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Ich traf Anfang Oktober desselben Jahres, in dem Athanasios gestorben war, in Thrazien ein. Die Reise von Alexandria dorthin war angenehm. Weil ein für die Jahreszeit ungewöhnlich mildes Wetter herrschte und weil es andererseits schon spät im Jahr war, segelte der Schiffsherr nicht die syrische Küste hinauf, sondern steuerte sein Segelschiff direkt durch die offene See nach Kreta. Dort nahmen wir frisches Wasser an Bord, segelten so rasch wie möglich zwischen den griechischen Inseln hindurch und hielten Kurs auf den Bosporus, um die letzten schönen Tage auszunutzen. Früh am Morgen des 25. September erreichten wir Konstantinopel. Der Hafen schimmerte sanft im Licht des Morgens, und die Stadt schien dem Wasser wie eine Vision des himmlischen Jerusalem zu entsteigen; ihre Kuppeln und Paläste färbten sich in den ersten Strahlen der Sonne golden. Auf den Hafenkais riefen die Verkäufer ihre Waren aus: frische Feigen und Melonen, heiße Sesamkuchen! Seemöwen breiteten ihre weißen Flügel über das blitzende Wasser und schossen auf ein paar Bissen Abfall herunter, die in das Hafenbecken geworfen wurden.

Das Schiff mußte einen Teil seiner Getreidefracht in ein kleineres Segelschiff umladen, das diese Ladung dann – zusammen mit mir – über das Schwarze Meer nach Norden bringen würde. Die Fracht sollte in Histria ausgeladen und von dort mit Hilfe von Booten den Fluß hinaufbefördert werden. Dieses kleinere Schiff wartete bereits am Pier, als das Schiff aus Alexandria einlief, und sein Schiffsherr kam sofort an Bord. »Ich will so schnell wie möglich auslaufen!« verkündete er der Mannschaft. »Wer weiß, wie lange der Wind sich noch hält! Ich will die Reise vor dem Winter hinter mich bringen. Wenn man an den Piers von Konstantinopel festliegt, kann man kein Geld verdienen!«

Die Luken wurden also geöffnet, und die Hafenarbeiter begannen damit, die Kornballen an Deck zu schleppen, sie auf Handkarren zu laden und diese zum anderen Schiff hinüberzurollen. Ich hätte Thorion gern wiedergesehen, aber es blieb keine Zeit zu einem Besuch in der Stadt.

Von Konstantinopel aus segelten wir in Richtung Nordwesten, dicht an der Küste des Schwarzen Meeres entlang. Das schöne Wetter hielt sich, und das Schwarze Meer gebar keinen seiner tückischen Stürme. Die Unruhe des Schiffsherrn ließ merklich nach, und er legte unterwegs in mehreren kleinen Häfen an, um Wasser und frisches Obst an Bord zu nehmen. In einem dieser Häfen – es war Odessus – hörten wir, Sebastianus, der Heerführer der thrazischen Provinz Skythien, berate sich gerade mit dem Oberfeldherrn Thraziens in Marcianopolis. Da ich unter Sebastianus’ Befehl stehen würde, hatte es keinen Zweck, in sein Hauptquartier nach Tomis weiterzureisen und dort auf ihn zu warten. Deshalb ging ich in Odessus von Bord und machte mich auf den Weg nach Marcianopolis, das zwanzig Meilen flußaufwärts von diesem Hafen liegt.

