9.

Sie lassen Brennan vor dem Front Page stehen, seine Krawatte schlägt ihm auf die Stirn wie eine reumütige Hand, und sie gehen zur Ecke Seward, dann die Peretz hinunter und biegen direkt hinter dem Palatz-Theater im Windschatten von Baranof Hill ab zu einer schwarzen Tür in einer schwarzen Marmorfassade mit einem großen, schwarz gestrichenen Panoramafenster.

»Das ist doch nicht dein Ernst«, sagt Berko.

»In den letzten fünfzehn Jahren hab ich keinen anderen Schammes im Vorsht gesehen.«

»Meyer, es ist Freitagmorgen, halb zehn. Da sind doch höchstens Ratten drin.«

»Stimmt nicht«, sagt Landsman. Er führt Berko zur Seitentür und legt die Fingerknöchel daran, klopft zweimal. »Ich fand immer, dies wäre der richtige Ort, um Missetaten zu planen, falls ich jemals Missetaten im Schilde führen würde, die geplant werden müssten.«

Mit einem Stöhnen schwingt eine schwere Stahltür auf und gibt den Blick frei auf Mrs. Kalushiner, die ein graues Kostüm und schwarze Pumps trägt, als wolle sie in Schul oder zur Arbeit bei der Bank gehen, das Haar auf rosa Schaumgummiwickler gedreht. In der Hand hält sie einen Pappbecher mit einer Flüssigkeit, die wie Kaffee oder vielleicht Pflaumensaft aussieht. Mrs. Kalushiner kaut Tabak. Der Becher ist ihr ständiger, wenn nicht einziger Begleiter.

»Aha«, sagt sie und macht ein Gesicht, als hätte sie gerade Ohrenschmalz vom Finger geleckt. Dann spuckt sie auf ihre kultivierte Art in den Becher. Mit der weisen Macht der Gewohnheit schaut sie gründlich die Gasse hoch und runter, um zu sehen, welchen Ärger die beiden mitgebracht haben. Kurz und unverhohlen mustert sie den riesigen jarmulketragenden Indianer, der im Begriff ist, ihr Etablissement zu betreten. Bisher waren alle Menschen, die Landsman zu dieser Tageszeit mitgebracht hat, nervöse, mausäugige Schtinker wie Benny »Shpilkes« Plotner und Zigmund Landau, der Heifetz der Informanten. Nie sah jemand weniger wie ein Schtinker aus als Berko Shemets. Und bei allem Respekt vor der Mütze und den Bommeln kann der Kerl vor ihr auf gar keinen Fall ein Mittelsmann sein, schon gar kein rangniederer Mafioso, nicht mit dieser Indianervisage. Als Mrs. Kalushiner Berko trotz gründlicher Überlegung nicht in ihre Systematik zwielichtiger Typen einordnen kann, spuckt sie in ihren Becher. Dann richtet sie den Blick wieder auf Landsman und seufzt. Einer gewissen Zählweise folgend, schuldet sie Landsman siebzehn Gefallen; nach einer anderen müsste sie ihm in die Magengrube schlagen. Sie tritt zur Seite und lässt die beiden herein.

Das Lokal ist so leer wie ein Innenstadtbus nach Dienstschluss und riecht doppelt so streng. Vor Kurzem muss jemand mit einem Eimer Bleiche hindurchgegangen sein, um einige Obertöne in den konstanten Basso continuo aus Schweiß und Pissoirgestank des Vorsht zu tupfen. Über oder unter allem nimmt die scharfe Nase den Mantelfuttergeruch von abgegriffenen Dollarscheinen wahr.

»Setzt euch da hin«, sagt Mrs. Kalushiner, ohne anzuzeigen, wo sie die Männer gerne sitzen sehen möchte. Die runden Tische auf der überfüllten Bühne tragen umgedrehte Stühle wie Geweihe. Landsman stellt zwei davon auf und nimmt mit Berko Platz, fern der Bühne, neben dem schwer verriegelten Eingang. Mrs. Kalushiner geht ins Hinterzimmer, und der Perlenvorhang klappert hinter ihr wie lose Zähne in einem Eimer.

»Das ist ’ne Puppe«, sagt Berko.

