3

Danach verlief alles reibungslos. Xanthos schluckte seinen Stolz hinunter und blieb. Obwohl es eindeutig war, daß er mich haßte, hatte ich wegen der Patienten keinerlei Ärger mehr mit ihm. Diokles war ebenfalls wütend, als er aus Histria zurückkam, doch er bereitete mir keinen Ärger, erklärte lediglich großspurig, er werde seine Privatpatienten besuchen, wann es ihm passe, und der Heerführer solle sich zum Teufel scheren. Arbetio war von rührender Dankbarkeit.

Ich versammelte meine Schar Pfleger um mich und brachte ihnen das Reinigen von Wunden sowie einige grundsätzliche Regeln der Krankenpflege bei. Zu meiner großen Freude machten sich die Veränderungen sofort und auf drastische Weise bezahlt, was man am Prozentsatz derjenigen Patienten ablesen konnte, die gesund wurden. Ich schrieb einen Brief an Thorion und schickte ihn durch einen offiziellen Kurier – als Armeearzt, der an einen kaiserlichen Beamten schrieb, war ich dazu befugt. Ich hatte ihm kurz vor meiner Abreise aus Alexandria geschrieben und ihm von den dortigen Vorfällen berichtet, und jetzt erzählte ich ihm von der Festung und bat ihn, mir ein wenig Opium zu besorgen und es mir durch die Staatspost zukommen zu lassen, wozu er sicherlich berechtigt sei.

Mitte Dezember, als wir nur ein paar pflegebedürftige Patienten hatten, ging ich zu den Ställen, um mir ein Pferd für meinen ersten Ausflug flußaufwärts auszusuchen. Bei meinem Auftauchen warfen mir die Reitknechte abschätzige Blicke zu. Die Soldaten mochten mich nicht, weil ich ein Eunuch war und außerdem ein Zivilist, der aus einer für ihre Verweichlichung berüchtigten Provinz stammte. Und meine Erfolge im Hospital waren noch nicht bis zu ihnen vorgedrungen. Der Stallmeister war korrekt und höflich und zeigte mir die wenigen Pferde. Er empfahl mir eines, eine schlanke, gedrungene Stute. Ich warf einen Blick auf sie.

»Sie wird es nicht schaffen«, sagte ich dem Mann. »Sie ist kurzatmig.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann meinte er:

»Das ist richtig. Vielleicht möchtest du statt dessen dieses Pferd?« Und er zeigte auf einen rotbraunen Wallach. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß dieses Pferd sich gerade erst von einem gespaltenen Huf erholte; deshalb eigne es sich nicht für einen langen Ritt. Er empfahl mir noch ein Pferd, gesund, aber nach seinen Zähnen zu urteilen, viel zu alt; dann eines, das am Spat, einer Gelenkerkrankung, litt. Ich lehnte alle beide ab und schlug ein Heilmittel gegen den Spat vor. Jemand lachte.

»Verstehst du denn etwas von Pferden?« fragte der Stallmeister ungläubig.

»Ich bin im Haus eines reichen Mannes aufgewachsen, der eine große Vorliebe für Wagenrennen hatte«, erwiderte ich.

»Meine ersten Patienten waren Pferde.«

Mein Ansehen stieg enorm. Die Reitknechte ereiferten sich über Würmer, Hufabschürfungen und Koliken; der Stallmeister gab mir ein anständiges Reitpferd; der Veterinär tauchte aus dem Nichts auf und begann über Spat und Gelenkdegeneration zu sprechen; und schließlich gingen wir alle miteinander in die Lagertaverne und unterhielten uns lebhaft über Pferdekrankheiten und Wagenrennen. Die Soldaten in Novidunum waren überzeugt, daß jemand, der Pferde zu heilen vermochte, kein schlechter Mensch sein konnte.