Es gab eine Menge Boote, die von Odessus aus flußaufwärts nach Marcianopolis segelten und sowohl Fische und importierte Güter als auch Passagiere mit sich führten. Ich bezahlte also ein paar Kupfermünzen, um mich und meine Reisetruhe auf einem von ihnen unterzubringen. Zwei weitere Passagiere kletterten an Bord, eine Frau mit einem Ballen importierter wollener Gewänder und ein Mann mit ein paar Fischen und zwei großen Weinamphoren. Alle beide warfen mir verstohlene Blicke zu, sagten jedoch nichts. Die Bootsmänner legten vom Kai ab, hißten das Segel und setzten sich an ihre Ruder. Ich saß im Heck auf meiner Truhe und beobachtete, wie die Ufer vorüberglitten. Ich hatte nicht viel Gelegenheit gehabt, von dem größeren Schiff aus das Land zu betrachten – nur Strände und felsige Uferabschnitte, dahinter die Berge; viele Pinien und Eichenwälder; ein paar Weiler, die sich an den morastigen Flußmündungen zusammendrängten, umgeben von offen daliegenden Feldern; ein oder zwei Städte. Als wir den Fluß weiter hinaufsegelten, kam mir Thrazien noch rauher und trostloser vor, als ich es mir vorgestellt hatte. Odessus war nur eine kleine Stadt, und Marcianopolis entpuppte sich, nachdem wir es schließlich erreicht hatten, als nicht viel größer. Zwischen den beiden wand sich der Fluß durch einen schmalen Streifen bebauten Landes in Richtung auf das Hämusgebirge. Kühe grasten auf dem fruchtbaren Weideland; ein paar Bauern brachten die letzte Ernte ein oder droschen in rhythmischen Bewegungen das reiche Gold des Korns aus den Ähren. Während der ersten Meilen machte die Landschaft einen unerklärlich fremdartigen Eindruck auf mich, und endlich wurde mir bewußt, was ich vermißte: Olivenbäume. Sie gedeihen in Thrazien nicht; es ist dort zu kalt für sie. Die Einwohner haben die barbarische Sitte der Goten übernommen, aus der Milch eine breiige Masse zuzubereiten, die sie Butter nennen und die sie statt Olivenöl zum Kochen benutzen oder einfach aufs Brot schmieren. Auch der Wein wächst in Thrazien nur spärlich, außerdem ist der dortige Wein wäßrig und sauer.

Ich spürte ein unbehagliches Frösteln und schaute weiter in die Ferne. Hinter dem bebauten Land erstreckten sich die dunklen, schattigen Umrisse der Berge und Meilen über Meilen öder Flächen und Wälder, fremdartig und wild. Es gab eine Menge brachliegendes Land: Thrazien ist eine spärlich besiedelte Region. Mit Ausnahme des Küstenstreifens war es in alten Zeiten äußerst unfruchtbar, und in den Kriegen vor der Thronbesteigung des erlauchten Kaisers Diokletian hatte es sehr gelitten. Thrazien ist außerdem ein recht großer Verwaltungsbezirk, der aus sechs Provinzen besteht. Es grenzt im Süden an die Ägäis, im Osten an das Schwarze Meer, und im Norden wird es von dem Fluß, den man Hister oder auch Donau nennt, begrenzt. An ihrem jenseitigen Ufer sind die Stämme der barbarischen Goten zu Hause. Im Westen grenzt Thrazien an die kaiserliche Diözese Dazien mit einer lateinisch sprechenden Bevölkerung, die unter der Herrschaft des westlichen Kaisers steht. Die vier südlichen Provinzen Thraziens haben eine griechisch sprechende Bevölkerung, die beiden nördlichen, Mösien und Skythien, sind allerdings zweisprachig, nämlich griechisch und lateinisch – wenn man einmal unberücksichtigt läßt, daß viele Soldaten gotisch sprechen und die Bauern thrazisch.

Wir erreichten Marcianopolis am Abend. Obwohl nach asiatischen Maßstäben nicht viel mehr als ein Flecken, war es stark befestigt. Die steinernen Wälle ragten in die Höhe und hoben sich, als sich unser kleines Schiff ihnen näherte, düster gegen die untergehende Sonne ab. Hinter ihnen tauchte drohend das Hämusgebirge auf und sperrte das Licht aus. Sogar die Flußdurchfahrt war mit Hilfe von Toren befestigt, die allerdings offenstanden, als wir in die Stadt einfuhren. Als wir an einem steinernen Pier anlegten, dämmerte es bereits. Ich war von der langen Seereise erschöpft. Nachdem ich einen Träger für meine Truhe aufgetrieben hatte, mietete ich mir ein Zimmer in der nächstgelegenen Taverne.

