bemerkte, wie verzweifelt ich war. »Oh, ich hoffe immer noch, daß du durchkommst!« sagte er. »Ich werde noch heute abend an das Büro des Statthalters schreiben und erklären, daß die Klage ungerechtfertigt, böswillig und unbegründet ist, und ich werde mit dir zusammen nach Tomis gehen. Das sollte genügen, den Statthalter davon zu überzeugen, daß du unschuldig bist. Wenn es nach dem augenblicklichen Statthalter ginge, könnte ich dir schon beim ersten Verhör einen vollständigen Freispruch zusagen – aber sein Nachfolger soll etwa zu dem Zeitpunkt in sein Amt eingeführt werden, der für die Gerichtsverhandlung festgesetzt ist. Und ich weiß nicht, wer es sein wird. Doch ich glaube zuversichtlich, daß du davonkommst; Statthalter lassen es nur ungern zu einem Streit mit einem Heerführer kommen, vor allem nicht, wenn dieser einen mächtigen Vater hat. Die einzige Gefahr liegt darin, daß der neue Statthalter so ein ehrgeiziger Streber ist, der nur darauf aus ist, sich einen Namen zu machen, indem er die Feinde des Kaisers züchtigt. Solche Leute lieben Fälle, in denen es um Zauberei geht. Weißt du etwas über den Zauber, von dem Xanthos behauptet, ihn in Diokles’ Zimmer gefunden zu haben?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß überhaupt nichts darüber. Vielleicht war es auch Diokles’ eigener Zauber oder sonst jemand hat ihn dorthin geschafft, vielleicht sogar Xanthos selbst, um einen Beweis zu haben. In den Schriften des Hippokrates wirst du kein Wort über derartigen Zauber finden.«

»Wir können also keinen Gegenbeweis bringen. Gut, wir werden den Statthalter eben mit dem ganzen Glanz der skythischen Armee einschüchtern müssen.«

Schließlich begleiteten mich sowohl Sebastianus als auch Athanaric nach Tomis. Inzwischen hatte sich Athanarics Vorhersage bewahrheitet: Die Goten begannen die Donau zu überqueren und nach Thrazien einzusickern. Doch sie kamen nicht bis Skythien; die kaiserlichen Behörden hatten beschlossen, sie etwas weiter südlich über den Fluß setzen zu lassen und sie in der benachbarten Provinz Mösien anzusiedeln. Die überfüllten Lager an dem Novidunum gegenüberliegenden Ufer waren inzwischen geräumt worden, ihre Einwohner waren fortgezogen, um die Donau in der Höhe von Mösien zu überqueren. Von dort aus würden sie in das brachliegende Land im Herzen der Diözese geschickt werden. Der Kaiser und sein Hof waren von der Idee eines gotischen Staates in Thrazien äußerst angetan. Die Vorstellung, daß die Goten auf zuvor brachliegendes Land Steuern zahlten und Rekruten für die kaiserlichen Armeen lieferten, war für das kaiserliche Schatzamt und die Heerführung gleichermaßen unwiderstehlich. Athanaric hatte in den Verhandlungen zwischen dem Kaiser und den Terwingen eine wichtige Rolle gespielt, doch inzwischen hatte er nichts mehr damit zu tun und mehr als genug Zeit, um einem Freund bei dessen Prozeß beizustehen. Er machte mich darauf aufmerksam, daß er mich gewarnt habe, war jedoch ganz erpicht darauf, mir zu helfen.

Und es sah mehr und mehr danach aus, als würde ich diese Hilfe gebrauchen: Der neue Statthalter verhieß für meine Sache gar nichts Gutes. »Ein junger Mann, das ist alles, was ich weiß«, sagte Athanaric. »Er hat die Statthalterschaft im letzten Augenblick bekommen und einen anderen Anwärter dabei ausgebootet. Es sieht so aus, als sei er ganz wild darauf, sich einen Namen zu machen.«

»Er sollte lieber wild darauf sein, unter allen Umständen zu vermeiden, anderen Leuten unrecht zu tun«, meinte Sebastianus und war fast ebenso unglücklich über das, was uns da bevorstand, wie ich.

Ich war inzwischen so sehr an das Leben auf dem Pferderükken gewohnt, daß ich nicht einmal daran dachte, ein Schiff nach Tomis zu nehmen. Wir ritten in die Provinzhauptstadt, und Sebastianus ritt wie immer an der Spitze eines Reitertrupps. Es ist schwer, sich hilflos und verängstigt zu fühlen, wenn man an der Spitze eines Reitertrupps reitet, und das machte mir den Weg ein wenig leichter. Wir wollten ein paar Tage vor der Verhandlung da sein, um Sebastianus Zeit zu lassen, den Statthalter ein wenig zu bearbeiten. Wir benötigten zwei volle Tage, um nach Tomis zu gelangen. Athanaric verließ uns am zweiten Tag und galoppierte voraus. Er benutzte das System der kaiserlichen Post und wechselte die Pferde häufiger: So konnte er Sebastianus’ Leute in Tomis veranlassen, sein Hauptquartier für ihn vorzubereiten. So lautete jedenfalls sein Vorwand; ich glaube, in Wirklichkeit hatte er ganz einfach vergessen, wie man im Trab reitet.

