20

Das folgende Jahr war das schlimmste meines Lebens.

Selbst nachdem Athanaric fort war, wurde ich dauernd bewacht. Jede Nacht wurden mir meine Kleider weggenommen und nicht vor dem nächsten Morgen wiedergegeben. Ich wurde direkt zum Hospital geführt und dort ununterbrochen beaufsichtigt. Man verbot mir, römische Patienten zu behandeln. Aus Protest dagegen weigerte ich mich strikt, auch nur einen einzigen gotischen Krieger zu behandeln, doch dies zeigte keine große Wirkung, da es andere gab, die dazu bereit waren. Nur um die römischen Sklaven kümmerte sich niemand. Es brach mir das Herz, überall im Lager auf sie zu treffen: Sie waren krank und leidend, und ich konnte ihnen nicht helfen. Ich hätte vielleicht sogar eingewilligt, einen Goten zu heiraten, falls man mir versprochen hätte, Römer behandeln zu dürfen – doch Amalberga wiederholte nur immer wieder, ein derartiges Versprechen müsse meinem Ehemann überlassen bleiben.

Und jedermann redete und redete wegen dieser Ehe auf mich ein. Nach meinen blutdürstigen Erklärungen wollte mich niemand gegen meinen Willen heiraten, doch eine ganze Anzahl gotischer Anführer war der Meinung, sie könnten mich dazu bewegen, meine Meinung zu ändern. Anfangs war ich überrascht, daß ich überhaupt interessant für sie war; immerhin gab es wenige Römer, die mich, eine Fortgelaufene ohne Mitgift, wollten. Doch ich machte die Erfahrung, daß nichts so sehr Aufmerksamkeit erregt wie eine skandalumwitterte Berühmtheit. Für einen jungen gotischen Edelmann, der sich einen Namen machen wollte, stellte ich eine glänzende Gelegenheit dar: Die Frau zu heiraten, die Festinus Schande bereitet hatte, würde ihm den Ruhm auf dem Servierteller einbringen. Außerdem erwarteten sie in der Mehrzahl, daß meine Familie, wenn ich erst einmal verheiratet war, nachgeben und für eine Mitgift sorgen würde. Ich wurde also in regelmäßigen Zeitabständen mit dem einen oder anderen dieser Edelleute alleine gelassen, und sie mühten sich ab, sich mit mir zu unterhalten oder mich ins Bett zu zerren, oder auch alles beides, während ich mich ihrer so höflich wie irgend möglich erwehrte. Ich mußte höflich sein, da ich es nicht wagte, solche mächtigen Männer ernsthaft zu beleidigen. Doch sie fühlten sich zu keinerlei Höflichkeit verpflichtet; sie waren der Ansicht, daß sie mich genügend ehrten, wenn sie mir die Ehe anboten. Einige von ihnen wahrten die gesellschaftlichen Manieren, andere jedoch nicht, und ich benötigte meine fünf Sinne und eine entschlossene Hand, um mit ihnen fertig zu werden. Das alles wäre sicher sehr komisch gewesen, wenn ich nicht solche Angst gehabt hätte und wenn mir nicht jedesmal so elend zumute gewesen wäre, sobald ich noch einmal davongekommen war. Und trotz allem waren sie natürlich beleidigt. Mit der Zeit entwickelte ich ein beträchtliches Mitgefühl für Penelope von Ithaka, die eine derartige Situation zehn Jahre lang ausgehalten hatte – aber keiner der Goten hatte je von ihr gehört, und keiner würde mit mir zusammen darüber lachen. All die edlen Frauen schwärmten mir gegenüber immer und immer wieder von dem Mut und der Tapferkeit und der Mannestugend von Munderich oder Levila oder Lagriman oder einem anderen jener ungebildeten, schwertrasselnden Barbaren, der mich gerade ins Auge gefaßt hatte, bis mir schon beim Klang des Gotischen ganz übel wurde und ich mir wünschte, ich hätte Festinus geheiratet und es damit hinter mich gebracht.

Aber dies waren im Grunde genommen alles noch keine ernsthaften Probleme. Die begannen erst in jenem Winter. Im Frühherbst marschierten die vereinigten römischen Streitkräfte in nördliche Richtung und trafen bei Salices auf die Goten, wo sich beide Seiten eine offene Feldschlacht lieferten. Es gab ein großes Gemetzel, aber keinen eindeutigen Sieger. Die gotischen Truppen zogen sich nach Carragines, die römischen nach Marcianopolis zurück. Die Goten versorgten ihre Verwundeten und stritten darüber, was sie als Nächstes tun sollten. Die Römer, etwas praktischer und fleißiger veranlagt, verbarrikadierten die Pässe in den Hämusbergen. Ehe die Goten dies so recht mitbekamen, saßen sie im Norden der Diözese in der Falle, und dort gab es, wie Amalberga bereits gesagt hatte, nichts zu essen.

Die Goten unternahmen ein paar Versuche, die römischen Linien zu durchbrechen und in den stärker bevölkerten und wohlversorgten Süden vorzustoßen. Sie handelten sich jedoch nur weitere Verluste ein. Frithigern schickte Abgesandte an die Römer in Marcianopolis, aber sie wurden an den Toren abgewiesen und nicht einmal in die Stadt gelassen. Die Römer waren nicht bereit, zu verhandeln. Frithigern schickte Abgesandte nach Tomis und machte das Angebot, mich gegen Getreidevorräte einzutauschen, doch inzwischen war es Spätherbst geworden und Thorion war offensichtlich bereits nach Bithynien versetzt worden. Der neue Statthalter aber gab nichts auf Frithigerns Drohungen. Ich wurde während dieser Vorgänge im Haus gefangengehalten, aber schließlich wurde dem König klar, daß sich niemand groß dafür interessierte, was mit mir geschah, außer daß vielleicht irgendwann jemand auf den Gedanken kam, mein Schicksal zu rächen. So schickte er mich wieder ins Hospital, damit ich mich um die Kranken kümmerte. Meine medizinischen Fähigkeiten waren gefragter als je zuvor. Wenn die Menschen frieren und hungern, erkranken sie schnell. Außerdem sterben sie leicht. Im besten Fall, hat einmal jemand gesagt, ist die Medizin »ein Nachdenken über den Tod«. Und in jenem Winter in Carragines schien der Tod manchmal das einzige zu sein, woran ich denken konnte. Die Tage waren eine unendlich lange Kette von Hunger und Kälte, Krankheit und harter Arbeit; ausgemergelte, vom Fieber geschüttelte Körper unter Bettzeug voller Ungeziefer; grauhäutige, auf Lastkarren gestapelte Leichname, die auf ihre Verbrennung warteten und deren Augen glasig und gefroren waren; das leise Wimmern verhungernder Kinder und das stille Sterben alter Frauen; der Rauch von den Feuerstellen und der scharfe Geruch nach Enzian. Meine Patientin, bei der ich einen Kaiserschnitt durchgeführt hatte, verlor ihr Baby, dann starb sie selbst. Die römischen Sklaven, die ich in jenem Sommer zusammengeflickt hatte, wurden massenweise unter einer dünnen Schicht zusammengekratzter gefrorener Erde verscharrt. Das war für mich schlimmer als die dauernden Versuche der Goten, mich zu einer Ehe zu überreden, schlimmer, als eine Gefangene zu sein, ja sogar schlimmer als das Verbot, die Römer zu behandeln. Ich war vom Tod umgeben, und meine gesamte Heilkunst blieb nutzlos.

Die Goten glaubten jetzt, die Römer würden niemals verhandeln, sie hätten die Absicht, die gotische Rasse insgesamt auszulöschen. Ich nahm nicht an, daß dies stimmte – die Römer wollten sicherlich einen Friedensvertrag schließen, sobald die Goten endgültig zusammenbrechen und sich bereit erklären würden, alle Bedingungen zu akzeptieren. Frithigerns Vasallenkönigtum stand wohl nicht mehr zur Debatte, aber die Römer waren nach wie vor von der Vorstellung angetan, gotische Siedler in den unbebauten Landstrichen seßhaft zu machen. Doch die Goten brachen nicht zusammen. Statt dessen zeigten sie neues Interesse für den Feind vom jenseitigen Donauufer, dessentwegen sie nach Thrazien geflohen waren: In ihrer Verzweiflung verbündeten sie sich mit den Hunnen.

In Carragines sah ich nicht viel von diesen wilden, grausamen Menschen. Sie mögen keine Städte und meiden Häuser wie unsereins Gräber. Frithigern verhandelte mit ihnen stets weit weg vom Lager, wobei er auf dem Rücken seines Pferdes saß, so wie sie auf dem Rücken ihrer zottigen kleinen Ponys saßen. Er haßte und fürchtete sie – alle Goten taten dies –, und Amalbergas Frauen erzählten ungeheuerliche Geschichten über die Wildheit und Grausamkeit jenes Volkes. Frithigern hatte die Hunnen zu einem Bündnis überredet und ihnen reiche Beutezüge versprochen, deren Ziel – selbstverständlich – römische Städte voller Gold und Seide und sonstiger Schätze waren. Und natürlich römische Sklaven! Die Goten konstruierten eine aus Booten bestehende Brücke, und die Hunnen schwärmten in Massen über den Fluß: Tausende und Abertausende von ihnen, eine wilde, grausame, angsteinflößende Armee.