»Ein Schatz«, pflichtet Landsman ihm bei. »Sie ist nur morgens hier. So muss sie sich nicht mit der Kundschaft rumschlagen.« Das Vorsht ist der Laden, wo die Musiker von Sitka weitertrinken, wenn Theater und Clubs schließen. Weit nach Mitternacht drängen sie sich hinein, Schnee auf den Hüten, Regen in den Aufschlägen, und bevölkern die kleine Bühne, schlachten sich gegenseitig mit Klarinetten und Geigen. Wie gewöhnlich, wenn sich Engel treffen, besteht ihre Gefolgschaft aus Teufeln: Gangster, Gannefs und glücklose Frauen. »Sie macht sich nichts aus Musikern.«

»Aber ihr Mann war doch … Ah, verstehe.«

Nathan Kalushiner war bis zu seinem Tod Inhaber des Vorsht und der König der Sopranklarinette. Er war ein Spieler und ein Junkie und in vielerlei Hinsicht ein schlechter Mann, aber er spielte, als wohne ein Dibbuk in ihm, und Landsman, der Musikliebhaber, passte immer auf den verrückten kleinen Schejgetz auf und versuchte, Kalushiner aus den hässlichen Situationen zu helfen, in die sein schlechtes Urteilsvermögen und seine angenagte Seele ihn brachten. Eines Tages verschwand Kalushiner mit der Frau eines wohlbekannten russischen Schtarkers und hinterließ Mrs. Kalushiner nichts als das Vorsht und die gute Absicht seiner Gläubiger. Später wurden Teile von Nathan Kalushiner unter den Docks oben in Yakovy angespült, nicht aber seine Sopranklarinette.

»Und das ist der Hund von dem Typ?«, fragt Berko und weist auf die Bühne. An der Stelle, wo Kalushiner jeden Abend stand und spielte, sitzt ein kraushaariger Terriermischling, weiß mit braunen Flecken und einem schwarzen Ring ums Auge. Er hockt einfach mit gespitzten Ohren da, als lausche er dem Echo einer Stimme oder der Musik in seinem Kopf. Eine durchhängende Kette verbindet den Hund mit einem Stahlring in der Wand.

»Das ist Hershel«, sagt Landsman. Etwas an dem geduldigen Gesichtsausdruck des Hundes, an der stillen, hündischen Leidensfähigkeit, tut Landsman weh. Er wendet den Blick ab. »Seit fünf Jahren sitzt er da.«

»Rührend.«

»Kann schon sein. Aber ehrlich gesagt, läuft es mir eiskalt den Rücken runter, wenn ich das Tier sehe.«

Mrs. Kalushiner kommt zurück mit einer Metallschüssel voll eingelegter Tomaten und Gurken, einem Korb mit Brötchen und einer Schale saurer Sahne. Alles schaukelt auf ihrem linken Arm. Die rechte Hand trägt natürlich den Pappspucknapf.

»Tolle Mixpickles«, versucht es Berko, und als er damit nichts erreicht: »Süßer Hund.«

Rührend findet Landsman die Mühe, die Berko Shemets immer bereit ist zu investieren, wenn er ein Gespräch mit jemandem beginnt. Je mehr sich der andere zurückzieht, desto entschlossener wird der alte Berko. Das war bei ihm schon als Kind so. Er besaß diesen Eifer, sich auf Menschen einzulassen, besonders auf seinen vakuumversiegelten Cousin Meyer.

»Ein Hund ist ein Hund«, sagt Mrs. Kalushiner.

Sie knallt die Mixpickles und die saure Sahne auf den Tisch, lässt den Korb mit den Mohnbrötchen fallen und zieht sich dann mit erneutem Perlengeklapper ins Hinterzimmer zurück.

»Ich müsste dich um einen Gefallen bitten«, sagt Landsman, den Blick auf den Hund gerichtet, der sich nun mit arthritischen Knien auf die Bühne gelegt und den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet hat. »Und ich hoffe sehr, dass du nein sagst.«

»Hat dieser Gefallen irgendwas mit einer ›effektiven Lösung‹ zu tun?«

»Machst du dich über die Richtlinie lustig?«

»Nicht nötig«, sagt Berko. »Das macht die Richtlinie schon selbst.« Er zupft eine eingelegte Tomate aus der Schale, tupft sie in die saure Sahne und schiebt sie sich mit dem Zeigefinger dezent in den Mund. Aus Freude an dem in seinem Mund spritzenden sauren Gemisch aus Fruchtfleisch und Lake verzieht er das Gesicht. »Bina sieht gut aus.«