Die Provinzhauptstadt Tomis ist nach thrazischen Maßstäben eine große Stadt – nach asiatischen oder ägyptischen allerdings ein ganz gewöhnlicher Flecken. Er liegt sehr hübsch am Schwarzen Meer, nach Osten zu, auf die aufgehende Sonne ausgerichtet, und verfügt über einen breiten Sandstrand und einen schönen Hafen. Wie alle thrazischen Städte ist auch Tomis stark befestigt, seine Wälle sind aus den leicht rötlichen Steinen erbaut, die man in der Gegend findet. Als wir uns der Stadt an jenem Abend näherten, machte sie einen leuchtenden und weiträumigen Eindruck. Der Marktplatz war durchaus sehr eindrucksvoll: Er war von der Residenz des Statthalters, Sebastianus’ Hauptquartier, einem heidnischen Tempel und einem schönen Säulengang mit Läden darin gesäumt. Sonst gab es außer der Kirche allerdings nicht mehr viel Sehenswertes.

Athanaric befand sich bereits im Hauptquartier; er war gegen Mittag dort angekommen. Das Personal hatte alles für uns vorbereitet, und wir konnten unsere Pferde einfach abgeben und uns direkt zum Abendessen begeben. Obwohl er in Tomis stationiert war, verbrachte Sebastianus im Grunde genommen nicht viel Zeit dort. Er war ein äußerst aktiver Befehlshaber und zog es vor, seine Truppen im Feld zu inspizieren und ihre Probleme an Ort und Stelle zu regeln. Seine persönlichen Sklaven und seine Lyra spielende Geliebte ließ er jedoch meistens in seinem Hauptquartier, so daß er es uns bequem machen konnte. Wir ließen uns alle drei zu einem ausgezeichneten Mahl nieder, obwohl ich viel zu nervös war, um großen Appetit zu verspüren. Ich mußte dauernd an das Gefängnis in Alexandria denken. Die Lyraspielerin kam, aber Sebastianus schickte sie wieder weg. »Keine Zeit fürs Vergnügen heute abend, meine Süße!« sagte er zu ihr. »Für den Augenblick jedenfalls.«

»Ein Glück, daß wir bereits hier sind«, sagte Athanaric während des ersten Ganges. »Der Statthalter ist inzwischen eingetroffen und hat den Fall drei Tage vorverlegt – die Verhandlung ist bereits auf morgen angesetzt.«

»Sacra Maiestas!« rief Sebastianus aus. »Warum hat er das getan? Wir haben uns noch nicht einmal einen Anwalt besorgt! Wer ist der Mann überhaupt?«

»Ich weiß nicht, warum er das getan hat«, erwiderte Athanaric. »Ich habe mich sofort darüber beschwert. Er ist übrigens ein Landsmann von dir, Chariton, ein Bursche aus Ephesus. Sein Name ist Theodoros.«

Ich hatte gerade an meinem Wein genippt und bekam ihn bei diesen Worten in die falsche Kehle; ich erlitt einen Hustenanfall und verschüttete den Rest des Bechers beinahe über mich.

»Kennst du ihn?« fragte Sebastianus überrascht.

»Wie heißt er mit vollem Namen?« fragte ich Athanaric. »Hast du ihn kennengelernt?«

»Theodoros, Sohn des Theodoros. Ja, er hat mich in der Präfektur empfangen. Er ist ein junger Mann, dunkelhaarig, breitschultrig, schlecht gewachsene Zähne. Er sagt, es täte ihm leid, daß ich wegen der Terminverschiebung verärgert sei, aber er glaube nicht, daß es etwas ausmache.«

Ich fing an zu lachen; es dauerte eine ganze Weile, bevor ich aufhören konnte. Die anderen beiden beobachteten mich mißtrauisch. »Er hat recht«, meinte ich schließlich. »Ihr hättet euch nicht bemühen brauchen, mich nach Tomis zu begleiten. Keiner von euch beiden. Ich könnte morgen in jenen Gerichtssaal spazieren und einen mit magischen Symbolen bestickten Umhang tragen und eine Hymne auf Hermes Trismegistos anstimmen: Der Statthalter würde mich trotzdem freisprechen. Heiliger Unsterblicher! Thorion, Statthalter von Skythien! Oh, Herr im Himmel!« Athanarics verwirrte Miene hellte sich auf.

»Da gab es doch einen Brief von einem gewissen Theodoros zwischen deinen Sachen in Alexandria.«

»Es ist der nämliche Theodoros.«

Athanaric lächelte und erklärte Sebastianus die Sache. ›»Lieber Charition, hör damit auf, diesen verdammten Erzbischof zu behandeln und komm zu mir nach Konstantinopel; Maia würde sich sehr freuen, dich wiederzusehen.‹ Woher kennt Euer Gnaden denn den nun her?« Er schnippte mit seinen Fingern und beantwortete sich seine Frage selbst. »Jetzt erinnere ich mich, ich habe gehört, du wärest der Schützling eines Theodoros von Ephesus. Aber sein Brief klang so, als seiest du ein Mitglied seines Haushalts.«

»Das war ich auch – so etwas Ähnliches. Ich war ein Familienangehöriger seines Erziehers, wir wuchsen zusammen auf, haben zusammen Homer studiert. Er sorgte dafür, daß ich Latein lernte, damit ich ihm bei seinen Lektionen helfen konnte. Er schrieb mir, er erwarte bald einen Posten als Statthalter zu bekommen, doch er verriet nicht, wo; vielleicht wollte er mich überraschen.«

»Das hat er dann ja auch geschafft«, meinte Sebastianus, der jetzt ebenfalls lächelte. »Bist du sicher, daß er dich freisprechen wird?«

»Xanthos tut mir leid«, erwiderte ich.

»Nun gut. Glaubst du, es könnte etwas schaden, wenn ich Daphne wieder hereinrufe und wenn wir noch ein kleines Fest vor dem großen Ereignis feiern?«

Er rief Daphne wieder herein und ließ einen neuen Krug Wein kommen, und wir feierten ein Fest. Es wurde ein recht fröhliches Fest, und wir sprachen reichlich dem Weine zu. Daphne sang ein paar äußerst komische und vulgäre Lieder, und Sebastianus torkelte schließlich Arm in Arm mit ihr zu Bett und ließ Athanaric und mich den Wein austrinken. »Der Glückliche!« meinte Athanaric und starrte Sebastianus verdrießlich hinterher.