Am nächsten Morgen ging ich, um mich dem Heerführer Sebastianus vorzustellen. Angesichts des bevorstehenden Zusammentreffens verspürte ich ein wenig Nervosität. Deshalb zog ich mich sorgfältig an, wählte meine neueste Tunika und meinen besten Umhang. Ich besaß keinen Spiegel, aber im Zimmer befand sich eine irdene Wasserschale aus dunklem Steingut, und darin betrachtete ich mein Ebenbild. Es war einige Zeit her, daß ich mich zuletzt in einem Spiegel begutachtet hatte. Das Gesicht, das ich jetzt erblickte, war schmaler als das, an das ich mich erinnerte, und auch älter. Der unvoreingenommene, abschätzende Blick hatte sich noch verstärkt, er hatte einen vorsichtigen, ja mißtrauischen Ausdruck angenommen. Ich lächelte mir zu, verschrieb mir im Geiste viel Ruhe und regelmäßige Mahlzeiten, und das Gesicht lächelte zurück, die Züge wurden professionell und selbstsicher: das Gesicht eines in Alexandria ausgebildeten Arztes. Ich würde es schaffen. Mit gestiegenem Selbstvertrauen machte ich mich auf den Weg zu Heerführer Sebastianus.

Es bereitete mir keine Mühe, das Präsidium zu finden: Es war das größte Gebäude der Stadt und lag am Marktplatz. Die Residenz des Statthalters und die Kirche erschienen im Vergleich mit ihm klein. Über den Türen waren zwei gekreuzte vergoldete Standarten angebracht: das Drachen und das Kreuzbanner. Die Wachsoldaten wirkten fremd und barbarisch auf mich. Viele waren blond und bärtig, und zusätzlich zu ihrer vorschriftsmäßigen römischen Uniform hatten sie sich auf die unterschiedlichste Weise herausgeputzt. Ein Mann hatte ein Wolfsfell an seinem Helm befestigt, die Zähne hingen ihm wild über die Augen, die Pfoten waren unter seinem Kinn zusammengebunden; ein anderer hatte eine Halskette aus Eberzähnen angelegt. Ich wandte mich an einen etwas ziviler Aussehenden und ließ mich zum Palastsekretär führen. Dieser hieß mich eine Weile warten, dann klopfte er an eine Tür und öffnete sie.

»Chariton aus Ephesus, ein Arzt«, kündigte er mich an.

In dem Raum saßen zwei Männer an einem mit Schriftstücken übersäten Tisch. Aus einem Fenster hoch oben in der Wand fiel etwas Licht genau auf die Mitte des Tisches und ließ den übrigen Raum dämmrig erscheinen. Die vergoldeten Embleme der Region waren in die Wand gemeißelt; vor einer Ruhebank in einer Ecke lag ein Bärenfell und schien gleich knurren zu wollen. Einer der beiden Männer war jung, hatte goldblonde Haare und sah überaus gut aus. Er trug einen vergoldeten Brustharnisch und einen roten Umhang; ein mit einem roten Schopf versehener goldener Helmbusch ragte mitten in den Sonnenstrahl hinein und glänzte. Der andere Mann hatte die Lebensmitte bereits überschritten, er war untersetzt, hatte dunkle, allmählich grau werdende Haare und stark hervortretende Backenknochen. Auch er trug einen roten Umhang, aber seine Rüstung bestand ausschließlich aus Leder und Eisen. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und warf mir einen finsteren Blick zu; der jüngere Mann sortierte Papiere. Doch als ich angekündigt wurde, ließ er sie sinken, sprang auf und trat auf mich zu.

»Sei gegrüßt«, sagte er, schüttelte mir die Hand und lächelte, wobei er eine Reihe blendend weißer Zähne zeigte. »Ich bin Sebastianus, der Heerführer von Skythien; erst vor zwei Tagen habe ich einen Brief von meinem alten Freund Athanaric erhalten, in dem er dich ankündigt. Du bist schnell gereist!« Er sprach ähnlich abgehackt und verschluckte die Silben genau wie Athanaric. Ich hatte geglaubt, dessen Griechisch sei gotisch gefärbt, jetzt aber wurde mir klar, daß es ganz einfach ein illyrischer Akzent war.

»Wer ist das?« fragte der ältere Mann – es mußte Lupicinus, der oberste Feldherr der thrazischen Truppen sein. Seine Stimme war leise und knurrend, und der Akzent kam mir merkwürdig vertraut vor. Einen Augenblick lang konnte ich ihn nicht unterbringen, doch dann erinnerte ich mich: Festinus! War Lupicinus etwa ebenfalls ein Gallier?