»Hab ich auch gedacht.«

»Ein richtiger Kerl.«

»Hast du immer schon gesagt.«

»Bina, Bina.« Freudlos schüttelt Berko den Kopf, aber gleichzeitig gelingt es ihm irgendwie, liebevoll dreinzuschauen. »In ihrem letzten Leben muss sie eine Wetterfahne gewesen sein.«

»Das stimmt nicht«, sagt Landsman. »Es stimmt, aber es stimmt nicht.«

»Du meinst, Bina ist keine Karrierefrau?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Sie ist eine, Meyer, war sie schon immer. Das gehört zu den Dingen, die mir an ihr am besten gefallen. Bina ist ein kluges Köpfchen. Sie ist hartnäckig. Sie ist politisch. Sie wirkt loyal, in beide Richtungen, nach oben und nach unten, und das ist ganz schön schwierig. Sie hat das Zeug zum Inspector. Bei jeder Polizei, in jedem Land der Welt.«

»Sie war Klassenbeste«, sagt Landsman. »An der Akademie.«

»Aber du hattest mehr Punkte im Eignungstest.«

»Ja, schon«, sagt Landsman. »Stimmt. Habe ich das mal erzählt?«

»Selbst die US-Marshals sind so schlau, dass sie auf Bina Gelbfish aufmerksam werden«, sagt Berko. »Sie will doch nur sichergehen, dass es in Sitka auch nach der Reversion einen Platz für sie im Gesetzesvollzug gibt, und das werde ich ihr nicht zum Vorwurf machen.«

»So siehst du das also«, sagt Landsman. »Ich glaube das aber nicht. Das ist nicht der Grund, warum sie die Stelle angenommen hat. Oder nicht der einzige Grund.«

»Warum denn dann?«

Landsman zuckt mit den Schultern.

»Weiß ich nicht«, gibt er zu. »Vielleicht fiel ihr nichts Besseres ein, was sie sonst tun sollte.«

»Hoffentlich doch. Sonst ist sie plötzlich wieder mit dir zusammen.«

»Gottbewahre!«

»Horror!«

Landsman tut, als würde er dreimal über die Schulter nach hinten spucken. Und als er sich gerade fragt, ob diese Sitte etwas mit der Tradition des Tabakkauens zu tun hat, kehrt Mrs. Kalushiner zurück, die schwere Eisenkugel ihres Lebens hinter sich her ziehend.

»Ich habe hartgekochte Eier«, sagt sie drohend. »Ich habe Bagel. Ich habe Kalbsbeinsülze.«

»Nur eine Kleinigkeit zu trinken, Mrs. K.«, sagt Landsman. »Berko?«

»Sprudelwasser«, sagt Berko. »Mit einem Schnitz Zitrone.«

»Sie wollen essen«, sagt sie zu ihm. Es ist keine Frage.

»Warum nicht?«, sagt Berko. »Na gut, bringen Sie mir ein paar Eier.«

Mrs. Kalushiner wendet sich Landsman zu, und er spürt Berkos Augen auf sich. Sie fordern ihn heraus, sie rechnen damit, dass er einen Sliwowitz bestellt. Er spürt Berkos Erschöpfung, seine Ungeduld und seinen Überdruss mit Landsman und dessen Problemen. Es ist langsam an der Zeit, dass er sich zusammenreißt, oder? Dass er etwas findet, wofür es sich zu leben lohnt, und einfach weitermacht.

»Coca-Cola«, sagt Landsman. »Bitte.«

Es mag die erste Antwort sein, mit der Landsman oder jemand anders die Witwe von Nathan Kalushiner je überrascht hat. Sie hebt eine stahlgraue Augenbraue und wendet sich ab. Berko greift zu einer eingelegten Gurke und schüttelt die Pfefferkörner und Nelken ab, die ihre warzige grüne Haut sprenkeln. Er zermalmt die Gurke zwischen den Zähnen und runzelt glücklich die Stirn.