Ich sagte nichts. Meine erste freudige Erregung war vorüber, und ich begann mir Sorgen über mein Wiedersehen mit Thorion zu machen. Die Provinz, die er dem obersten Palastbeamten gegenüber erwähnt hatte, war also Skythien, und es war auch kaum so überraschend, daß er sie bekommen hatte, da sie nicht unbedingt zu den Provinzen gehörte, die jeder wollte – nicht so reich wie die asiatischen oder ägyptischen oder so angesehen wie Syrien oder Bithynien. Thorion hatte sie um meinetwillen gewollt, um mich dazu überreden zu können, nach Hause zu kommen. Was würde er wohl denken, wenn er mich sah?

»Ich wünschte, ich hätte auch so ein Mädchen«, sagte Athanaric und gaffte immer noch hinter Daphne her. »Aber wahrscheinlich würde sie nicht lange bei mir bleiben. Ich reise viel zuviel umher. Die Nachteile eines Lebens als Kurier! Ich glaube, du hast gar nicht so recht Notiz von ihr genommen.«

»Doch, sie hat sehr nett gesungen«, antwortete ich mit kraftloser Stimme. Thorion war plötzlich aus meinen Gedanken verschwunden, wie ein Stein, den man ins tiefe Wasser wirft, ein paar Wellen wirft und dann spurlos verschwindet. Mein Bewußtsein glich einem Spiegel, der nichts außer Athanaric reflektierte. »Und sie ist hübsch.«

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Athanaric. Er hielt inne, blickte zur Tür und starrte mich einen Augenblick lang an: Im Licht der Lampe leuchteten seine Augen in einem lebhaften Blau. »Eines habe ich mich oft gefragt, Chariton. Möchten Eunuchen auch… ich meine, hast du jemals eine Frau gewollt?«

»Nein«, antwortete ich. Ich mußte nach Luft ringen; meine Ohren summten. »Andere vielleicht… manchmal. Ich weiß es nicht.«

»Du bist wahrscheinlich besser dran ohne dergleichen Gelüste.« Athanaric richtete sich auf, reckte sich und gähnte. »Die Begierde ist eine Qual.«

»Ja«, erwiderte ich inbrünstig und ohne nachzudenken. Athanaric warf mir erneut einen Blick zu, und diesmal lag Überraschung darin. »Ist das wirklich deine Meinung? Chariton der Arzt, der vollkommene Philosoph, der Praktiker der stoischen Gleichmut? Du hast doch gerade gesagt…« E r hielt inne und wurde plötzlich mißtrauisch. »Keine Frauen? Aber Männer?«

»Ein Mann«, erwiderte ich und biß mir auf die Lippen.

»Ein Eunuch kann wahrscheinlich nichts dafür«, meinte er, doch in seinen Augen entdeckte ich einen Ausdruck des Widerwillens. »Dabei mußt du ein hübscher Junge gewesen sein.«

»Nein, nein, so war es nicht. Es ist überhaupt nichts passiert.«

Daraufhin wurden aus dem Widerwillen und dem Mißtrauen eine mit Mitleid gemischte Erheiterung. »Mochte er keine Knaben? Was hast du getan?«

»Nichts«, sagte ich. »Ich habe nie etwas gesagt und er auch nicht. Irgendwann kommt man über so etwas hinweg. Das ist meine ganze Erfahrung mit der Begierde. Nicht gerade überwältigend, oder?«

Er lachte. »Armer Chariton!«

Ich schüttelte den Kopf. »Mir bleibt ja Hippokrates.«

Am nächsten Morgen gingen wir zur Gerichtsverhandlung. Ich legte meinen besten Umhang um, den mit dem rotgrünen Saum. Sebastianus bot »den ganzen Glanz der skythischen Armee« auf. Er erschien in seinem goldenen Harnisch und mit dem kurzen karmesinroten Umhang in prächtiger Aufmachung vor Gericht. In seinem Gefolge marschierte eine Leibwache aus einem Dutzend Soldaten. Auch Athanaric tat sein Bestes; er hüllte sich in einen frischgewaschenen Umhang – es war ein besonders schöner mit einem gemusterten Saum –, hängte sich sein kaiserliches Kuriersiegel an einer goldenen Kette um den Hals und stolzierte mit seinem durch den Schwertgürtel gesteckten Daumen in den Gerichtssaal. Ich glaube, selbst wenn mir der Statthalter feindlich gesinnt gewesen wäre, dieser ganze Aufzug hätte ihn schwankend gemacht.

Der Gerichtssaal befand sich im Erdgeschoß der Präfektur und grenzte an den ersten Innenhof. Er war mit Statuen der Justitia geschmückt; ein dieser Göttin geweihter und als heidnisch angesehener Altar war aus einer der Wände herausgerissen worden und hatte abbröckelnde Gipsstücke hinterlassen. Die Gerichtsdiener ließen Sebastianus, Athanaric und mich ein, doch mit Ausnahme von zwei Soldaten verwehrten sie allen Begleitern von Sebastianus den Eintritt und wiesen dabei entschuldigend auf den Platzmangel hin. Das Gebäude war bereits mit zahlreichen Bürgern von Tomis überfüllt. Ein Prozeß, bei dem es um Zauberei geht, erweckt jedesmal beträchtliches Interesse. Außerdem wollten die Leute einen Blick auf ihren neuen Statthalter werfen.