Als die Römer zu Beginn des Frühjahrs entdeckten, was geschehen war, zogen sie ihre Truppen von den Festungsanlagen in den Bergen zurück. Sie hatten nicht genug Soldaten, um den vereinigten Goten, Hunnen und Alanen standzuhalten, und der römische Befehlshaber war der Meinung, seine Männer täten besser daran, die angrenzenden Regionen Daziens und Asiens zu schützen. So wurde Thrazien der Plünderung ausgeliefert. Die Barbaren griffen die befestigten Städte immer noch nicht an – die Hunnen hatten mit der Führung eines Belagerungskrieges noch weniger Erfahrung als die Goten –, aber sie strömten in den Süden, hinunter bis zum Mittelmeer und plünderten, mordeten, sengten und vergewaltigten, wo auch immer sie hinkamen. Es gab wieder genügend Lebensmittel in Carragines, aber ich mochte kaum davon essen, da ich wußte, auf welche Weise die Soldaten dazu gekommen waren.

Etwa Mitte Mai wurde ich krank. Fieber war etwas Alltägliches im Lager, Epidemien jedoch inzwischen nicht mehr. Normalerweise hätte ich die Krankheit wahrscheinlich mit einem Achselzucken abgetan, aber nach der langen Hungerei und erschöpft durch die Arbeit und den Ärger mit den Eheplänen war ich ziemlich geschwächt. Es begann mit Kopfschmerzen und Fieber. Ich hörte auf zu arbeiten, da ich Angst hatte, jemanden anzustecken, und ging zu Bett. Es fehlte nicht mehr viel, und ich wäre niemals mehr aufgestanden.

Zuerst versuchte Amalberga mich zu pflegen, dann, in der zweiten Woche kam Edico, der Frithigern und die Armee begleitet hatte, zurück, und sie schickte nach ihm. Inzwischen war das Fieber mächtig gestiegen und von Erbrechen und Durchfall begleitet. Ich war ganz benommen und gefühllos und weigerte mich, Edicos Fragen zu beantworten oder die von ihm vorgeschlagene Behandlung mitzumachen. Ich sagte ihm lediglich, er solle mich allein lassen. Er tat es nicht, sondern flößte mir Schierling auf einem Schwamm ein, damit das Fieber herunterginge, dann Honigwasser mit Wein und schließlich ein wenig klare Brühe – alles Dinge, die ich ebenfalls verschrieben hätte. Ich weinte und beschuldigte ihn, mir mein ganzes Wissen gestohlen zu haben, nannte ihn einen Verräter und bat ihn, er solle mich in Frieden sterben lassen. Ich war aller Dinge so überdrüssig. Ich erinnerte mich daran, wie Athanasios einst zu mir gesagt hatte, diese Welt für den Himmel einzutauschen sei das gleiche, als tausche man eine Kupferdrachme für hundert Goldstücke ein. Es gab nirgendwo einen Platz auf der Welt, wo ich ganz und gar ich selbst sein konnte: eine Römerin, eine Ärztin und eine Frau. Im Himmel, dachte ich, könnte vielleicht jeder ganz er selbst sein. Ich stellte mir das Sterben wie einen tiefen Blick ins Wasser vor: Die Oberfläche wird aufgewühlt, in der Tiefe brodelt es einen Augenblick lang, doch dann beruhigen sich die Wassermassen wieder, und man kann klar bis auf den Grund aller Dinge sehen.

Eines Nachts, nachdem ich mehrere Wochen lang krank gelegen hatte, ohne auf die Behandlung anzusprechen, wachte ich auf und sah, wie Athanasios an meinem Bett stand. Er war gekleidet wie damals, als er starb, in einer leinenen Tunika und mit einem Umhang aus altem Schafsfell. Nach seinem Tode hatten ihm die Gefolgsleute seine besten Gewänder aus Brokat und golddurchwirkten Stoffen angezogen, aber er zog immer die einfachen Sachen vor. Ich richtete mich auf, mein dumpfer Kopf war mit einemmal ganz klar. »Hochwürden«, fragte ich, »bist du den ganzen Weg aus Ägypten hierhergekommen?« Er lächelte und schüttelte den Kopf: »Nein, nicht aus Ägypten.« Es war schön, seine Stimme zu hören, den singenden Tonfall und die sorgfältig gesetzten, griechischen Worte.

»Charis, meine Liebe, ich habe dir gesagt, du würdest heiraten, doch es sieht so aus, als hättest du dich entschlossen, mich zu widerlegen.«

»Fang doch nicht auch wieder damit an«, sagte ich. »Das macht mich noch ganz krank. Ich dachte, du schätzt die Ehe nicht.«

Er lächelte erneut. »Auch ich habe Fehler gemacht, wenn auch kleine im Vergleich zu den großen, die in der Welt gemacht worden sind. Die Ehe sollte kein Mittel sein, Eigentum zu erlangen oder Macht zu gewinnen oder Frauen zu unterwerfen. Weil sie all das ist, willst du nichts von ihr hören, und ich kann dich deswegen nicht tadeln.«

»Ich dachte, daß du sie nicht schätzt, weil sie mit Begierde einhergeht.« Er lachte. »Von dort aus, wo ich herkomme, sieht die Begierde völlig anders aus. Die Welt ist ein dunkler Ort, und nichts in ihr ist ewig und fehlerlos. Weder die Begierde noch das Kaiserreich noch die Goten. Und sie werden alle miteinander nicht überdauern.«

»Nicht einmal das Kaiserreich?« fragte ich.

»Weil etwas lange Zeit überdauert hat, muß es noch lange nicht ewig sein«, erwiderte er freundlich.

»Ich bin der Welt so überdrüssig«, sagte ich und war nahe daran zu verzweifeln.

»Du, die du so viele Menschen in ihr festgehalten hast?«

Das ging mir immer noch nahe. »Es ist nichts Schlechtes daran, Menschen zu heilen!«

Er lächelte erneut und berührte meine Stirn. »Ich wünschte, du liebtest Gott ebenso wie Hippokrates. Doch ›jede gute und vollkommene Gabe kommt vom Vater des Lichts‹, und wenn du sie nur weit genug zurückverfolgst, wird sie dich vielleicht zu seiner Quelle führen. Gott erschuf die Welt und drückte uns seinen Stempel auf, und wir haben ihn nie ganz auslöschen können. Ja, es ist gut, zu heilen. Gott heilt. Und du mußt noch mehr Menschen heilen, bevor du gehst.«

»Aber ich bin so müde!« protestierte ich.

»Dann ruh dich aus.« Die strahlenden dunklen Augen sahen mich an, intensiv, zärtlich, drängend. Selbst seine Hand fühlte sich kühl an, als er mich freundlich in die Kissen zurückdrückte. Ich legte mich hin, und die Kühle breitete sich aus. Ich schloß die Augen und fühlte, wie die Erde unter mir wie Wasser hin und her schwankte. Wie eine Wiege, die im Rhythmus meines Herzens schaukelte.

Ich schlief ein, und als ich aufwachte, war es Tag, und das Licht fiel schräg durch die Fensterläden und warf ein goldenes Gitter auf das Fußende des Bettes. Mein Kopf und mein Magen taten mir immer noch weh, und ich fühlte mich äußerst schwach, aber ich wußte, daß mein Fieber gesunken war und daß ich am Leben bleiben würde. Ich lag auf der Seite und starrte auf die Stelle, an der Athanasios gestanden hatte. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür und Edico und Amalberga kamen herein.

»Sie ist wach!« rief Edico aufgeregt. Er eilte an mein Bett, prüfte meinen Puls und fühlte meine Stirn.

»Das Fieber ist gesunken«, sagte ich zu ihm. »Hast du ihn gesehen?«

Edico sah mich verständnislos an. »Wen?«

Ich seufzte und legte eine Hand über die Augen; die Hand fühlte sich sehr schwer an, und meine Augen taten mir weh. Es bedeutete eine zu große Anstrengung, zu entscheiden, ob ich eine Vision, einen Besuch oder einen Traum gehabt hatte. Aber es war ein Trost gewesen. Ob er nun dagewesen war oder nicht, ich war froh, jemanden aus den glücklichen alten Tagen in Alexandria gesehen zu haben.

»Möchtest du etwas zu trinken?« fragte Edico eifrig. »Vielleicht etwas klare Brühe?«

Ich sah zuerst ihn an, dann Amalberga. »Darf ich Römer behandeln, falls ich mich erhole?« fragte ich sie.