»Nur eine saure Frau macht gute Mixpickles«, sagt er, und dann beiläufig neckend: »Willst du auch bestimmt kein Bier?«

Liebend gerne würde Landsman ein Bier trinken. Er schmeckt das bittere Karamell hinten auf der Zunge. Der Inhalt von Ester-Malkes Flasche muss seinen Körper noch verlassen, aber Landsman erhält Signale, dass die Flüssigkeit ihre Siebensachen gepackt hat und abfahrbereit ist. Der Vorschlag oder der Appell, den er seinem Kollegen machen wollte, erscheint ihm jetzt als die vielleicht dümmste Idee, die er je gehabt hat, und alles andere als lebenswert. Aber es muss sein.

»Scheiße«, sagt er und erhebt sich vom Tisch. »Ich muss mal pinkeln.«

Auf dem Herrenklo findet Landsman den Körper eines E-Gitarristen. Oft hat Landsman von einem Tisch hinten im Vorsht diesen Jid und sein Spiel bewundert. Er war einer der Ersten, der die Technik und die Einstellung der amerikanischen und britischen Rockgitarristen in die Bulgars und Frejlechs der jüdischen Tanzmusik importierte. Er hat ungefähr dasselbe Alter und dieselbe Vergangenheit wie Landsman, wuchs wie er auf in Halibut Point, und in prahlerischen Momenten hat Landsman sich oder vielmehr seine Polizeiarbeit mit dem intuitiven, aufblitzenden Spiel dieses Mannes verglichen, der nun tot oder ohnmächtig im Klo liegt, die Geldhand in der Toilettenschüssel. Er trägt einen dreiteiligen Lederanzug und eine rote Stoffkrawatte. Seine gerühmten Finger sind ihrer Ringe beraubt, geisterhafte Einkerbungen sind zurückgeblieben. Auf dem gekachelten Boden liegt eine Brieftasche, sie wirkt leer und gedehnt.

Der Musiker schnarcht, einmal. Mit seinen intuitiven, aufblitzenden Fähigkeiten tastet Landsman die Halsschlagader des Mannes nach einem Puls ab. Er schlägt gleichmäßig. Die Luft um den Musiker summt fast bis zur Selbstentzündung vor Alkohol. Tatsächlich scheinen Bargeld und Ausweise aus der Brieftasche geplündert zu sein. Landsman klopft den Musiker ab und findet ein Fünftel kanadischen Wodkas in der linken Tasche des Ledersakkos. Die Knete haben sie ihm genommen, aber nicht den Schnaps. Landsman will nichts trinken. Ganz im Gegenteil: Bei der Vorstellung, diesen Dreck in seinen Magen zu kippen, geht sogar ein Ruck durch ihn, als würde sich so etwas wie ein moralischer Muskel zusammenziehen. Er wagt einen kurzen Blick in den spinnwebverhangenen Rübenkeller seiner Seele und kommt nicht umhin festzustellen, dass sein pulsierender Ekel vor der immer noch beliebten kanadischen Wodkamarke offenbar etwas mit seiner Exfrau zu tun hat, mit der Tatsache, dass sie wieder in Sitka ist und so stark und saftig und binamäßig aussieht. Ihr täglicher Anblick wird eine Qual sein, so wie Gott Moses jeden einzelnen Tag seines Lebens mit dem flüchtigen Blick auf Zion vom Gipfel des Berges Nebo quälte.

Landsman schraubt die Wodkaflasche auf und nimmt einen großen, langen Schluck. Er brennt wie eine Mischung aus Lösungsmittel und Lauge. Es bleiben noch einige Zentimeter in der Flasche, aber Landsman selbst ist vom Scheitel bis zur Sohle prall gefüllt mit purer, brennender Reue. Die alten Parallelen, die er einst selbstzufrieden zwischen dem Gitarristen und sich zog, wenden sich nun gegen ihn. Nach einer kurzen, aber heftigen Debatte beschließt Landsman, die Flasche nicht in den Müll zu werfen, wo sie keinem etwas nützt. Er verlegt sie in die gemütliche Seitentasche seines eigenen Niedergangs. Dann zerrt er den Musiker aus dem Klo und trocknet sorgfältig dessen rechte Hand. Zum Schluss pinkelt er, schließlich ist er deshalb hergekommen.

Die Musik von Landsmans Urin auf Porzellan und Wasser verlockt den Musiker, die Augen zu öffnen.