Xanthos war bereits da. Er war in seine besten Gewänder gehüllt, und in seiner Begleitung befand sich eine ganze Anzahl von Leuten aus Novidunum, die wohl allesamt dazu bereit waren, zu bezeugen, daß ich ein Zauberer sei. Die Gerichtsdiener wiesen mir einen Platz zur Linken des Podiums hinter einer Schranke an; meine Freunde saßen dem Gericht direkt gegenüber. Auf den Bänken gab es keinen Platz mehr, doch die Gerichtsdiener brachten Stühle herbei und machten viel Aufhebens davon, irgendwelche Kissen aufzutreiben.

Thorion erschien genau zur vollen Stunde, als habe er die Zeit mit der Wasseruhr gemessen. Er hatte sich kaum verändert. Vielleicht war er ein bißchen schwerer und sein Gesicht eine Spur voller, auch war er mit größerer Sorgfalt gekleidet – er hatte seinen Umhang nie so getragen, daß die Purpurstreifen gerade nach unten verliefen, aber heute hätte man sie mit einem Senkblei nachmessen können. Noch bevor er sich setzte, schweiften seine Blicke neugierig über die Anwesenden hinweg. Zweimal sah er mich an und blickte gleich wieder weg. Er setzte sich, blickte erneut zu mir, und ich lächelte. Er starrte mich an, und ich sah, wie sich seine Lippen bewegten, als fluche er leise vor sich hin.

Die Verhandlung war eröffnet. Xanthos hatte einen Rechtsanwalt engagiert, einen rundlichen Mann, der sich erhob und eine lange, schwülstige Ansprache über die Verdienste seines Klienten und über meine Niedertracht, Verderbtheit, Gottlosigkeit, Heuchelei und Verschlagenheit vom Stapel ließ. Thorion sah mich währenddessen ununterbrochen an und schüttelte voller Verwunderung den Kopf. Die Zuschauer flüsterten miteinander und starrten mich an: zuerst nur neugierig, dann, als der Rechtsanwalt allmählich in Fahrt kam, voller Faszination und Abscheu. Der Anwalt führte die einzelnen Anklagepunkte auf und förderte schließlich mit einem eleganten Schwung die belastende Rattenpfote zutage. Erneutes Flüstern und erschrockenes Atemanhalten. Xanthos grinste triumphierend. Sebastianus wandte sich unbehaglich ab, der Anwalt beendete seine Rede, verbeugte sich vor dem Richter und setzte sich.

»Also«, sagte Thorion kurz angebunden. »Was hat der Angeklagte zu all dem zu sagen? Hast du einen Verteidiger mitgebracht, Chariton von Ephesus?« Er sprach den von mir angenommenen Namen mit einer gewissen Abneigung und einem Ausdruck hochmütiger Verachtung aus, so als sei er mir noch nie begegnet.

»Ich werde für mich selbst sprechen, Euer Ehren«, antwortete ich und erhob mich, um meine Verteidigungsrede zu halten. Ich schilderte Diokles’ Unfall, beschrieb die Behandlung, die Xanthos seinem Freund hatte angedeihen lassen, und beteuerte meine völlige Unkenntnis magischer Künste. »Ich bin in Alexandria ausgebildet worden und verehre den großen Hippokrates, und zwar sowohl aufgrund meiner Ausbildung als auch aus Neigung!« schloß ich. »Wir sind der Überzeugung, daß Krankheiten natürliche Ursachen haben und auch die Heilungen auf natürliche Weise zustande kommen. Und wir sind viel zu beschäftigt damit, diese Ursachen zu studieren, um magischen Kräften Beachtung schenken zu können. Abgesehen davon schwören wir, unsere Kenntnisse zum Heilen zu benutzen und niemals, um jemandem zu schaden. Ich bin in allen Punkten unschuldig.«

Ich setzte mich. Die Leute aus Tomis flüsterten miteinander, sie waren alles andere als überzeugt und warfen mir versteckte Blicke voller Abscheu und Mißtrauen zu.

Thorion nickte und beugte sich vor. »Wenn ich recht verstehe, so ist der Kläger lange Zeit Chefarzt in der Festung Novidunum gewesen, und zwar bis zur Ankunft des Beschuldigten. Kann mir jemand Auskunft geben, wie er seinen Posten ausgefüllt hat?«

»Mein Klient hat sein ganzes Leben lang nach der apollinischen Heilkunst praktiziert!« beeilte sich der Rechtsanwalt in höflichem Tonfall zu versichern. »Genau wie bereits sein Vater hat er furchtlos die Kranken behandelt und ihre Schmerzen gelindert…«

»Ja, ja, aber wie hat er seinen Posten ausgefüllt?« fragte Thorion. »Irgendwelche Zeugen?«

Jetzt erhob sich Sebastianus voll lässiger Eleganz.

»Der vortreffliche und höchst edle Sebastianus, Heerführer von Skythien«, verkündete der Gerichtsdiener. »Vorzüglicher«, sagte Thorion und lächelte das mir so vertraute Lächeln, bei dem er seine krummen Zähne entblößte, »ich bin erfreut, die Bekanntschaft eines so bedeutenden Mannes zu machen. Ich fühle mich geehrt, daß du es auf dich genommen hast, vor unserem Gerichtshof zu erscheinen.«

Sebastianus machte eine abwehrende Geste. »Darf ich zugunsten des Angeklagten aussagen?«

»Ein edler Mann von deinen Qualitäten könnte auch zugunsten des Teufels aussagen.«

Sebastianus fing an, Xanthos eindringlich als unfähigen und stümperhaften Quacksalber zu schildern und mich in den höchsten Tönen zu loben. »In dem Jahr, bevor der allseits geschätzte Chariton zu uns kam«, stellte er fest, »wurden in dem Hospital in Novidunum 83 Patienten behandelt, davon starben 72. Im vorigen Jahr wurden 148 behandelt, davon wurden 102 wieder gesund. Darüber hinaus ist die Anzahl der kranken Männer unter meinen Soldaten drastisch gesunken. Ich schätze Charitons Dienste außerordentlich. Er ist ein sehr geschickter und hingebungsvoll arbeitender Arzt, und dieses ganzes Gerede über Zauberei ist schierer Unsinn.« Er setzte sich.