Sie wurde blaß und setzte sich auf die Kante meines Bettes.

»Wenn wir doch nur alle tun könnten, was wir wollten!« sagte sie plötzlich und rang die Hände. »Ich schwöre, daß ich die Römer niemals gehaßt habe, nicht einmal, nachdem sie uns so übel mitgespielt hatten. Und trotzdem sind sie unsere Feinde, und die Hunnen, die ich gehaßt habe, sind unsere Verbündeten, und wir sind an diesen Krieg gefesselt wie ein Sklave an die Folterbank!«

»Ich habe die Goten niemals gehaßt«, erwiderte ich mit schwacher Stimme. »Aber jetzt wünsche ich, ich wäre weit fort von hier. Ich würde lieber sterben, als so weiterzumachen wie bisher.« Und mir wurde klar, daß ich gerne mit Athanaric verheiratet gewesen wäre und ein Privathospital geleitet hätte. Es war das erstemal, daß ich derartige Gedanken so klar und präzise faßte, und ich war so überrascht, daß ich vergaß, was ich eigentlich sagen wollte.

»Ich kann dich nicht fortlassen«, sagte Amalberga betrübt.

»Der Krieg nimmt einen schlechten Verlauf, und es könnte sein, daß wir…« sie hielt inne und sah mich unglücklich an. Die Goten könnten dazu gezwungen sein, mich zu verkaufen, um sich selbst zu retten, hatte sie wohl sagen wollen. Und selbst wenn sie es nicht taten, konnte ich mir von ihnen auf keinen Fall die Freiheit erhoffen. Frithigern war stolz auf eine so berühmte Gefangene, und außerdem war ich als Ärztin immer noch sehr nützlich. »Es tut mir leid«, fuhr Amalberga nach einer kurzen Pause fort. »Ich will nicht, daß wir Feinde sind. Ich werde darum bitten, daß man dir erlaubt, Römer zu behandeln. Und ich kann weitere Freier von dir fernhalten – sie müssen jetzt sowieso alle in den Süden. Aber mehr kann ich nicht für dich tun.«

»Wenn du mich etwas für mein eigenes Volk tun läßt, dann genügt das«, entgegnete ich. »Ja, ich hätte gerne etwas klare Brühe. Und vielleicht ein wenig mit Honig gesüßten Wein.«

Es dauerte noch ein paar Wochen, ehe es mir gut genug ging, um Patienten zu behandeln, und als ich wieder auf den Beinen war, schien sich niemand so furchtbar für mich zu interessieren: Es gab zuviel anderes, worüber man sich Sorgen machen mußte. Frithigern war mit fast allen Soldaten in den Süden gezogen und hatte Carragines unter leichter Bewachung und der Befehlsgewalt von Amalberga zurückgelassen. Edico und die meisten der Pfleger des Hospitals waren mit ihm gezogen. Inoffiziell war mir zusammen mit ein paar Hebammen und weisen Frauen die Verantwortung für die Gesundheit der Lagerbewohner übertragen worden. Mir wurde zwar nicht wirklich vertraut, und ich stand nach wie vor unter dauernder Bewachung, aber im Grunde genommen gab es sonst niemanden, dem man die Verantwortung hätte aufbürden können.

Kaiser Augustus Valens hatte einen Friedensvertrag mit Persien abgeschlossen, und es hieß, er eile nach Konstantinopel und sammle unterwegs Soldaten um sich. Man erzählte sich, der Augustus des Westreichs, Gratianus, habe die Alemannen in Gallien besiegt und ziehe mit den gallischen Legionen ostwärts, bereit, die Goten anzugreifen. Die bereits in Thrazien stationierten Truppen hatten einen neuen Befehlshaber: Sebastianus’ Vater, den früheren Heerführer in Illyrien. Er war ein äußerst energischer und geschickt operierender General, und er wurde seinem hervorragenden Ruf schnell gerecht. Kaum angekommen, gelang es ihm, einem ungewöhnlich großen Trupp Goten, der sich auf einem Beutezug befand, einen Hinterhalt zu legen und ihn zu vernichten. Frithigern war deswegen derart beunruhigt, daß er die übrigen Stoßtrupps zurückzog – und zwar nicht nach Carragines, sondern in eine weiter südlich gelegene Stadt namens Kabyle. Die Männer waren nicht gerade erpicht darauf, noch einmal nördlich der Berge eingeschlossen zu werden. Sie sammelten sich – Terwingen, Greuthungen, Alanen und Hunnen und erwarteten die Römer.

Wir hatten in jenem Jahr einen langen Sommer, heiß und feucht. Das Lager war inzwischen alt, es stank und wimmelte von Fliegen und brütete zahlreiche Krankheiten aus. Erst als ich wieder auf den Beinen war, merkte ich, daß ich sehr schnell ermüdete und keine Kraft mehr hatte, für Dinge zu kämpfen, für die ich hätte kämpfen müssen – zum Beispiel für Aquädukte, um frisches Wasser heranzuführen, oder für Müllplätze außerhalb der Lagerwälle. Ich hatte den Winter über so viele Patienten sterben sehen, daß es mich kaum noch berührte. Mir wurde wieder erlaubt, römische Gefangene zu behandeln, doch nachdem ich mich so dafür eingesetzt hatte, sah es so aus, als könne ich ihnen nicht viel helfen. Edico hatte fast alle Arzneimittel mitgenommen, und ich war nicht in der Lage, den Gefangenen bessere Lebensbedingungen zu verschaffen. All meine Freier, all diese schrecklichen Barbaren, waren inzwischen fort, aber ich war nicht so erleichtert, wie ich erwartet hatte. Ich konnte kaum mehr richtig denken, und meine Gefühle schienen ebenso stumpf, zäh und klebrig zu sein wie die Luft. Eines Abends fiel mir auf, daß das Lager derart nachlässig bewacht wurde, daß es hätte möglich sein müssen, aus ihm hinauszuschlüpfen. Aber in dem jämmerlichen Zustand, in dem ich mich befand, konnte ich nichts mit dieser Entdeckung anfangen. Ich war viel zu erschöpft, um an Flucht zu denken, viel zu erschöpft für alles andere als eine mechanische, unbeholfen abgespulte Arbeit. Selbst die Neuigkeiten vom Krieg konnten nicht viel Eindruck auf mich machen. Valens hatte Konstantinopel an der Spitze einer großen Streitmacht verlassen; die Goten zogen sich in Richtung auf Hadrianopolis zurück. Der Kaiser und der Heerführer Sebastianus erwogen, sie ohne die aus dem Westen heranrückenden Truppen anzugreifen. Das waren bedeutende Ereignisse, und mein eigenes Schicksal hing von ihrem Ausgang ab, doch sie schienen mich nichts anzugehen, so als hätten sie sich schon viele Male zuvor ereignet. Und dann, an einem schwülen Nachmittag Anfang August, kam ich nach dem Besuch bei einigen Genesenden ins Hospital zurück und entdeckte Athanaric, wie er in aller Seelenruhe inmitten einer Gruppe anderer Patienten darauf wartete, untersucht zu werden.

Er war wie ein gemeiner Soldat in eine rauhe Wolltunika gekleidet und trug seinen einen Arm in einer Schlinge. Einen Augenblick lang traute ich meinen Augen nicht, doch dann bemerkte ich, wie er mich erkannte und über meinen Anblick erschrak. Er sah schnell wieder weg und kratzte sich mit der nicht verbundenen Hand seinen Bart und schließlich verstand ich. Es gelang mir, mein ungläubiges Starren in ein Niesen übergehen zu lassen, ich putzte mir die Nase und begann mit der Untersuchung der Patienten.

Bei dieser Aufgabe half mir eine Hebamme, glücklicherweise eine Frau, die Athanaric noch nie gesehen hatte. Als sie versuchte, sich seinen Arm anzusehen, protestierte er. »Ich will von der römischen Ärztin behandelt werden«, sagte er auf gotisch, »nicht von irgendeiner alten Hexe, die sich nur bei Säuglingen auskennt.«

»Die römische Ärztin behandelt keine Verwundeten«, erwiderte die Hebamme und zerrte an der Schlinge. Athanaric zuckte zusammen und preßte seinen Arm an sich, als ob er ihn schmerzte.

»Ach, laß doch!« sagte ich zu ihr. »Ich sehe mir diesen Mann gleich an. Hol mir doch bitte etwas Reinigungslösung!«

Sie ging, und ich trat auf Athanaric zu, um mir seinen Arm anzusehen. Ich wagte immer noch nicht, mit ihm zu sprechen, nicht vor den anderen Patienten. Ich fühlte mich ganz schwindelig, und mein Blut summte mir in den Ohren. »Was ist passiert?« fragte ich Athanaric und machte ihm die Schlinge ab.

»Eine Schwertwunde«, erwiderte er in mürrischem Tonfall.