»Mir geht’s gut«, sagt er vom Boden aus zu Landsman.

»Na klar, mein Schejner«, sagt Landsman.

»Rufen Sie bitte nicht meine Frau an.«

»Tu ich nicht«, versichert Landsman ihm, doch da ist der Jid schon wieder weggetreten. Landsman schleppt den Musiker in den hinteren Gang und lässt ihn dort mit einem Telefonbuch als Kopfkissen liegen. Dann geht er zurück zum Tisch und zu Berko Shemets und trinkt einen artigen Schluck aus dem Glas mit kohlengesäuertem Zucker.

»Hmm«, sagt er. »Cola.«

»So«, sagt Berko. »Was für ein Gefallen?«

»Ja«, sagt Landsman. Das wiedererwachende Vertrauen in sich und seine Absichten, das er jetzt spürt, dieses Wohlgefühl, ist eine von einem billigen Schluck Wodka hervorgerufene Illusion. Das wird ihm nun klar, zusammen mit der Erkenntnis, dass aus der Sicht von, sagen wir mal, Gott jegliches menschliches Selbstvertrauen eine Illusion ist und jede Absicht ein Witz. »Einen ziemlich großen.«

Berko weiß, worauf Landsman hinauswill. Aber Landsman ist noch nicht so weit, den Schritt zu tun.

»Du und Ester-Malke«, sagt Landsman. »Ihr habt euch um das Wohnrecht beworben.«

»Ist das deine große Frage?«

»Nein, das ist nur die Einleitung.«

»Wir haben uns um Green Cards beworben. Jeder hier im Distrikt, der nicht nach Kanada oder Argentinien oder wer weiß wohin auswandert, hat sich um das Wohnrecht beworben. Herrgott, Meyer, du etwa nicht?«

»Ich weiß, dass ich es vorhatte«, sagt Landsman. »Vielleicht hab ich’s auch getan. Ich weiß es nicht mehr.«

Das ist zu schockierend für Berko, um es zu verarbeiten, aber es ist nicht das, weswegen Landsman mit ihm hergekommen ist.

»Doch, hab ich«, sagt Landsman. »Jetzt erinnere ich mich. Klar. Hab den I-999 und alles ausgefüllt.«

Berko nickt, als glaube er Landsmans Lüge.

»So«, sagt Landsman. »Ihr wollt also hierbleiben. In Sitka.«

»Vorausgesetzt, wir bekommen Ausweise.«

»Warum solltet ihr nicht?«

»Wegen der Begrenzung. Man sagt, nicht mal vierzig Prozent bekommen einen Ausweis.« Berko schüttelt den Kopf, momentan so ungefähr die nationale Reaktion, wenn das Gespräch auf die Frage kommt, wo andere Juden aus Sitka nach der Reversion hinwollen oder was sie vorhaben. Bisher hat es keine Zusicherungen gegeben — die Zahl von vierzig Prozent ist letztendlich auch nur ein Gerücht —, und es gibt Radikale, die mit wildem Blick behaupten, dass die Zahl der Juden, die nach Inkrafttreten der Reversion tatsächlich die Erlaubnis erhalten werden, als rechtmäßige Bürger im dann vergrößerten Staat Alaska zu leben, eher bei zehn bis fünfzehn Prozent liegen werde. Dieselben Personen laufen umher und rufen auf zu bewaffnetem Widerstand, Sezession, einer Unabhängigkeitserklärung und so weiter. Landsman hat diesen Debatten und Gerüchten um die wichtigste Frage in seinem kleinen Universum nur sehr wenig Beachtung geschenkt.

»Der Alte«, sagt Landsman. »Kann der nichts mehr reißen?«

Vierzig Jahre lang missbrauchte Hertz Shemets — wie Dennis Brennans Serie offenbarte — seine Stellung als Leiter des Überwachungsprogramms des FBI, um sein eigenes Spiel mit den Amerikanern zu treiben. Erstmals warb ihn die Behörde in den Fünfzigern an, um Kommunisten und die jiddische Linke zu bekämpfen, die zwar zerstritten, aber stark, hartgesotten, verbittert und misstrauisch gegenüber den Amerikanern war, und, im Fall der Zionisten, nicht besonders dankbar, in Sitka gelandet zu sein. Hertz Shemets’ Mandat bestand darin, die Roten vor Ort zu überwachen und zu unterwandern. Hertz rottete sie aus. Er verfütterte die Sozialisten an die Kommunisten, die Stalinisten an die Trotzkisten, die hebräischen Zionisten an die jiddischen Zionisten, und als die Fütterung vorbei war, wischte er allen Verbliebenen den Mund ab und verfütterte sie aneinander. Ende der Sechziger wurde Hertz auf die gerade entstehende radikale Bewegung unter den Tlingit losgelassen, und mit der Zeit hatte er auch ihr Zähne und Krallen gezogen.