Thorion nickte während dieser Rede immer wieder. »Der vorzügliche Heerführer war bereits so gütig, sich in einem Brief an meinen Vorgänger auf ähnliche Weise zu äußern«, meinte er, als Sebastianus geendet hatte. »Also: Xanthos war Chefarzt und füllte seinen Posten miserabel aus; Chariton taucht auf, verdrängt ihn, und die Arbeit funktioniert. Dieser Bursche Diokles fällt in die Donau, zieht sich eine Lungenentzündung zu und wird von Xanthos behandelt, woraufhin er prompt stirbt. Xanthos beschuldigt seinen Gegner, der ihn von seinem Posten verdrängt hat.«

»Ruhmvoller Statthalter!« rief der Rechtsanwalt aufgebracht. Xanthos saß stocksteif da und starrte Thorion mit offenem Mund an.

»Ach, schweig doch!« sagte Thorion ungeduldig. »Du kannst schließlich nicht leugnen, daß dein Klient einen tiefen Groll gegen den Angeklagten hegt. Hast du irgendeinen Beweis, um Chariton mit dem Tod des Diokles in Verbindung zu bringen?«

»Er ist ein Zauberer!« schrie Xanthos und sprang auf, bevor sein Anwalt etwas sagen konnte. Er packte die Brüstung der Gerichtsschranke, als sei sie eine Art Waffe, die er auf mich schleudern wolle, und spuckte seine Worte heraus. Dabei warf er wilde Blicke um sich, als wolle er den Gerichtshof herausfordern, ob er es wage, ihn einen Lügner zu nennen. »Das weiß jeder in der Festung. Seine eigenen Sklaven rühmen sich dessen. Er erzielt seine Heilungen durch Magie. Er verstümmelt die Leichname von Tieren, ja, auch von Menschen!« Ein erregtes Flüstern ging durch die Reihen. »Ich habe Zeugen hier, die dies bestätigen können!« Xanthos’ Stimme überschlug sich vor Erregung, obwohl sein Anwalt ihn zu beruhigen versuchte, um der Zeugenaussage einen noch größeren Effekt zu geben.

»Alaric und Ursacius hier haben den Leichnam eines Mannes untersucht, eines römischen Soldaten, der von diesem kastrierten Zauberer aufgeschnitten worden ist, um irgendwelche Geister zu beschwören! Ich habe selbst gesehen, wie er es getan hat, und die beiden können es beschwören!«

Entsetzte Ausrufe. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Xanthos sich Zeugen für das Sezieren des Leichnams beschafft hatte. Ich hatte geglaubt, sein Wort würde gegen meines stehen. Doch Thorion wischte Xanthos Angebot mit einer Handbewegung beiseite. »Vielleicht können sie beschwören, daß dieser Leichnam irgendwelche Anzeichen aufwies, aufgeschnitten worden zu sein. Und du sagst, du könntest beschwören, deinen Kollegen dabei beobachtet zu haben, wie er den Leichnam aufgeschnitten hat. War es der Leichnam von Diokles? Nein! Woher willst du denn wissen, daß das Aufschneiden nicht Teil eines ganz normalen chirurgischen Eingriffs war? Ich nehme doch an, daß der Angeklagte Chirurg ist? Gut, da haben wir es! Wollen deine Zeugen etwa beschwören, daß die von ihnen bemerkten Anzeichen für ein Aufschneiden nekromantischer Natur waren und nicht etwa vor dem Tod ausgeführt wurden, in dem Versuch, das Leben des Patienten zu retten?« Die Zeugen sahen nervös und unsicher aus: Sie schüttelten den Kopf.

»Ich habe selbst gesehen, wie er den Körper nach dem Tod des Mannes aufgeschnitten hat!« rief Xanthos aus. »Er tat es in dem Hinterraum des Hospitals in Novidunum, eines Nachts, als er dachte, niemand könne ihn sehen, aber ich spähte durch das Schlüsselloch und habe alles beobachtet!« Wieder ging ein Raunen durch die Reihen der Zuhörer. Thorion hob die Hand und gebot Schweigen. »Selbst wenn ich deine Aussage akzeptiere, daß das Aufschneiden nach dem Tode stattgefunden hat – doch angesichts deines offensichtlichen Hasses gegen den Angeklagten weiß ich nicht, warum ich das sollte –, könntest du mir irgendeinen Beweis dafür liefern, daß es Teil einer nekromantischen Prozedur und nicht eine ganz normale medizinische Tätigkeit war? Natürlich sezieren Ärzte hin und wieder einen Leichnam! Jeder gebildete Mensch weiß, daß sie bisweilen dazu gezwungen sind, um zu erforschen, wie sie ähnliche Erkrankungen in Zukunft behandeln können. Hast du Galen oder Herophilos gelesen? Was? Und du willst Arzt sein! Ich habe den deutlichen Eindruck, daß du wirklich so unfähig bist, wie der höchst ehrenwerte Heerführer sagt. Hast du noch andere Beweise?«