»Der Arm ist gebrochen. Der Arzt im Süden hat ihn geschient. Aber inzwischen ist er infiziert.«

Ich nahm ihm den Verband sorgfältig ab. Der Arm war zu meiner Erleichterung vollkommen gesund und unverletzt, aber unter dem Verband steckte ein Zettel. Ich zögerte, dann ließ ich ihn in meiner Hand verschwinden, sah auf und runzelte die Stirn, und er sagte immer noch in dem gleichen mürrischen Tonfall:

»Nun?«

»Sieht schlimm aus«, sagte ich. »Du solltest keinen Talisman in die Wunde stecken, aber du hast Glück gehabt; der Arm muß nicht ausgebrannt werden.«

Die Hebamme kam mit der Reinigungslösung zurück, und ich befahl ihr, sich um einen der anderen Patienten, ein krankes Kind, zu kümmern. Ich tat so, als säuberte ich den Arm, und legte einen neuen Verband an. Ich sagte Athanaric, er solle warten, bis ich ein anderes Heilkraut geholt hätte, und ging in den Arzneimittelraum. Zum Glück war er leer. Ich entfaltete den Zettel und las: »Behandle mich und schicke mich fort. Dann geh sobald wie möglich zur Mauer hinter dem Hospital.«

Ich fürchtete, vor lauter Erregung und dem plötzlichen Aufkeimen von Hoffnung ohnmächtig zu werden. Dann zerriß ich den Zettel, aß die Fetzen auf und ging in das Untersuchungszimmer zurück. Ich mußte umkehren und das Heilkraut holen, dessentwegen ich angeblich fortgegangen war. Ich gab es Athanaric und sagte ihm, er solle nach Hause zu seiner Familie gehen, sich ausruhen und am nächsten Morgen wiederkommen, damit die Wunde gereinigt und neu verbunden werden könne. Er machte sich davon.

Erst am späten Nachmittag fand ich eine Gelegenheit, meinen Bewachern zu entkommen. Es war das erstemal seit Monaten, daß ich allein war, und meine Gedanken wirbelten mir im Kopf herum wie ein Trupp Reiter in vollem Galopp: Athanaric, Flucht, Freiheit, Erlösung von allen Qualen, die große weite Welt. Ich blieb auf dem Weg ins Freie stehen und sah auf in den unermeßlichen Himmel, der mit einem feuchten Dunstschleier überzogen war, und ich glaubte, in ihn hineinfliegen zu können, direkt bis zur Sonne hinauf. Ich war dabei, meine Patienten aufzugeben und wahrscheinlich auch meine Laufbahn, aber das war mir inzwischen egal. Ich hatte den Tod satt. Ich wollte leben. Frei sein.

Das Hospital stieß direkt an den Lagerwall und lag ein wenig abseits von den anderen Wagen und Unterkünften, um die ansteckenden Kranken isoliert zu halten. Ich ging schnurstracks auf seine Rückseite und versuchte, einen selbstsicheren Eindruck zu machen, so als habe ich dort etwas zu erledigen. Als ich den Palisadenzaun fast erreicht hatte, hörte ich zu meiner Rechten einen leisen Pfiff. Ich blickte mich suchend um und entdeckte Athanaric, der unter einem der Wagen wartete. Ich rannte zu ihm, als hätten meine Füße Flügel.

Athanaric verschwendete keine Zeit mit irgendwelchen Begrüßungen oder Erklärungen. Er ergriff mich am Arm, zerrte mich unter den Wagen und stieß mich in Richtung auf den Palisadenzaun. Jemand hatte ein Loch unter ihm hindurchgegraben. Ich bückte mich, schlüpfte hindurch und Athanaric folgte mir. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf eine Ansammlung von Bäumen ein wenig weiter weg, und wir rannten in die bezeichnete Richtung.

»Ein Wachsoldat kommt etwa alle zehn Minuten vorbei«, erklärte Athanaric, als wir die Bäume erreicht hatten. »Er ist gerade verschwunden. Wir warten, bis er wieder auftaucht und von neuem verschwindet. Dann machen wir uns davon. Ich habe ein paar Pferde besorgt, die etwa drei Meilen von hier warten; kannst du soweit laufen?«

»Natürlich.« Ich setzte mich, lehnte meinen Kopf an einen Baumstamm und blickte auf die Wälle der Wagenstadt.

»Du siehst nicht gut aus.« Er beugte sich über mich und sah besorgt aus. »Ich war krank«, erzählte ich ihm, »und es kommt alles sehr plötzlich. Aber drei Meilen kann ich laufen. Gütiger Gott, ich wäre bereit, sie zu kriechen. Danke. Ich finde einfach keine Worte. Danke.«

Er berührte mich an der Schulter, runzelte die Stirn, dann, als der Wachsoldat in Sicht kam und langsam mit geschulterter Lanze an der Außenseite des Walles entlangging, kniete er sich neben mich. Der Soldat blieb stehen, nahm seine Lanze herunter und stieß sie müßig in ein Kaninchenloch, dann zuckte er die Achseln und ging weiter. Athanaric berührte mich erneut an der Schulter, und wir schlüpften aus dem Gehölz und liefen mit kräftig ausholenden Schritten über das offene Feld und schnell weiter durch Gräben, über andere Felder und Gräben bis auf einen Pfad, der in den Wald führte. Die tiefstehende Nachmittagssonne schien schräg durch das Blattwerk; der Geruch nach lockerer Erde und feuchtem Moos, fremdartig und köstlich nach dem Gestank des Lagers; nichts als Arzneimittel und Rauch so viele Monate hindurch. Vogelgesang, das Rascheln von Laub unter unseren Schritten, mein keuchender Atem. Dann das Klirren von Pferdegeschirr und das leise Wiehern eines Pferdes; in dem schräg einfallenden Licht erkannte ich das tiefe Braun und helle Grau von Pferden. »Athanaric!« rief jemand erleichtert und dann: »Chariton!«, und Arbetio kam auf uns zugerannt und umarmte mich.

»Du?« stieß ich etwas einfältig hervor. »Was tust du denn hier?«

»Athanaric brauchte jemanden, um die Pferde zu halten«, meinte Arbetio lächelnd. Dann verschwand das Lächeln, er machte einen Schritt zurück und sah mich an. Er machte keinerlei törichte Bemerkungen über meinen offensichtlichen Wechsel des Geschlechts, sondern sagte lediglich: »Aber du bist ja krank gewesen.«

»Das ist inzwischen schon ein paar Monate her. Ich werde schon reiten können – o verdammt!« Ich hatte nicht an den langen Rock gedacht, mit dem man unmöglich reiten konnte. Ich fühlte mich gedemütigt und starrte herunter auf den Boden.

»Zieh ihn einfach hoch«, meinte Athanaric, band eines der Pferde los und führte es zu mir. »Wir haben jetzt keine Zeit, deswegen etwas zu unternehmen. Sie müssen dein Verschwinden im Lager bereits bemerkt haben.«

»Sie werden zuerst drinnen suchen«, sagte ich und versuchte, in den Sattel zu klettern. Mein Fuß verfing sich im Rock. Arbetio bückte sich und bot mir seine Schulter an. Ich kletterte hinauf und versuchte, den Rock beiseite zu schieben. Athanaric schwang sich bereits auf sein eigenes Pferd, und Arbetio rannte zu dem dritten Tier, sprang in den Sattel und lächelte mir erneut zu. Athanaric preschte im Galopp davon, ritt quer über das Land in nordöstliche Richtung, preschte durch Flüsse und über felsiges Gelände, um die Goten in die Irre zu führen, falls sie den Versuch unternahmen, uns mit Hunden zu verfolgen. Ich war schon bald viel zu sehr damit beschäftigt, mich im Sattel zu halten, um an etwas anderes denken zu können.

Wir ritten stundenlang, bis es dunkel wurde und die Pferde zu müde waren, um den Weg fortzusetzen. Dann entdeckte Athanaric in einem Wald eine Stelle, die sich zum Übernachten eignete, und wir machten halt. Inzwischen war ich viel zu erschöpft, um irgendwelche Fragen zu stellen. Ich war seit einem Jahr nicht mehr geritten und hatte vor der Flucht den ganzen Tag schwer gearbeitet. Ich legte mich einfach in eine Mulde und zog meinen Umhang über mich. Einen Augenblick später weckte Arbetio mich und deutete auf ein Bett aus Farnkräutern, das er für mich bereitet hatte, und so wechselte ich hinüber und schlief sofort wieder ein.

Am nächsten Morgen, es dämmerte bereits, wachte ich auf. Der Wald roch lebendig, die Vögel sangen. Ich war über und über mit Mückenstichen bedeckt, meine Glieder taten mir vom vielen Reiten weh, aber ich fühlte mich großartig. Ich richtete mich auf. Die beiden waren bereits aufgestanden: Athanaric fütterte die Pferde, und Arbetio bereitete das Frühstück. Arbetio lächelte. »Gut geschlafen?« fragte er.