Doch all diese Tätigkeiten waren, wie Brennan nachwies, nur eine Fassade für Hertz’ wahren Plan: Dem Distrikt den »dauerhaften Status« als jüdische Enklave zu sichern. Das, oder in seinen kühnsten Träumen sogar die staatliche Souveränität. »Schluss mit dem ewigen Wandern«, erinnert sich Landsman, sagte sein Onkel zu seinem Vater, dessen Seele sich bis zum Tag seines Todes eine Spur von romantischem Zionismus bewahrte. »Schluss mit Vertreibungen, mit dem Umherziehen und den Träumen von einer Zukunft im Land der Kamele. Es ist Zeit, dass wir nehmen, was wir bekommen können, und an Ort und Stelle bleiben.«

Jedes Jahr, stellte sich heraus, zweigte Onkel Hertz bis zur Hälfte des ihm zur Verfügung stehenden Budgets ab, um die Personen zu bestechen, von denen er bezahlt wurde. Er kaufte Senatoren und bohrte die Honigtöpfe des Kongresses an, doch vor allem fabulierte er reichen amerikanischen Juden etwas vor, da er ihren Einfluss für ausschlaggebend hielt. Dreimal wurden Gesetzesvorlagen zum dauerhaften Status eingereicht und abgeschmettert, zweimal im Ausschuss, einmal nach erbitterter, kontroverser Debatte erst im Plenum. Ein Jahr nach der Aussprache zog der jetzige Präsident Amerikas erfolgreich mit einer Fahne in den Wahlkampf, auf der die längst überfällige Durchsetzung der Reversion mit dem Slogan »Alaska den Ureinwohnern« versprochen wurde. Und Dennis Brennan scheuchte Hertz unter einen Baumstamm.

»Der Alte?«, sagt Berko. »Da unten in seinem indianischen Westentaschenreservat? Mit seiner Ziege? Und dem Elchfleisch in der Kühltruhe? Ja, der ist eine wahrhaft graue Eminenz in den Korridoren der Macht. Aber trotzdem, es sieht ganz gut aus.«

»Ja?«

»Ester-Malke und ich haben schon eine dreijährige Arbeitserlaubnis bekommen.«

»Das ist ein gutes Zeichen.«

»Sagt man.«

»Natürlich würdest du nichts tun, das euren Status irgendwie gefährden könnte.«

»Nein.«

»Befehle verweigern. Leute anpissen. Deine Pflicht vernachlässigen.«

»Niemals.«

»Schon gut.« Landsman greift in die Tasche seines Sakkos und holt das Schachspiel hervor. »Hab ich dir mal von dem Zettel erzählt, den mein Vater hinterließ, als er sich umbrachte?«

»Es soll ein Gedicht gewesen sein.«

»Eher ein Knittelvers«, sagt Landsman. »Sechs Zeilen in Jiddisch an eine unbenannte Frau.«

»Oho!«

»Nein, nein. Nichts Schlüpfriges. Es war, nun ja, er drückt darin sein Bedauern, seine Unzulänglichkeit aus. Seinen Verdruss über sein Versagen. Bekennt sich zu Hingabe und Respekt. Berührende Dankesworte für den Trost, den sie ihm spendete, und vor allem für das Vergessen, das ihre Gesellschaft ihm im langen, bitteren Lauf der Jahre schenkte.«

»Du kannst es auswendig.«

»Ja. Aber mir fiel etwas auf, das mich störte. Deshalb zwang ich mich, es zu vergessen.«

»Was fiel dir auf?«

Landsman geht nicht auf die Frage ein, weil Mrs. Kalushiner mit den Eiern kommt, sechs an der Zahl, gepellt und angerichtet auf einem kleinen Teller mit sechs runden Vertiefungen von der Größe eines breiten Eierpopos. Salz. Pfeffer. Ein Glas Senf.