Reiten war jedoch etwas anderes. Ich hatte noch nie in meinem Leben auf einem Pferd gesessen. Ich konnte es nicht bändigen. Als ich zusammen mit einem Trupp Soldaten und etwas Verpflegung flußaufwärts zur nächsten Festungsanlage loszog, mußten die Soldaten mich aus einer Schneewehe befreien, nachdem das Pferd versucht hatte, in seinen schönen warmen Stall zurückzukehren. Selbst, als sie mich wie ein Kind an eine Führungsleine nahmen, hatte ich Schwierigkeiten. Das Reiten beansprucht Muskeln, von denen ich noch nicht einmal wußte, daß es sie gab; es trommelt so auf ihnen herum, wie ein Koch auf seinem Fleisch herumtrommelt. Und es war bitterkalt – ich hätte mir niemals träumen lassen, daß es überhaupt so kalt sein könne. Das Donaudelta fing an zuzufrieren und Eisschollen trieben über den dunklen Fluß. Der Himmel war weiß vom Winterlicht, und die Erde war weiß von Schnee; auch die Bäume waren über und über weiß. Die hier wohnenden Leute waren vernünftig genug, an ihrem warmen Herdfeuer zu bleiben; des Nachts kamen Wölfe bis an die Türen, schnüffelten an ihnen herum und hinterließen ihre Fußspuren im Schnee. Auch in Ephesus hatte es bisweilen geschneit, aber dieser Schnee schmolz immer wieder schnell und war innerhalb von ein oder zwei Tagen verschwunden. In Skythien häuft sich der Schnee, eine Lage über die nächste, bis die ganze Welt aus nichts anderem mehr zu bestehen scheint. Ich hatte meine anerzogenen Vorurteile beiseite geschoben und von einem Händler in der Festung zwei Paar Hosen gekauft, dazu einige Strümpfe und ein Paar weite Stiefel, wie sie an der Grenze gerne getragen werden. Dann mußte ich noch einmal losziehen und einen Pelzmantel kaufen, da meine alten Umhänge, auch wenn sie für Ägypten sehr schön gewesen sein mochten, für einen skythischen Winter erbärmlich dünn waren. Selbst in diesem Aufzug zitterte ich noch, als wir jetzt flußaufwärts zu reiten begannen. Bevor wir auch nur eine Meile weit geritten waren, war ich völlig durchgefroren. Als wir das nächste Lager erreichten, war ich total erschöpft, halb erfroren und kam mir lächerlich vor.

Doch lächerlich oder nicht, ich hielt meinen Vortrag vor den Soldaten, führte ihnen einige Krüppel vor und wies darauf hin, wie schädlich die Adernpressen waren. Ich zeigte ihnen Möglichkeiten auf, leichteres Fieber an Ort und Stelle zu behandeln. Ich überprüfte die sanitären Einrichtungen, dann sah ich nach dem Trinkwasser und gab dem örtlichen Tribun Anweisungen, was er im Falle von ansteckenden Krankheiten tun sollte. Als wir zum nächsten befestigten Lager aufbrachen, war ich sehr zufrieden mit mir.

Ich schaffte es nicht, in jenem Winter allen Lagern einen Besuch abzustatten. Dies gelang mir erst bis zum Ende des darauffolgenden Jahres. Doch auch so hatten die Soldaten bis zum Frühjahr bereits von mir gehört und befolgten meine Ratschläge. Zuerst hätte ich ebensogut mit dem Wind reden können, doch die Veränderungen, die ich im Hospital vorgenommen hatte, zeitigten inzwischen spektakuläre Erfolge. Xanthos prophezeite jedem, der es hören wollte, ein Patient nach dem anderen würde durch meine Methode sterben, doch ein Patient nach dem anderen wurde gesund. Natürlich gab es Ausnahmen – Krankheiten sind ein bei weitem gefährlicherer Feind als die Barbaren, und auch der beste Arzt kann einen Wundstarrkrampf oder eine Blutvergiftung nicht heilen. Doch die Soldaten waren wirklich ideale Patienten: jung, gut genährt, aktiv. Männer, die von Natur aus viel besser dazu geeignet waren, mit einer Krankheit fertig zu werden als all die älteren und von Armut ausgelaugten Alexandriner, die vorher in meiner Behandlung gewesen waren. Zum erstenmal in der Geschichte dieses traurigen Hospitals übertraf die Zahl der Soldaten, die es gesund verließen, die Zahl derjenigen Soldaten, die in ihm starben. Xanthos fing an, dunkle Andeutungen über Zauberei zu machen. Sebastianus aber war begeistert.