»Ein Arzt aus Alexandria«, erklärte ihm Sebastianus, trat an den Tisch zurück und wühlte in den Papieren. »Palladios, der Präfekt Ägyptens, und der Agent Athanaric haben miteinander vereinbart, daß er in den hiesigen Hospitälern arbeiten soll. Ich brauche einen geschickten Arzt, der in Novidunum Ordnung schafft.«

Lupicinus beäugte mich mißtrauisch. »Ein Eunuch aus Ephesus?« meinte er schließlich. »Wenn er als Arzt wirklich etwas taugt, was hat er dann hier zu suchen? Was sagst du dazu, Eunuch?«

»Ich war Privatarzt seiner Heiligkeit, des Bischofs Athanasios«, erläuterte ich. Athanasios war berühmt oder vielmehr berüchtigt. Es dauerte einen Augenblick, doch dann verstanden beide Männer. Ich entnahm dem Gesichtsausdruck Sebastianus’, daß Athanaric diese Einzelheit in seinem Brief nicht erwähnt hatte. Ich fragte mich, was er geschrieben haben mochte.

Lupicinus lachte. »Dann hast du also diesem alten Unruhestifter Klistiere verpaßt! Bist du einer dieser verdammten nizäischen Fanatiker?«

»Nein, Vortrefflicher«, sagte ich und war froh, mich bei Philon in der Tugend der Geduld geübt zu haben. »Ich bin zwar Christ und auch Nizäer, aber nicht gerade fanatisch.«

»Ich fürchte, nach deinem Dienst bei einem bedeutenden Bischof wirst du die Arbeit in einem Militärhospital als schlimme Degradierung empfinden«, warf Sebastianus hastig ein und versuchte, die Unterhaltung in ruhigere Bahnen zu lenken.

Ich lächelte, um ihm zu verstehen zu geben, daß ich seine Höflichkeit zu schätzen wußte. »Für mich heißt es ganz einfach:

›Wer seine Haut retten will, kümmert sich nicht um den Harnisch‹«, erwiderte ich.

Lupicinus warf mir einen ausdruckslosen Blick zu. Sebastianus lächelte, unterdrückte sein Lächeln jedoch schnell wieder.

»Was für einen Harnisch?« fragte Lupicinus gereizt.

»Er spielt auf ein Dichterwort an«, antwortete Sebastianus.

»Das Gedicht des Archilochos über das Wegwerfen seines Harnischs.«

Lupicinus warf mir einen verächtlichen Blick zu. »Diese verdammten Griechen, die dauernd mit ihrer Bildung protzen müssen«, sagte er zu niemandem im besonderen. »Ich weiß nicht, wozu es gut sein soll, uns so einen lispelnden asiatischen Eunuchen für die Behandlung von Männern zu schicken. Was hast du denn vor, he, Chariton von Ephesus? Willst du sie etwa mit heißen und wohlduftenden Bädern behandeln? Für mich ist die überkommene Medizin gut genug. Wenn es hier bei uns einem Mann nicht bessergeht, dann stirbt er eben und fällt uns wenigstens nicht mehr zur Last.«

»Vortrefflicher Lupicinus«, sagte ich und bemühte mich, meiner Stimme einen gelassenen Tonfall zu geben, »es kommt eben darauf an, dafür zu sorgen, daß es ihm bessergeht. Ich habe gehört, an der Front würden Ärzte benötigt, und ich bin damit zufrieden, als einer von ihnen zu dienen.«

»Ich bin hocherfreut, einen geschickten Arzt für mein Hospital in Novidunum zu bekommen«, warf Sebastianus rasch ein.

»Ich habe den Eindruck, daß im Augenblick die meisten Männer, die dort eingeliefert werden, sterben. Und die übrigen bleiben ihr Leben lang verkrüppelt. Ich hoffe, du kannst diesen Zustand bessern. Komm doch bitte mit mir, dann gebe ich dir einige Briefe an den Tribun des Lagers mit und stelle dir die Erlaubnis aus, die Staatspost zu benutzen, damit du auch dorthin gelangst.« Er sammelte seine Papiere ein, nahm seinen Helm und verbeugte sich vor Lupicinus. »Vortrefflicher Feldherr, ich wünsche dir eine gute Gesundheit!« sagte er und drängte mich rasch aus dem Zimmer.

Als er den Flur ein gutes Stück hinuntergegangen war, blieb er plötzlich stehen und lachte. »O heiliger Jesus Christ!« rief er aus.