»Alle wissen, daß er ein Zauberer ist. Ich kann Zeugen benennen…«

»Was alle sagen, ist noch lange kein Beweis. Hast du Zeugen dafür, daß er einen magischen Talisman hergestellt oder jemanden verwünscht hat, um ihn krank zu machen? Oder hat er Astrologie betrieben? Nein? Sonst noch irgendwelche Beweise? Nein? Gut, die Klage ist abgewiesen.«

Es gab einen Tumult im Gerichtssaal. Thorion hob seine Stimme und fuhr fort. »Außerdem wird eine Geldstrafe gegen Xanthos, Sohn des Polykles, festgesetzt, weil er eine böswillige und unbegründete Klage gegen den höchst ehrenwerten Chariton vorgebracht hat. Beisitzer, haben wir sonst noch etwas für heute vormittag? Gut, dann vertagt sich der Gerichtshof bis heute nachmittag.«

Xanthos und sein Rechtsanwalt begannen zu protestieren. Xanthos weinte und schrie und schlug mit seinen Händen gegen die Brüstung. Die Geldbuße für das Vorbringen einer unbegründeten Klage ist ziemlich hoch, und er hatte offensichtlich schon eine Menge für Bestechungsgelder und Rechtsanwälte ausgegeben: Diese Sache mußte ihn ruinieren. Außerdem würde er seinen Posten verlieren, und es war sehr unwahrscheinlich, daß er einen anderen bekam, nachdem er öffentlich als unfähig gebrandmarkt worden war. Er eilte auf das Podium zu und wollte Thorion um Gnade anflehen. Thorion gab den Gerichtsdienern ein Zeichen, und diese zerrten den immer noch Schreienden hinaus. Der Anwalt folgte ihm und sah sich noch einmal nach Thorion um. Das Publikum erhob sich und erörterte lauthals das Urteil. Thorion lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Daumen unter dem Gürtel verschränkt, und pfiff geräuschlos. Er hielt meinen Blick fest und grinste.

Als das Publikum den Saal verlassen hatte, erhoben sich Sebastianus und Athanaric und traten auf Thorion zu; ich erhob mich ebenfalls. »Geschätzter Theodoros«, sagte Sebastianus und bot Thorion seine Hand dar. »Du verschwendest deine Zeit jedenfalls nicht.«

Thorion schüttelte Sebastianus’ Hand und lächelte. »Als ich noch Beisitzer war, habe ich mir genug hochtrabende Reden angehört. Ich sehe nicht ein, warum ich jetzt, da ich Statthalter bin, noch mehr davon anhören sollte. Und ich glaube, ich hätte diesen Burschen auch als Lügner und Betrüger durchschaut, wenn ich nicht im vornherein über diesen Fall Bescheid gewußt hätte. Aber Charition hat dir ja wahrscheinlich erzählt, daß er ein alter Freund von mir ist. Entschuldigt mich einen Moment, edle Herren.« Er eilte zu mir, stand da und starrte mich einen Augenblick lang an, dann schüttelte er verwundert den Kopf. »Bei Artemis der Großen! Herrgott, Charition, ich habe dich wirklich nicht erkannt. Bist du es wirklich?«

»Natürlich bin ich es«, entgegnete ich und umarmte ihn. Er schloß mich seinerseits ungestüm in die Arme, dann ließ er mich los und trat einen Schritt zurück, wobei er mich erneut anstarrte. »Und auch noch Hosen!« rief er aus. »Gütiger Gott, du siehst aus wie ein Barbar!«

»Es ist kalt hier im Winter.«

»Es muß schon verdammt kalt sein, bevor ich in solch einem Aufzug rumlaufe! Entschuldigt mich, ihr ehrenwerten Männer.« Er grinste Sebastianus und Athanaric an, die alle beide Hosen trugen. »Es ist ein bißchen schwer, sich daran zu gewöhnen. Ich glaube, die Verhandlung ist gut über die Bühne gegangen, wenn ich das so sagen darf. Ich wollte nicht, daß es allzu offensichtlich wird, daß ich Charition kenne. Mein Gott, jetzt werden alle glauben, daß ich ein Ausbund an Bildung bin! Es waren doch Herophiles und Galen, die Menschen seziert haben, nicht wahr, Charition? Hast du das tatsächlich auch getan, oder hat dieser Bursche die Sache nur aufgebauscht? Falls es stimmt, war es sehr töricht von dir. Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht so überrascht wie vor ein paar Tagen, als ich erfuhr, daß du aufgrund einer Anklage wegen Zauberei herbeordert worden bist. Ich war gerade dabei, dir einen Brief zu schreiben, um dich hierher einzuladen, als der Beisitzer sagte: ›Aber Herr, dieser Chariton soll nächste Woche sowieso hier sein!‹ Na egal, wir haben dieses Schlamassel jetzt aus dem Weg geräumt. Du mußt unbedingt mit mir zusammen zu Mittag essen, dann können wir uns ein bißchen unterhalten – falls die ehrenwerten Herren uns entschuldigen wollen.« Er wandte sich zu Athanaric und Sebastianus und lächelte erneut.

»Ich habe meinen Freund seit Jahren nicht mehr gesehen; wir sind zusammen aufgewachsen.«

»Das hat er uns erzählt«, sagte Sebastianus. Er schien mir etwas aus der Fassung zu sein.

»Dann entschuldigt ihr uns also. Ich wäre entzückt, wenn die erlauchten Herren mich mit ihrer geschätzten Gesellschaft zum Abendessen beehren würden. Ich muß eine Menge lernen, wenn ich meine Aufgabe hier gut erfüllen will.«

Sebastianus und Athanaric erklärten sich einverstanden. Thorion verbeugte sich und dankte ihnen, dann zog er mich rasch hinter sich her in das Gebäude hinter der Präfektur, wo er seine Wohnung hatte. »Wir werden mit Maia zusammen Mittag essen. Sie erwartet uns«, erklärte er und ging voran, die steilen Treppen hinauf und bis ans Ende des langen Flures. Dort blieb er so abrupt stehen, daß ich in ihn hineinrannte. Dann klopfte er an eine Tür, sie wurde sofort geöffnet.