»Besser als seit vielen Monaten«, antwortete ich ehrlichen Herzens und stand auf – einigermaßen schwerfällig, da mir meine Muskeln weh taten und ich vom Reiten ein paar wundgeriebene Stellen hatte. Ich humpelte zu den beiden, um ihnen zu helfen, doch Arbetio händigte mir etwas Brot und einen Becher mit gewässertem Wein aus und meinte, ich solle mich ausruhen. »Du siehst nicht gut aus«, sagte er erneut. »Was haben die Goten in diesem verdammten Lager mit dir gemacht?«

Ich zuckte die Achseln. »Die meiste Zeit haben sie damit verbracht, mich zu verheiraten. Aber wie schon gesagt, ich war lange krank. Lieber Gott, es ist wunderbar, dich wiederzusehen. Aber wieso bist du hier? Ich dachte, du bist unentbehrlich in Novidunum.«

»Ich habe mir einfach ein paar Tage Urlaub genommen«, berichtete Arbetio fröhlich.

»Ich brauchte jemanden, dem ich vertrauen konnte«, warf Athanaric ein und gesellte sich zu uns. »Deshalb schrieb ich einen Brief und bat Arbetio um Hilfe.«

»Und du, wieso bist du hier? Ich dachte, du bist in Ägypten«, sagte ich. Er stand da, hielt den Zügel und sah mich mit einem Stirnrunzeln an. Die frühe Morgensonne sprenkelte sein Gesicht mit Lichttupfern.

»Ich habe mir ebenfalls Urlaub genommen«, erzählte er und setzte sich. Arbetio steckte ihm sein Stück Brot zu.

»Ist das nicht gefährlich? Du hast mir damals erzählt, die Behörden trauten den Goten nicht länger… Und wenn du deinen Posten in Ägypten verlassen hast, um nach Thrazien zu kommen…«

»Es wird mir schon nichts passieren, wenn ich mit dir zusammen zurückkomme. Du kannst für mich zeugen. Wenn ich ohne dich zurückkäme, würde man mich wahrscheinlich des Verrats bezichtigen. Aber ich bin nicht direkt aus Ägypten gekommen, lediglich aus Konstantinopel. Ich mußte dort eine Botschaft überbringen.«

»Ach, ihr beiden«, sagte ich und sah erneut von einem zum anderen. »Ich danke euch mehr, als ich überhaupt sagen kann. Ich glaube, ich wäre gestorben, falls ich noch einen weiteren Winter in Carragines hätte verbringen müssen.«

»Du siehst aus, als seist du bereits halb tot«, sagte Athanaric grob. »Du bestehst nur noch aus Haut und Knochen. Du sagtest vorhin, die Goten hätten immer noch versucht, dich zu verheiraten. Sie haben nicht etwa… das heißt…«

Ich war ein bißchen überrascht wegen seines plötzlichen Feingefühls. »Mich vergewaltigt? Nein. Aber… nun, mein Bruder hat einmal gemeint, kein Mann werde einen weiblichen Arzt heiraten wollen. Ich hatte allmählich das Gefühl, daß jeder Gote genau dies wollte. Ich fühlte mich wie Penelope auf Ithaca. Die ganze Zeit wurde mir nachspioniert. Außerdem gab es im letzten Winter nicht viel zu essen, und die Leute starben wie die Fliegen. So lange, bis ich selbst sterben wollte. Aber jetzt… ›O strahlender Glanz, o Licht des mit vier Pferden bespannten Sonnenwagens, o Erde und Nacht, die meinen starren Blick zuvor mit Dunkel füllten, jetzt schaue ich euch ungehindert an!‹« Ich lehnte mich zurück und sah zur Sonne auf; ich hatte das Gefühl, als falle das Jahr der Not und der Gefangenschaft wie die schmutzige Larve der Köcherfliege von mir ab und werde stromabwärts geschwemmt, während die Fliege ihre Flügel ausbreitet.

Athanaric lachte lauthals los. »Sebastianus hat erzählt, du wärest mit Euripides auf den Lippen in die Gefangenschaft gegangen. Dann ist es nur folgerichtig, daß du auf die gleiche Weise wiederkehrst.«

Er biß ein kräftiges Stück von seinem Brot ab und kaute herzhaft.

»Und wie geht es Sebastianus?« fragte ich.

Athanaric schluckte den Bissen schnell hinunter und warf Arbetio einen verlegenen Blick zu.

»Es geht ihm gut«, erwiderte Arbetio nach einem Augenblick des Zögerns. »Er ist zusammen mit seinem Vater, dem Feldherrn, bei der Armee.«

»Sein Vater hat den Ehevertrag annulliert«, erzählte Athanaric ohne Umschweife. »Er hat gesagt, der Vertrag sei ungültig, da sein Einverständnis gefehlt habe. Dann hat er ihn zerrissen und verbrannt. Du findest nicht seine… Billigung.«

»So«, seufzte ich einigermaßen erleichtert. »Er hat ja immer noch seine Daphne, oder?«

»Du brauchst nicht eifersüchtig auf sie zu sein!« meinte Athanaric.

»Eifersüchtig? Ich bin nicht eifersüchtig. Ich bin erleichtert: Ich bin im Grunde genommen froh, daß es wieder einmal nichts wird mit der Hochzeit. Aber ich dachte, du wolltest mich in Sebastianus’ Auftrag holen, um deinem Freund einen Gefallen zu erweisen.«

»Du bist ebenfalls ein Freund«, sagte Arbetio. »Daß du eine Frau bist, ändert nichts daran.«

Athanaric nickte. »Wir konnten dich schließlich nicht deinem Schicksal überlassen. Ich habe versprochen, dich da rauszuholen und jetzt habe ich es getan.«

Einen Augenblick lang saßen wir schweigend da, dann fragte Arbetio: »Was willst du jetzt tun? Weißt du schon, wohin du gehen kannst?«

»Mir wird schon etwas einfallen«, erwiderte ich und versuchte, nachzudenken. Ich war nicht mehr daran gewöhnt, eine Zukunft zu haben. Vielleicht hatte ich in Wirklichkeit auch gar keine. Vielleicht war ich dazu bestimmt, im Haus meines Bruders alt zu werden. Aber vielleicht konnte ich Thorion auch dazu überreden, mich gehenzulassen. Plötzlich entschloß ich mich einfach, so zu handeln, als könne ich selbst wählen und mein Leben so gestalten, wie es mir paßte; und ich überlegte, was ich tun sollte. Einen Augenblick später fügte ich hinzu: »Vielleicht gehe ich nach Alexandria zurück. Mein Vertrag mit der Armee ist ja wahrscheinlich hinfällig.«

Arbetio lachte. »Könntest du denn in Alexandria Lehrer der Heilkunst werden?«

»Ich glaube kaum. Aber mein alter Lehrherr Philon würde mich wahrscheinlich als Partner aufnehmen. Das heißt, falls ich wegen der Rolle, die ich bei Bischof Petrus’ Flucht gespielt habe, nicht immer noch im Verdacht stehe.«

Athanaric sah mich erneut an, dann blickte er auf sein halb aufgegessenes Brot. »Bischof Petrus sitzt wieder auf dem Thron von St. Marcus«, berichtete er. »Das war der Inhalt der Botschaft, die ich nach Konstantinopel gebracht habe.«

»Was!« rief ich aus. Noch vor einer Woche hatten selbst Neuigkeiten aus Thrazien in meinen Ohren schal oder uninteressant geklungen. Heute morgen fand ich alles und jedes aufregend.

»Was ist mit Lucius passiert?«

»Seine Wachsoldaten wurden zurückgezogen, und er hielt es für klüger, Alexandria zu verlassen. Unser Erhabener Kaiser hatte weder Zeit noch Soldaten, um sich um den Aufruhr in Alexandria zu kümmern. Deshalb hat er Petrus den bischöflichen Thron überlassen, um endlich Frieden zu haben.«

»Dann gehe ich nach Alexandria!« sagte ich und trank meinen Wein in einem Zug aus.

»Den Teufel wirst du!« entgegnete Athanaric. »Sobald der Kaiser die Goten angesiedelt hat, wird Petrus wieder ins Exil geschickt – falls er bis dahin nicht tot ist. Er ist angeblich krank.«

»Dann braucht er einen Arzt. Wahrscheinlich stört es ihn nicht einmal, daß ich eine Frau bin, wenn ich ihm erzähle, daß es Athanasios ebenfalls nicht gestört hat.«

»Bist du nicht das letztemal, als du Alexandria verlassen hast, mit knapper Not der Folter entkommen?«

»Diesmal werde ich vorsichtiger sein. Ich werde versuchen, zwischen mir und der Kirche ein bißchen Distanz zu halten. Ich werde wieder bei Philon wohnen.«

»Stört es ihn denn nicht, daß du eine Frau bist?« fragte Athanaric, und in seiner Stimme klang Spott mit.