Thorion nicht. Als ich in jenem ersten Januar von meinem Ausflug flußaufwärts zurückkehrte, erfuhr ich, daß er mir durch den kaiserlichen Kurier einen Brief geschickt hatte. Ich fand ihn auf dem Schreibpult in meinem Hause vor. Er war mehrfach versiegelt, und ich konnte nur hoffen, daß die Siegel tatsächlich nicht aufgebrochen waren, denn obwohl der Brief außen an »Chariton den Arzt, Novidunum« adressiert war, lautete die Anrede im Inneren: »Theodoros an seine Schwester Charis, sei gegrüßt.«

»Hast du denn ganz und gar den Verstand verloren? Ich bedaure es, deinen Plänen jemals zugestimmt zu haben. Für ein paar Jahre nach Alexandria zu gehen und Medizin zu studieren war schon schlimm genug, doch auf diese Weise kamst du Festinus wenigstens nicht mehr unter die Augen, außerdem wußte ich, welche Freude es dir machte. Aber du hast versprochen, daß du zurückkommst! Charition, das ist jetzt beinahe vier Jahre her; ich habe inzwischen meinen eigenen Haushalt und kann dich mit kultivierten Leuten zusammenbringen, ohne mich dessen schämen zu müssen. Ich bin mittlerweile angesehen genug, so daß Festinus uns nichts mehr anhaben kann. Mein Freund Kyrillos ist auch hier in Konstantinopel, er ist Assessor, und es sieht so aus, als mache er Karriere. Er würde dich sicherlich sehr gerne heiraten; er fragt bisweilen nach dir, und ich antworte ihm ausweichend, erzähle ihm nur, daß es dir gutgeht. Aber bei Artemis der Großen, kein Mensch auf der ganzen Welt würde dich heiraten, wenn er wüßte, daß du einmal Armeearzt gewesen bist. Je länger die Sache dauert, desto schwerer werden wir erklären können, wo du die ganze Zeit über gewesen bist. Und schon bald wirst du nicht mehr im heiratsfähigen Alter sein. Komm sofort nach Konstantinopel. Ich kann gar nicht glauben, daß du so etwas tust. Ich habe noch niemals gehört, daß sich eine Frau so schamlos aufgeführt hätte. Willst du etwa dein ganzes Leben lang ein Eunuch bleiben? Keine Kinder, keinen Mann? Das ist doch kein richtiges Leben. Es ist unnatürlich.«

Der Brief tat mir weh. Ich wußte nicht, wie ich ihn beantworten sollte. Ich verbrannte ihn und verstreute die Asche aus Angst davor, daß ihn jemand lesen könne, doch die Worte hafteten in meinem Gedächtnis und waren dort ein ständiger Quell des Schmerzes. Jetzt wußte Thorion zumindest, was geschehen war, und er hatte die Kluft zwischen derjenigen, die ich einmal gewesen war, und derjenigen, die ich jetzt war, also auch die Kluft zwischen ihm und mir erkannt – eine Kluft, die inzwischen so breit wie die Donau war. Aber er dachte immer noch, ich könne sie überbrücken und zurückkehren. Doch wie hätte ich das über mich bringen sollen? Ich war der Leibarzt zweier Erzbischöfe in Alexandria gewesen, ich war Chefarzt der Festung Novidunum, ich hatte für meine Behandlungsmethoden gekämpft und gewonnen. O ja, verheiratete Frauen genießen mehr Freiheiten als junge Mädchen, doch selbst die Ehefrau eines vornehmen Mannes ist durch unerbittliche Anstandsregeln dazu verdammt, keiner ernsthaften Tätigkeit nachzugehen.