Thorion hatte sich überhaupt nicht verändert; meine Maia hatte sich sehr verändert. Die Haare, die ich als rot in Erinnerung hatte, waren inzwischen grau. Und sie schien magerer zu sein, ausgetrocknet wie Leder. Ihre Blicke huschten begierig an Thorion vorbei, um den meinen zu begegnen. Ihre Augen weiteten sich. Sie trat einen Schritt von der offenen Tür zurück und ließ uns vorbei. Dann schloß sie die Tür und verriegelte sie. »Oh, meine Liebe!« sagte sie ganz außer Atem und starrte mich an.

»Ich habe sie nicht erkannt«, bemerkte Thorion.

»Oh, mein armer Liebling!« sagte Maia und umarmte mich, während sie sich auf die Zehenspitzen stellte. War ich so gewachsen? Oder war sie zusammengeschrumpft?

»Die Gerichtsverhandlung ist großartig gelaufen«, erzählte Thorion und ging weiter in das Zimmer hinein, ohne darauf zu warten, daß Maia mich losließ. Das Zimmer war ziemlich groß mit orangefarben bemalten Paneelen, einem Bett, einer Ruhebank und einem Stuhl, die um einen kleinen Tisch standen, auf dem einige Leckerbissen zu sehen waren. Thorion setzte sich an das eine Ende der Ruhebank und nahm sich eine Weintraube.

»Der Mann, der die Anklage vorbrachte, war fürchterlich gehässig und neidisch; jedermann konnte sehen, wie sehr er Charition haßte. Und seine Ehren, der Heerführer, war persönlich dort und auch dieser Athanaric. Und der Heerführer hielt eine Ansprache darüber, wie tüchtig Charition ist und wie sie all diese Leute gesund gemacht hat und daß sie der geschickteste Arzt im ganzen Lande ist. Ich muß dir etwas sagen, Charition, als Arzt hast du dich wirklich großartig gemacht. Ich wußte gar nicht, was ich sagen sollte!«

Maia hielt mich immer noch fest; sie streichelte meine Backen und blickte mir ins Gesicht. Dann schüttelte sie den Kopf. »Mein armer Liebling!« wiederholte sie. »Und du warst ein so hübsches Mädchen!«

»Laß sie doch endlich los!« sagte Thorion. »Laß sie erst einmal zu sich kommen. Setz dich. Unsterbliche Götter, gefüllte Haselmaus! Du hast ja wirklich ein großes Fest daraus gemacht, wie?«

»Es ist zur Feier des Wiedersehens«, erklärte Maia lebhaft und ließ mich los. »Ich weiß sowieso nicht, wofür ich mein Geld ausgeben soll, oder? Du magst ja nicht, wenn ich alles der Kirche gebe.«

»Tu damit, was du willst, das habe ich dir doch schon immer gesagt«, erwiderte Thorion mit dem Mund voller Weintrauben.

»Es ist nur eine Schande zuzusehen, wie dein Lohn in die Schatztruhen der Kirche wandert. Das ist alles. In gefüllten Haselmäusen ist das Geld viel besser angelegt.«

Ich setzte mich an das andere Ende der Ruhebank; Maia nahm den Stuhl.

»Was soll das heißen? Wessen Lohn?« fragte ich.

»Maias«, erklärte Thorion. »Als Haushälterin.«

Ich blickte von einem zum andern. »Du hast mir nicht erzählt, daß du sie freigelassen hast!«

»Habe ich das nicht? Nun gut, ich habe sie freigelassen. Ich habe sie nach Vaters Tod geerbt und ließ sofort die Papiere ausfertigen. Aber es spielt keine große Rolle. Philoxenos habe ich ebenfalls freigelassen und zum Verwalter des Gutes bestellt. Erinnerst du dich an Philoxenos?«

»Natürlich! Maia, wie wundervoll! Laß uns auf deine Freiheit anstoßen!«

Maia lächelte etwas matt und füllte meinen Becher mit bereits gemischtem Wein, der in einem Krug auf dem Tisch stand. »Der vortreffliche Theodoros hat ganz recht, es spielt keine große Rolle«, meinte sie.

Ich lachte; ich hatte ihre Vorliebe für Titel vergessen. »Auf meine Maia«, sagte ich und hob meinen Becher, »Elpis aus Ephesus, eine freie Frau!«

Maia lächelte erneut, dann goß sie Thorion und sich selbst etwas Wein ein und stieß mit mir an.

Während wir gefüllte Haselmaus aßen, erzählte mir Thorion alles über die Landgüter in Ephesus, über die Sklaven und Bediensteten des Hauses, über seine Freunde und über Konstantinopel. Ich war sehr glücklich, einfach nur dazusitzen und zuzuhören und ein paar zusätzliche Fragen zu stellen. Ich wußte, daß das Gespräch früher oder später auf mich kommen würde, und das würde schwierig genug sein.