»Er wußte es schon, bevor ich fortging. Er hat mich einmal behandelt, als ich krank war. Und er verhielt sich wie Arbetio – wie ein guter Kollege. Zuerst war es wie ein Schock, aber es spielte kaum eine Rolle.« Arbetio lächelte und nickte. »Du bist wahrscheinlich der Ansicht, ich sollte nach Bithynien gehen und in dem Haus meines Bruders herumsitzen und mich wie eine Dame benehmen?«

Athanaric öffnete den Mund, dann schloß er ihn wieder. Endlich meinte er: »Dein Bruder will dich unbedingt bald wiedersehen.«

»Ich möchte ihn ebenfalls gerne wiedersehen. Wenn er damit einverstanden ist, mich ziehen zu lassen, werde ich ihn zuerst in Bithynien besuchen. Aber anschließend werde ich nach Alexandria gehen. Es ist eine wundervolle Stadt, Arbetio. Der beste Ort in der Welt für einen Mediziner. Kommt! Machen wir uns aus dem Staub, bevor die Goten nach uns suchen! Wer hätte gedacht, daß ich einen Kurier zur Eile drängen muß?«

Athanaric blickte mich finster an, schob den Rest seines Brotes in den Mund und ging zu den Pferden. Arbetio grinste.

»Das klingt eher nach dem Mann, an den ich mich erinnere«, sagte er. »Du siehst schon besser aus.«

Ich lachte und stand auf, dann betrachtete ich erneut meine Kleider. »Hast du vielleicht ein paar Ersatzhosen?« fragte ich Arbetio.

»Daran haben wir nicht gedacht«, erwiderte er. »Außerdem wollten wir nicht soviel mit uns herumschleppen. Tut mir leid.«

»Schade«, sagte ich. »Dann leih mir doch mal dein Messer.« Arbetio reichte mir sein Gürtelmesser, ich schnitt einige Streifen vom Saum meiner Untertunika ab und begann, mir die Schenkel zu verbinden, die ich mir am vorhergehenden Tag am Sattel wundgescheuert hatte. Athanaric brachte mir mein Pferd, dann blieb er unvermittelt stehen und starrte meine Beine an. Sie waren kein sehr hübscher Anblick: sehr dünn, wundgescheuert und voller Kratzer. »Du hättest Hosen mitbringen sollen«, sagte ich zu Athanaric.

Eigenartigerweise wurde er plötzlich feuerrot und wandte den Blick ab. Ich war ebenfalls verlegen. Aber dann schürzte ich den Rock über meinen Gürtel, kletterte in den Sattel, und wir ritten los.

Wir kamen hauptsächlich durch unbebautes Land, ritten durch Urwald und über offene Heide, überquerten von den Bauern aufgegebenes und jetzt brachliegendes Land und ritten an ganzen Dörfern vorbei, die von ihren sämtlichen Bewohnern verlassen und von den Eindringlingen niedergebrannt worden waren. Wir ritten im Schritt, weil die Pferde nicht mehr galoppieren konnten, und eine Weile saßen wir schweigend in unseren Sätteln. Schließlich fragte ich Athanaric, teils um die Verlegenheit, die sich zwischen uns eingestellt hatte, zu mildern, teils weil ich wirklich neugierig war, wann und wodurch er mein Geheimnis erraten hatte.

Athanaric schnaubte verächtlich. »Viel zu spät«, erwiderte er.

»Schließlich erwartet man von mir, daß mir solche Dinge auffallen; das gehört zu meinen Aufgaben. Aber ich habe nicht entdeckt, was ein siebzigjähriger alter Geistlicher sofort bemerkt hatte. Als es mir klar wurde, habe ich mich gründlich geschämt.«

»Athanasios behauptete, Gott habe es ihm offenbart«, sagte ich. »Und er war der einzige, der jemals etwas vermutet hat. Die Menschen glauben, was man ihnen erzählt – vor allem, wenn das Gegenteil davon noch unglaubwürdiger ist als die Geschichte selbst.«

Athanaric schnaubte noch einmal, dann lächelte er entschuldigend. »Genau: Die Vorstellung war ganz einfach zu verrückt. Aber ich hätte etwas vermuten müssen. Ich wußte eine ganze Menge von dir – ich habe mich in Ägypten nach dir umgehört, nachdem wir uns das erstemal begegnet sind. Ich fragte den Chefarzt des Museums über dich aus. Er sagte, du seiest eines Morgens im Frühjahr ziemlich plötzlich aufgetaucht, praktisch ohne Empfehlungen und ohne Geld, hättest behauptet, zum Haushalt eines gewissen Theodoros von Ephesus zu gehören und hättest förmlich darum gebettelt, daß er dir die Heilkunst des Hippokrates beibringt. Er sagte, er habe nicht gedacht, daß ein Eunuch die harte Arbeit, die mit dem Studium der Medizin verbunden ist, durchstehen könnte. Er habe geglaubt, du seiest vielleicht ein fortgelaufener Sklave, und habe dich abgewiesen. Er sagte, Philon habe dich nur aus Barmherzigkeit aufgenommen, aber du hättest dich hervorragend gemacht und seiest äußerst begabt. Als ich in ihn drang, gab er zu, nach wie vor zu glauben, daß du ein fortgelaufener Sklave bist. Ein paar andere vermuteten übrigens das gleiche. Aber ich stimmte mit ihnen überein, es sei besser, wenn ein Eunuch Kranke behandelt, als im Haus eines reichen Mannes Bestechungsgelder einzustreichen. Und so ließ ich die Sache auf sich beruhen.

Die Geschichte von Festinus, der inmitten seiner Hochzeitsvorbereitungen sitzengelassen worden war, kannte ich bereits – sie erregte ziemliches Aufsehen in Asien –, und als sowohl dein Bruder als auch Festinus in Thrazien residierten, ging ich der Sache noch einmal nach, weil ich der Meinung war, eine derartige Privatfehde könne womöglich Probleme aufwerfen. Und ich erfuhr, die Schwester des vortrefflichen Theodoros sei eines Morgens im Frühjahr ganz einfach verschwunden, spurlos verschwunden. Damals fragte ich mich, ob du vielleicht etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hättest und in aller Eile nach Alexandria gegangen seiest, um dich vor Festinus zu verstecken aber die Wahrheit habe ich nicht vermutet. Du behauptetest, ein Eunuch zu sein, und alle Welt glaubte es; ich hab zu keinem Zeitpunkt daran gezweifelt. Doch ich hätte es merken müssen, daß du keiner bist. Ich glaube, in meinem Herzen habe ich es gemerkt, aber was mein Herz sah, wies mein Verstand ganz schnell von sich. Wahrscheinlich warf ich mir sogar vor, etwas Derartiges von einem anderen Mann zu denken.

Und dann wurdest du der Zauberei angeklagt. Deine eigenen Sklaven dachten, du wärest ein Zauberer, und einer ihrer Gründe dafür war, daß du immer allein gebadet und dich ohne Hilfe angekleidet hast. Aber ich dachte mir nichts dabei. Eunuchen haben ihre Gründe, zurückhaltend zu sein. Und dann behandelte dich der Statthalter von Skythien wie ein Bruder. Nun schön, überlegte ich, es ist ja der Theodoros, den du von früher her kanntest, vielleicht schuldet er dir großen Dank. Ein oder zweimal sagte er ›sie‹, als er von dir sprach – ein Versprecher oder ein kleiner Scherz? Sicher, all das verwirrte mich, aber ich brachte Chariton den Arzt immer noch nicht mit Theodoros’ Schwester zusammen – außerdem hatte ich deinen Namen noch nie gehört; die Leute erwähnen den Namen einer jungen Edelfrau nicht.

Und dann jener Abend in Marcianopolis – Festinus brütete immer noch über der ihm zugefügten Kränkung und trug sie Theodoros nach, aber er hat dich nicht erkannt! Du allerdings hattest Angst vor ihm. Ich hegte immer noch keinen Verdacht, jedenfalls nicht bewußt, doch ich fühlte immer stärker, daß ich etwas wußte, was mir nur noch nicht klargeworden war. Und du zitiertest ein paar Verse, von denen du sagtest, Festinus hätte sie einst zitiert, aber du hast sie falsch zitiert und ›Charis‹ gesagt, wo es im Gedicht ›Chloe‹ heißt. Die Vermutung lag nahe, daß Festinus diese Verse einmal in Gegenwart eines Mädchens namens Charis zitiert hatte, aber hätte er das in Gegenwart eines der Eunuchen von Theodoros getan? Deshalb bat ich dich um Hilfe, und du hast mir sehr energisch erklärt, ich solle die Angelegenheit auf sich beruhen lassen – und ich dachte mir immer noch nichts dabei. Oder besser gesagt, ich wollte mir nicht eingestehen, was ich mir gedacht hatte.