»›Für mich ist die überkommene Medizin gut genug.‹ Du würdest Lupicinus niemals dazu bewegen können, sich in ein Armeehospital zu begeben!«

»Habe ich ihn beleidigt?« fragte ich und war mir ängstlich der Macht des Mannes bewußt.

»Ihn? Es ist schwer, ihn nicht zu beleidigen. Er ist verdammt ungebildet. Er mochte nicht, daß du einen Dichter zitiert hast; er glaubt, Archilochos ist ein Fischgericht.«

»Ich dachte, jeder kennt ihn«, erwiderte ich.

Er warf mir einen abschätzenden Blick zu. »Athanaric sagt, du hättest ihn von einem tödlichen Fieber geheilt, und du seiest der einzige ehrliche Eunuch der Welt. Nun gut, ich hoffe, du kannst in Novidunum etwas ausrichten. Ich werde dir die Vollmacht geben, das Hospital, soweit wie du es für nötig hältst, neu zu organisieren. Unter den Truppen, die weiter westlich an der Donau stationiert sind, grassiert die Pest, und die kann ich hier nicht gebrauchen. Die Barbaren bekriegen sich untereinander, und das macht sie ruhelos. Falls unsere Kräfte geschwächt werden sollten, könnten sie sich dazu veranlaßt sehen, den Fluß zu überqueren.«

Ich murmelte etwas davon, mein Bestes tun zu wollen, und Sebastianus lächelte. »Vielleicht möchtest du heute abend mit mir zusammen speisen?« fragte er. »Ich treffe hier in Thrazien nicht oft gebildete Männer, und wenn es einmal der Fall ist, dann erfreue ich mich gerne ihrer Gesellschaft.«

Ich aß an diesem Abend mit Sebastianus zusammen. Er verfügte über eine ganze Reihe von Zimmern im Präsidium und hatte ein paar seiner Sklaven aus seinem Hauptquartier in Tomis mitgebracht. Ich sah mich mit der kultiviertesten Mahlzeit traktiert, die ich seit meinem Weggang aus Ephesus genossen hatte. Wir lehnten uns auf unseren Ruhebänken zurück, tranken unseren Wein (es war ein Chian – der Lieblingswein meines Vaters) und aßen uns langsam durch die drei Gänge hindurch: von den Eiern als Vorspeise bis zu den Äpfeln als Nachspeise. Ich holte die Klassiker aus der hintersten Ecke meines Gedächtnisses und glänzte vor dem Heerführer mit häufigen Dichterzitaten, so daß er mich weiterhin für sehr gebildet halten konnte. Der einzige Unterschied zu den Abendgesellschaften meines Vaters bestand in der Sängerin, die während des Essens die Lyra spielte. Die Sängerin war ein außerordentlich hübsches Mädchen, ebenso goldblond wie Sebastianus. Sie trug eine hauchdünne Seidentunika, und Sebastianus war ganz hingerissen von ihrem Anblick.

Im übrigen war mein Gastgeber ein sehr angenehmer Gesellschafter, gesprächig und witzig. Ich fand bald heraus, warum er sich die Freiheit herausnahm, über seinen Vorgesetzten herzuziehen: Sein Vater war der Oberbefehlshaber der illyrischen und italischen Legionen und einer der höchsten Heerführer des Westreichs. »Allerdings bin ich hier an der Front nicht der einzige, der mit seinem Vater angeben kann«, erzählte er mir.

»Da ist zum Beispiel mein Freund Theodosius in der Provinz Mösien sein Vater hat gerade den Aufrührer Firmus in Afrika besiegt und die Ruhe in Britannien wiederhergestellt, nachdem Lupicinus dort ein ziemliches Schlamassel angerichtet hat. Theodosius schlägt ebenfalls nach seinem Vater: Er bereitet den Sarmaten ununterbrochen Ärger. Daphne, meine liebe«, wandte er sich an die Lyraspielerin, »bitte spiel ein anderes Lied! Dies ist ja fast so weitschweifig wie Lupicinus’ Berichterstattung!« Daphne kicherte und spielte ein anderes Lied.