Maia beobachtete mich schweigend und aß nicht viel. Ihre Augen waren rot gerändert, das eine stärker als das andere. Es schien ein wenig Zug abbekommen zu haben, denn sie rieb es gelegentlich, als jucke es. Als sie bemerkte, wie ich ihr Auge beobachtete, lächelte sie. »Willst du mir ein Rezept dafür geben?«

»Ich habe gerade über eins nachgedacht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich bin sicher, es ist ein gutes Rezept«, meinte sie bloß. »Ich glaube, du bist eine sehr gute Ärztin. Bist du glücklich, meine Liebe?«

»Ja.«

Sie gab einen langen Seufzer von sich und sah mich wehmütig an. »Ich habe mir so sehr gewünscht, daß du nach Hause kommst. Ich habe mir gewünscht, daß du heiratest.«

»Ich weiß. Ich wollte… Ich wollte, ich könnte heiraten und trotzdem die Heilkunst praktizieren. Aber das geht nicht; ich mußte mich für das eine oder das andere entscheiden.«

Sie nickte bedächtig. »Ich habe niemals wirklich daran geglaubt, daß du zurückkommst. Als du aus Ephesus fortgingst, sagte ich zu Thorion, es sei für immer. Er erwiderte mir, ich solle nicht töricht sein.«

»Und im Augenblick habe ich den Eindruck, daß ihr beide töricht seid«, sagte Thorion. »Ich weiß nicht, was so Großartiges an dieser Heilkunst sein soll, obwohl ich mich sicherlich darüber freue, daß du soviel Erfolg hast, Charition. Aber du hast sie studiert und praktiziert und bist länger als fünf Jahre fortgewesen, und ich sehe nicht ein, warum du jetzt nicht zurückkommen und heiraten kannst. Du hast dein Aussehen ein bißchen verhunzt, aber das kann man in ein paar Monaten und mit ein wenig Schminke wieder ausbügeln: Du bist schließlich hübsch genug und immer noch nicht zu alt. Ich werde dafür sorgen, daß du das halbe Landgut als Mitgift bekommst. Du kannst heiraten, wen du willst, und jede dir genehme Bedingung stellen. Du kannst sogar Ärztin in deinem eigenen Haushalt spielen. Ich weiß, daß du das schon immer wolltest. Also, was ist daran denn so schlimm? Es ist nicht gut, ohne Familie zu leben und allen Leuten gegenüber immer so zu tun, als seist du jemand, der du gar nicht bist. Wissen es deine Sklaven? Nein, das dachte ich mir. Es ist nicht gut. Und du wirst weitere Schwierigkeiten bekommen. Zuerst dieser verdammte Ketzer von einem Erzbischof in Ägypten und nun diese Geschichte hier!«

»Er war kein Ketzer«, erwiderte ich heftig.

»Dann war er eben ein verdammter Unruhestifter, und er hat den Behörden nichts als Scherereien bereitet! Du hättest ihn sich selbst überlassen sollen. Und einen Menschen zu sezieren! Das beschwört ja geradezu Ärger herauf. Du magst ja intelligent sein, aber du warst schon immer unvernünftig. Ich hatte bereits daran gedacht, dich wegen dieser Beschuldigung ganz einfach verhaften zu lassen und dich anschließend aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Ich dachte, vielleicht würdest du dann Vernunft annehmen. Aber ich wollte nicht, daß deine Sklaven gefoltert werden; so etwas mag ich nicht. Nicht seit Festinus es Maia angetan hat.«

»Ich würde lieber sterben, als zurückzukommen, um eine Dame zu sein«, sagte ich. »Ich werde es nicht tun. Laß es dabei bewenden, Thorion, bitte. Ich möchte mich nicht mit dir streiten.«

Thorion seufzte und sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Ich bin sicher, daß niemand auf der Welt eine solche Schwester hat wie ich. Nun gut, lassen wir es fürs erste dabei bewenden. Vielleicht verliebst du dich ja eines Tages und änderst deine Meinung. Liebe ist eine verflixte Sache, wenn es darum geht, seine Meinung zu ändern. Ich hoffe nur, daß es bis dahin nicht zu spät ist.«

Maia lächelte mir zu. »Charis, mein Liebling«, sagte sie, »iß noch etwas. Du hast ja nichts Ordentliches gegessen.«

»Du bist dünn wie ein Zaunpfahl«, stimmte Thorion verdrießlich zu. »Mager und knochig. Was machst du in diesem Hospital?«

Eine Welle der Erleichterung durchlief mich. Ich war ziemlich glimpflich davongekommen. Und ich hätte Maias stillschweigende Unterstützung niemals erwartet; sie hatte meine ärztlichen Bemühungen in Ephesus immer mißbilligt. Ich erzählte ihnen ein wenig vom Hospital.

»Auch ich werde deine Dienste bald benötigen«, sagte Thorion. »Ich habe mich mit der Tochter eines Bäckers eingelassen, und sie erwartet im September ein Kind von mir.«

Er hielt inne und sah bei dem Gedanken an seine Konkubine und das Kind höchst zufrieden aus.

»Die Mutter heißt Melissa und ist ein liebes Mädchen«, warf Maia ein.

Maia war bei der Aussicht auf dieses Kind – falls das überhaupt möglich war – noch aufgeregter als Thorion. Sie war schon immer ganz wild darauf gewesen, daß ich Kinder bekam, damit sie Großmutter spielen könnte. Aber ein Kind von Thorion, auch wenn es ein illegitimes Kind war, war natürlich noch besser.

Im stillen segnete ich die mir unbekannte Melissa. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich es mit meinem Bruder sehr viel schwerer gehabt. »Wie schön«, sagte ich und lächelte, »ich hoffe um deinetwillen, daß es ein Junge wird. Wenn du möchtest, werde ich versuchen, von Novidunum rüberzukommen, um das Baby zu entbinden.«

Thorion lachte und nickte begeistert. »Ich habe Melissa schon gesagt, daß ich ihr entweder die beste Hebamme oder den besten Arzt der Provinz verschaffen würde. Es sieht so aus, als seist du der beste Arzt. Und ich habe schon daran gedacht, das Baby Chariton zu nennen.«

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