Nun gut, danach hatte ich dauernd zu tun. Ich verhandelte mit Frithigern, ging zurück und verhandelte mit Lupicinus, und dann ritt ich zwischen Antiochia und Hadrianopolis hin und her. Und ich war viel zu beschäftigt, um an irgend etwas anderes zu denken als an die Probleme im Zusammenhang mit den Goten. Schließlich wurde ich für ein paar Wochen in Antiochia festgehalten, mußte verschiedenen Hofbeamten Bericht erstatten und mit ihnen eine ganze Reihe wichtiger Dinge erörtern. Doch ich konnte sie nicht überzeugen. Eines Abends saß ich mit einem Freund zusammen, wir tranken reichlich, und als ich nach Hause kam und einschlief, träumte ich von dir. Was, will ich lieber nicht erzählen. Auf jeden Fall warst du in diesem Traum eine Frau, und als ich mit stechenden Kopfschmerzen aufwachte, dachte ich: ›Jesus Christus, was für ein verrückter Traum.‹ Und dann dachte ich: ›Beruht er vielleicht auf Wahrheit?‹ Und dann fügte sich alles ineinander. Aber ich war mir immer noch nicht sicher, nicht sicher genug jedenfalls, um deswegen einen Bericht zu verfassen. Statt dessen fragte ich überall nach jemandem, der Theodoros von Ephesus kannte, und ich trieb einen Assessor im Büro des Statthalters auf, einen Burschen namens Kyrillos. Nach ein paar Bechern Wein und ein paar geschickten Fragen hatte ich die ganze Geschichte aus ihm herausgebracht. Mir war so, als habe mir jemand einen Fußtritt versetzt – und ich hätte mir selbst einen Tritt versetzen können, so dämlich gewesen zu sein. Aber dann brach der Krieg aus, und ich mußte andauernd irgendwelche Botschaften hierhin und dorthin bringen. Deshalb konnte ich erst eine Woche nach deiner Gefangennahme nach Skythien kommen. Sebastianus war deswegen immer noch wütend auf seine Tribune. Aber er erzählte mir, es seien Gerüchte im Umlauf, die Goten hätten herausgefunden, daß du eine Frau bist, und er fragte mich, was ich davon hielte. Ich raufte mir die Haare und verwünschte uns beide, und nach einer Weile tat Sebastianus dasselbe.«

»Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte, als ich zuerst von den Gerüchten erfuhr«, erzählte Arbetio. »Ich glaubte ihnen nicht, bis ich einige entflohene Sklaven in Behandlung hatte, die dich kannten und sie bestätigten. Und sie behaupteten, du würdest Edico heiraten.«

»Das war Frithigerns ursprüngliche Idee. Bevor er wußte, wer ich wirklich bin. Edico war sehr erleichtert, als ich ihm sagte, ich wolle nicht.« Arbetio dachte einen Augenblick lang nach, dann lachte er. Athanaric runzelte die Stirn. »Edico hatte schon immer ein bißchen Angst vor dir«, meinte Arbetio.

»Wahrscheinlich fällt es ihm genauso schwer, dich als Frau anzuerkennen, wie mir.«

»Wir sind Freunde, du und ich«, sagte ich. »Und Kollegen. Wie geht es den übrigen in Novidunum?«

»Gut«, erwiderte er. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, daß wir in deinem Haus gewohnt haben. Ich habe versucht, mich genausogut um deinen Haushalt zu kümmern wie um meinen, und dafür konnte ich das neue große Haus gut gebrauchen.«

»Behalte es«, sagte ich, »als Geschenk von mir. Ich brauche es nicht mehr; ich verlasse Thrazien und gehe wieder nach Alexandria.«

Athanaric zuckte zusammen. »Hoffentlich verbietet dir dein Bruder, Bithynien zu verlassen«, sagte er grob. »Er hätte dir von Anfang an nicht erlauben dürfen, nach Alexandria zu gehen. Und falls er dich zurückkehren läßt, ist er ganz einfach ein Narr. Eine Frau hat in einer derart gefährlichen Stadt nichts zu suchen, vor allem nicht, wenn sie auf eigene Faust dort praktizieren will.«

Ich sah ihn zuerst überrascht, dann wütend an. »Du mußt immer alles verallgemeinern«, fuhr ich ihn an. »›Frauen sollten die Heilkunst nicht praktizieren.‹ Ich habe in Alexandria gelernt, daß jeder Fall für sich betrachtet und dementsprechend behandelt werden muß. Ich stamme aus einer guten Familie in Ephesus, bin eine Anhängerin Roms und schätze die Lehre des Hippokrates; außerdem bin ich eine Frau. Die ersten drei Dinge sind jedoch mindestens so wichtig wie das letzte. Und wenn du die ersten drei berücksichtigst, dann gibt es keinen Grund dafür, warum ich nicht nach Alexandria gehen sollte.«

»Ich habe nichts davon gesagt, daß Frauen keine ärztliche Praxis führen sollten!« erwiderte Athanaric gereizt. »Und ich habe ganz bestimmt nichts davon gesagt, daß du es nicht solltest; ich sehe gar nicht ein, warum du plötzlich aufhören solltest. Aber es ist dir gelungen, dir bereits in vier Provinzen Ärger einzuhandeln. Und es genügt nicht, einfach nur zu versprechen, du würdest diesmal vorsichtiger sein. Wenn du nach Alexandria gehst und Bischof Petrus als Patienten annimmst, beschuldigt man dich am Ende wahrscheinlich der Aufwiegelung und Ketzerei. Und so wie ich dich kenne, gehe ich jede Wette ein, daß dort auch bereits irgend so ein Flegel auf dich wartet, um dich zu heiraten. Du mußt jetzt schon die am häufigsten unverheiratete Frau des römischen Kaiserreichs sein – Festinus und Kyrillos und Edico und die Hälfte der gotischen Edelleute, ganz zu schweigen von Sebastianus. Sei doch um Gottes willen einmal in deinem Leben vernünftig! Warte ab, was in Alexandria und was hier in Thrazien geschieht, bevor du dich für irgend etwas entscheidest. Du kannst von Glück sagen, daß du überhaupt noch am Leben bist! Und so wie du aussiehst, könntest du sowieso etwas Erholung gebrauchen.«

Ich biß mir auf die Zunge. Was er sagte, klang vernünftig, obwohl ich es mir auf keinen Fall eingestehen wollte. Nach Carragines war der Gedanke an Alexandria allzu verführerisch.

Aber mir fiel auf einmal ein, daß er gerade sein Leben und seine Laufbahn riskiert hatte, um mich zu befreien. Wenn ich es objektiv betrachtete, mußte ich zugeben, daß er sehr wohl das Recht dazu hatte, mir Ratschläge zu erteilen.

»Also gut«, meinte ich. »Ich werde eine Zeitlang bei meinem Bruder in Bithynien bleiben und abwarten, was geschieht.« Ich lächelte Athanaric an und versuchte, mich für meine Gereiztheit zu entschuldigen.

Er wich meinem Blick aus und runzelte erneut die Stirn. Ich konnte nicht verstehen, warum er das tat; ich wußte doch, wie unbeschwert und fröhlich er immer gewesen war. Vielleicht wußte er ganz einfach nicht, wie er mit mir als Frau umgehen sollte. Oder vielleicht dachte er auch, ich hätte ihm mehr Ärger gemacht, als ich wert war. Ich seufzte und wortlos ritten wir weiter.

Bis zum Nachmittag war ich erneut sehr müde und bis zum Abend völlig erschöpft. Wenn ich auf eigene Faust aus Carragines geflohen und in meinem gegenwärtigen Zustand querfeldein gelaufen wäre, wäre ich wohl nicht weit gekommen. In jener Nacht kampierten wir in einem verlassenen Bauernhaus; wir hatten den ganzen Tag kein menschliches Lebewesen erblickt, und Athanaric war der Ansicht, dort seien wir sicher. In dem Haus war es gewiß bequemer als im Wald: Obwohl es praktisch nur aus einem einzigen Raum bestand, fanden wir Betten mit Matratzen darin vor, in die wir uns legen konnten, dazu aufgeschichtetes Feuerholz neben dem Herd. Meine Muskeln schmerzten von dem vielen Reiten wie verrückt, und ich legte mich sofort nach unserer Ankunft hin und überließ es den beiden, die Pferde zu versorgen und das Essen vorzubereiten. Ich schlief sofort ein.

Als ich spürte, daß mich jemand beobachtete, wachte ich auf. Ganz vorsichtig öffnete ich die Augen, nur den Bruchteil einer Sekunde, und lugte in die Dunkelheit. Im Herd brannte ein Feuer und spendete genügend Licht, daß ich Athanarics Umrisse erkennen konnte. Er beugte sich über mein Bett und sah mich an, aber ich rührte mich nicht, vielleicht weil ich zu müde war oder weil ich mich immer noch wegen meiner Gereiztheit schämte.