»Doch in dieser Gegend sind die meisten Heerführer verdammte Idioten«, fuhr Sebastianus traurig fort. »Es sind vorwiegend Goten, dazu ein paar Pannonier und Illyrier – Berufssoldaten, fähige Männer, aber ein bißchen beschränkt. Anfangs hatte ich die Hoffnung, daß unser Freund Athanaric hier stationiert würde, aber sein Vater wollte, daß er in den Zivildienst geht – er möchte ihn irgendwann als Konsul in Rom sehen. Ein Jammer, denn er ist ein guter Gesellschafter und die Goten würden natürlich alles tun, was er sagt. Er ist der Neffe des Königs der Terwingen.«

»Wessen Neffe?« fragte ich etwas töricht.

Sebastianus lachte. »Verzeih mir. Ich bin allmählich so mit dieser Region vertraut, daß ich gar nicht mehr an die andern Leute denke, die noch nie etwas von dem Terwingenkönig Athanaric gehört haben. Einige nennen sie auch Westgoten. Es ist der gotische Stamm, der uns gegenüber auf der anderen Seite des Flusses siedelt, ein sehr mächtiger Stamm – allerdings nicht mehr so mächtig wie früher einmal. Vor vielen Jahren haben die Terwingen erheblichen Ärger verursacht, als sie den Thronprätendenten Procopius unterstützten. Seine Erhabene Majestät fiel in ihr Reich ein, um ihnen eine Lehre zu erteilen. Er steckte einige Städte und Felder an und jagte König Athanaric und sein Volk in die Berge. Doch er konnte den König nicht gefangennehmen, und der Feldzug war sehr teuer. Deshalb entschloß sich unser Erhabener Gebieter dazu, Athanaric einen neuen Friedensvertrag anzubieten. Aber der König weigerte sich, zur Unterzeichnung des Vertrages nach Skythien zu kommen. Er sagte, er habe Bedenken, römischen Boden zu betreten. Der erlauchte Valens, der Herr der Welt, mußte den Vertrag auf einem Schiff in der Mitte der Donau schließen, um auf die Bedenken eines Barbarenkönigs Rücksicht zu nehmen. Angeblich ärgert er sich noch heute darüber. Nun, der Grund für die Bedenken König Athanarics lag darin, daß sein Bruder, der Vater unseres Freundes Athanaric, Jahre zuvor den Fluß mit einem Trupp Verbündeter überquert und viele Jahre lang in der römischen Armee gekämpft hatte. Später heiratete er ein römisches Mädchen und ließ sich in Sardica nieder, um seinem Sohn eine Karriere im Zivildienst zu ermöglichen. Er hofft, daß er ihn an die Erbin eines ordentlichen römischen Vermögens verheiraten kann. König Athanaric billigt all dies nicht.«

»Es muß ein merkwürdiges Gefühl sein, als gotischer Feldherr gegen die Goten zu kämpfen«, meinte ich nachdenklich.

»Sie scheinen aber nichts dabei zu finden«, erwiderte Sebastianus unbekümmert. »Sie kämpfen die ganze Zeit gegeneinander, mit oder ohne römische Hilfe. Die Terwingen bereiten sich im Augenblick auf einen Krieg mit den Alanen im Nordosten vor. Und die Greuthungen, östlich von uns, befinden sich ebenfalls im Krieg. Man behauptet sogar, daß die weiter westlich siedelnden Quaden dabei sind, in Pannonien einzufallen; und unser Herr, Valentinian, der Augustus des Westreichs, muß in Gallien einen Feldzug gegen die Alemannen führen. An der gesamten Grenze gibt es Ärger.« Seine Unbekümmertheit schwand, er saß einen Augenblick lang schweigend da und blickte finster vor sich hin. Im Hintergrund war nach wie vor Daphnes Stimme zu hören, sie sang ein witziges, kleines Lied über eine Schäferin. Aber Sebastianus’ Anblick erinnerte mich plötzlich daran, wie die Alexandriner darauf warteten, daß ihr Erzbischof starb und die Truppen auftauchten.

Gleich darauf riß er sich zusammen. »Immerhin, Barbaren bleiben Barbaren, und Römer bleiben Römer, und die letzteren gewinnen ihre Kriege immer gegen die ersteren. Obwohl es nichts schaden kann, vorbereitet zu sein. Ich hoffe, du kannst bezüglich dieses Hospitals in Novidunum etwas tun.«

»Ich bin nicht Äskulap«, sagte ich, »aber ich werde es versuchen.«

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