Eine Woche nach Erhalt dieses Briefes träumte ich davon, ich sei in Ephesus. Ich war gekleidet, wie ich auch als thrazischer Arzt gekleidet war, mit Hosen und all dem übrigen, aber ich stand vor dem Haus meines Vaters. Ich spürte in meinem tiefsten Innern, daß ich dort unbedingt einen Patienten besuchen mußte. Ich ging hinein, schlenderte durch den ersten Hof und durch das Wagenlenkerzimmer. Es war kein Mensch zu sehen, aber ich hörte, wie jemand wimmerte. Ich ging ins Schlafzimmer meines Vaters, und dort lag er, bleich, mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber ganz ruhig. Ich berührte seine Stirn. Sie war kalt. Ein schlechtes Zeichen, dachte ich bei mir und suchte in meiner Tasche nach Opium. »Ich will nichts«, sagte Vater. »Ich will nicht mehr leben, ich möchte diese Welt gegen den Himmel eintauschen. Mein Sohn haßt mich, und meine Tochter ist fortgelaufen.«

»Ich bin nicht fortgelaufen«, entgegnete ich. »Ich bin hier, ich kann dich heilen.« Bei diesen Worten kehrte ein wenig Farbe in sein Gesicht zurück. Er lächelte mich strahlend an und richtete sich auf; er umarmte mich. Einen Augenblick lang fühlte ich mich furchtbar glücklich: Ich konnte die Toten ins Leben zurückrufen, wie Äskulap. Dann wurden seine Arme um meinen Hals steif. Ich konnte nicht mehr atmen. Ich wand mich verzweifelt hin und her. Als ich meinen Kopf freibekam, sah ich meinen Vater an, aber er war es gar nicht, es war Festinus, der seine Zähne zu einem Lächeln entblößte. Ich versuchte zu schreien, aber er preßte seine Lippen auf die meinen; ich bekam keinen Atem mehr, war völlig hilflos. Er zog mir meine kurze Tunika über die Schulter und stieß mich auf das Bett. Er legte mir ein Kissen auf das Gesicht, um mich zu ersticken. Irgendwo sangen Leute eine Hochzeitshymne. Schreiend wachte ich auf.

Jemand hämmerte an meine Tür. »Wer ist da?« fragte ich und setzte mich in meinem Bett auf. Ich zitterte und wußte nicht, wo ich war. Es war bitterkalt; das Fensterbrett war über und über mit Eis bedeckt, und das Mondlicht sickerte durch die Fensterläden.

»Ich bin es, Gebieter.« Es war die Stimme meiner Sklavin Raedagunda.

»Geht es dir gut?«

»O ja. Nur ein Alptraum.«

Ich hörte, wie Raedagundas Schritte sich in Richtung auf den Dachboden entfernten. Sie schlief oben. Ich zitterte immer noch. Es war unmöglich, an Schlaf zu denken, und so stand ich auf, kleidete mich an und legte mir meinen Pelzumhang über die Schultern, um nicht allzusehr zu frieren. Ich setzte mich an mein Schreibpult und beantwortete Thorions Brief.

»An meinen lieben Bruder Theodoros, sei gegrüßt«, schrieb ich.

Ja, ich will mein ganzes Leben lang ein Eunuch und Arzt bleiben. Thorion, mein Liebster, versuche doch, mich zu verstehen. Die Heilkunst bedeutet mir mehr als alles übrige auf der Welt. Und ich bin ein guter Arzt. Es würde mich umbringen, mich auf das beschränken zu müssen, was die Leute für schicklich halten. Vielleicht würde ich mich auch selbst umbringen. Ich könnte es nicht ertragen, ich müßte ersticken. Es mag sein, daß dies kein richtiges Leben ist, aber es ist das Leben, das ich vorziehe. Stelle mich nicht bloß. Wenn du das tätest, hättest du mich für den Rest deines Lebens auf dem Hals. Das weißt du genau. Du hast selbst gesagt, niemand würde mich heiraten, falls er Bescheid wüßte. Und was hätte es für einen Sinn, wenn ich in deinem Haus herumsäße, mit Schande bedeckt, unverheiratet und ohne meinen geliebten Beruf? Wenn du mir nicht vergeben kannst, erzähl den Leuten einfach, ich sei tot, und vergiß mich, so als sei es wirklich so.

Ich versiegelte den Brief sehr sorgfältig, voller Angst, jemand könne ihn lesen, dann ging ich wieder zu Bett. Bevor ich einschlief, machte ich mir klar, daß ich eine andere Möglichkeit ausfindig machen müßte, um an Opium heranzukommen.

Загрузка...