»Sie schläft immer noch«, sagte er zu Arbetio und wandte sich ab.

»Nun, dann weck sie auf«, erwiderte Arbetio. »Essen hat sie genauso nötig wie Schlaf.«

Athanaric wandte sich erneut um und streckte eine Hand aus, um mich wachzurütteln. Doch dann hielt er inne, gerade bevor ich mich aufraffen und von selbst aufstehen wollte. Statt dessen deckte er mich mit meinem Umhang zu, dann berührte er ganz leicht meine Haare. Ich dachte, mein Herz würde aufhören zu schlagen. »Laß sie noch ein wenig schlafen«, sagte er in einer mir ganz unbekannten, sanften Stimme.

Arbetio schien ganz und gar nicht damit einverstanden zu sein:

»Damit du sie in aller Ruhe anschauen kannst?«

»Sie ist müde.«

»Sie ist müde, weil sie halb verhungert und seit einem Jahr nicht mehr geritten ist. Sobald sie etwas gegessen hat, wird sie sich besser fühlen. Vor allem, vortrefflicher Athanaric, wenn du sie nicht immer nur anfährst, sondern ihr einmal deine wahren Gefühle offenbarst.«

»Oh, guter Gott! Das letzte, was sie jetzt gebrauchen kann, ist, daß schon wieder ein Gote um ihre Hand anhält. Vor allem nicht während einer Reise und mitten durch die Wildnis Thraziens. Es wäre ihr sicherlich sehr peinlich, mich abzuweisen.«

Ich setzte mich auf. Athanaric machte erschrocken einen Schritt rückwärts. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, war mir nicht sicher, ob er es wirklich so meinte, wie es den Anschein hatte.

»Sacra maiestas!« rief er aus. »Du bist ja wach.«

»Ich… Ich mochte nur noch nicht aufstehen. Was hast du gerade gesagt?«

»Nichts«, erwiderte Athanaric. Selbst in dem schwachen Licht des Feuers hätte ich schwören können, daß er rot wurde.

»Aber du hast doch davon gesprochen…«

»Ich wollte gar nichts damit sagen. Ich weiß ja, daß du nichts davon hören willst, und du kannst vergessen, was ich gesagt habe. Wir sind Freunde, und ich hätte für jeden Mann, den ich schätze, genausoviel getan.«

»Aber was hast du gesagt? Arbetio, was hat er gesagt?«

Arbetio zögerte, sah Athanaric an und sagte dann leise: »Er wollte dich um die Erlaubnis bitten, eine Ehe mit dir zu vereinbaren, sobald ihr mit heiler Haut römisches Land betreten habt.«

Ich preßte meine Hände zusammen, um sie daran zu hindern, zu zittern. »Ist das wahr?«

»Du kannst den Vorschlag erst einmal vergessen!« fuhr Athanaric rasch dazwischen. »Ich weiß schließlich, daß du im Augenblick nichts mehr von Ehe hören willst – vielleicht willst du ja nächstes Jahr darüber nachdenken… das heißt, falls du mich überhaupt magst.«

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »Aber warum denn? Du brauchst mich nicht zu beschützen, das weißt du doch: Ich komme schon alleine zurecht. Ich dachte, du möchtest eine Frau wie Amalberga.«

»Du kommst damit zurecht, dir dauernd Ärger zuzuziehen«, entgegnete Athanaric und gewann allmählich seine Fassung wieder. »Aber das hat überhaupt nichts damit zu tun. Amalberga kann überhaupt nicht bestehen neben dir; vielleicht ist sie ja ein Schwan, aber dann bist du ein Phönix.« Ich schloß die Augen. Ich konnte es nicht ertragen. Ich glaubte, wie der Vogel Phönix vom Feuer verzehrt zu werden, verzehrt von der Feuerglut der Liebe.

»Du brauchst nichts zu sagen!« rief Athanaric beunruhigt aus.

»Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Ich wollte es auch gar nicht, aber ich dachte, du schläfst. Vergiß es einfach.«

»Nicht in tausend Jahren«, sagte ich wild entschlossen, öffnete die Augen und sah ihn an. Und das war ein Anblick, an den ich mich ebenfalls tausend Jahre lang erinnern werde: sein halb dem Feuer zugewandtes Gesicht, das Licht, das sich in seinen Haaren fing, und seine Augen, in denen sich Beunruhigung, Verwirrung, Unsicherheit widerspiegelten. »Ist es denn wirklich wahr, daß du mich liebst?« fragte ich und wagte nicht, daran zu glauben.

»Natürlich. Ist das denn nicht offensichtlich? Aber du brauchst keine Angst zu haben, daß ich mich dir aufdrängen will. Ich weiß, daß du von diesen Dingen bereits viel zuviel gehört hast. Und du hast mir einmal erzählt, es gäbe einen Mann, in den du verliebt gewesen seiest. Wenn das immer noch der Fall sein sollte, will ich mich nicht zwischen euch drängen.«

Ich sprang auf. »Oh, ihr Götter! Athanaric, das warst doch du! Es gab niemals einen anderen als dich! Ist das denn nicht offensichtlich?«

Er starrte mich einen Augenblick lang an. Schließlich berührte er meine Wange, sehr zögernd, und dann küßte er mich. Ich schlang meine Arme um seinen Hals. In jenem Augenblick wünschte ich, sterben zu können. Ich glaubte, nichts in meinem Leben würde jemals wieder so wundervoll sein.

Arbetio hüstelte verlegen, und Athanaric löste sich von mir und sah mich befangen an. Ich ließ ihn nicht gehen; ich hatte zu lange gewartet, um ihn so rasch gehenzulassen. Er wollte etwas sagen, aber ich küßte ihn, und er umarmte mich wieder und vergaß, was immer er hatte sagen wollen.

»Du hast wirklich mich gemeint«, sagte er, und in seiner Stimme klang Überraschung mit, als wir schließlich voneinander abließen.

»Du, mein Leben und meine Seele!« sagte ich und schmiegte meinen Kopf an seine Schulter. Ich konnte die Festigkeit seiner Muskeln unter dem nach Schweiß und Pferd riechenden Umhang spüren, seine Arme, die mich fest umklammerten, und das Schlagen seines Herzens. Hippokrates sagt, der Körper sei wissend. Zumindest weiß er, wie er Glück zu schenken vermag. Arbetio hüstelte erneut verlegen und scharrte mit seinen Füßen. Der arme Mann, er konnte nirgends hingehen, um nicht zu stören, außer vielleicht nach draußen zu den Pferden. Ich glaube, wenn er nicht dagewesen wäre, wären Athanaric und ich im Nu ins Bett gesunken. Aber das wäre Arbetio gegenüber unhöflich gewesen. Er hatte immerhin alles riskiert, um uns zu helfen. Ich erinnerte mich an die letzten Reste meiner Erziehung, ließ Athanaric fahren und trat einen Schritt zurück. Dann mußte ich mich ganz rasch setzen: Von all der Aufregung und vom vielen Reiten zitterten mir die Knie. Athanaric ergriff meine Hände:

»Geht es dir nicht gut?« fragte er besorgt.

»Ich bin ein bißchen viel geritten«, antwortete ich, »aber mir ist es noch nie so gutgegangen in meinem Leben.« Und ich saß da und lächelte Athanaric an, und er stand da und hielt meine Hände und lächelte mit einem überwältigenden Ausdruck im Gesicht zurück.

»Ihr solltet etwas essen«, meinte Arbetio und versuchte entschlossen, uns wieder in die normale Welt zurückzuholen. Sofort half Athanaric mir und führte mich zur Feuerstelle. Sie hatten einen Eintopf mit etwas geschmortem Fleisch, ein paar Zwiebeln und etwas Suppenkraut aus dem Garten des Hauses zubereitet. Es gab keine Eßnäpfe, deshalb kauerten wir uns um den Eintopf herum und stippten unser Brot hinein. Athanaric hielt sein Brot in der Hand, saß da und sah mich an, aber jetzt, da der Eintopf vor mir stand, war ich heißhungrig. Ich stippte mein Brot hinein und aß, obwohl ich Athanaric dabei die ganze Zeit über ansehen mußte, um sicherzugehen, daß er kein Traum war. Arbetio warf uns einen Blick zu, dann lachte er. »Das hätte ich niemals von dir gedacht, Chariton«, sagte er. »Du und verliebt?«

Ich schluckte meinen Bissen herunter. »Was ist daran so schlimm?«

»Nun«, sagte Arbetio. »Die Liebe ist offensichtlich ein mächtiger Gott, da sie es fertigbringt, daß zwei intelligente Leute einen so törichten Eindruck machen.« Wir starrten ihn beide verständnislos an, und er grinste. »Vorzügliche Chariton – Charis – ich befehle dir hiermit, daß du dein Abendessen beendest und schlafen gehst. Du mußt etwas zu dir nehmen und dich ausruhen: Wir haben noch einen ganzen Tagesritt vor uns.«

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