»Wenn man ihm die Leine abnimmt«, sagt Berko und zeigt mit dem Daumen auf Hershel, »dann geht er vielleicht auf ein Sandwich oder so nach draußen.«

»Er mag die Leine«, sagt Mrs. Kalushiner. »Ohne schläft er nicht.«

Sie lässt die beiden erneut allein.

»Das nervt mich«, sagt Berko mit Blick auf Hershel.

»Ich weiß, was du meinst.«

Berko salzt ein Ei und beißt hinein. Seine Zähne hinterlassen Einkerbungen im gekochten Weiß.

»Also, dieses Gedicht«, sagt er. »Dieser Vers.«

»Natürlich ging jeder davon aus«, sagt Landsman, »dass meine Mutter die Adressatin von meines Vaters Strophe war. Zuallererst sie selbst.«

»Die Beschreibung passt auf sie.«

»Der Meinung waren alle. Deshalb habe ich nie jemandem erzählt, was ich entdeckte. In meinem ersten offiziellen Fall als Nachwuchs-Schammes.«

»Nämlich?«

»Nämlich dass sich aus den jeweils ersten Buchstaben der sechs Zeilen ein Name ergibt: Caissa.«

»Caissa? Was ist denn das für ein Name?«

»Ich glaube, das ist Latein«, sagt Landsman. »Caissa ist die Göttin der Schachspieler.«

Er öffnet den Deckel des Taschenschachspiels, das er im Drugstore am Korczak-Platz gekauft hat. Die Figuren stehen noch so wie am Morgen, als er sie in der Wohnung der Taytsh-Shemets’ aufstellte, und wie sie von dem Mann, der sich Emanuel Lasker nannte, hinterlassen wurden. Oder von seinem Mörder oder von der blassen Caissa, der Göttin der Schachspieler, die vorbeischaute, um wieder einem ihrer unglücklichen Jünger Lebewohl zu sagen. Schwarz hat nur noch drei Bauern, zwei Springer, einen Läufer und einen Turm. Weiß hält noch alle größeren und kleinen Figuren und zwei Bauern, von denen einer kurz vor der Umwandlung steht. Das Ganze wirkt sonderbar ungeordnet, als sei die Partie, die zu diesem Stand führte, sehr chaotisch gewesen.

»Wenn es irgendwas anderes wäre, Berko«, sagt Landsman mit entschuldigender Geste. »Ein Kartenspiel. Ein Kreuzworträtsel. Eine Bingokarte.«

»Ich verstehe«, sagt Berko.

»Aber nein, es musste eine verfluchte unterbrochene Schachpartie sein.«

Berko dreht das Brett herum und betrachtet es eine Weile, dann schaut er zu Landsman auf. Jetzt ist der Moment gekommen, mich zu fragen, sagt er mit seinen großen, dunklen Augen.

»Also, wie gesagt. Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«

»Nein«, sagt Berko, »musst du nicht.«

»Du hast die Lady gehört. Du hast gesehen, wie sie den schwarzen Aktenreiter draufgedrückt hat. Die Sache war von Anfang an ein Haufen Scheiße. Bina hat es nur offiziell gemacht.«

»Du siehst das anders.«

»Bitte, Berko, fang jetzt nicht plötzlich an, meine Meinung zu respektieren«, sagt Landsman. »Nicht nachdem ich mich so lange bemüht habe, das zu verhindern.«

Berko hat den Hund zunehmend starr beobachtet, jetzt erhebt er sich abrupt und geht zur Bühne. Er poltert die drei Holzstufen hoch und schaut auf Hershel. Dann hält er ihm die Hand zum Schnüffeln hin. Der Hund setzt sich auf und liest mit der Nase auf Berkos Handrücken die Abschrift von Babys, Waffeln und dem Innenraum eines 1971er Super Sport. Schwerfällig hockt sich Berko neben den Hund und hakt die Leine aus dem Halsband. Er nimmt den Kopf des Hundes in seine großen Hände und blickt in seine unheimlichen Augen.

»Genug schojn«, sagt er. »Er kommt nicht wieder.«

Der Hund blickt Berko an, als interessiere er sich aufrichtig für diese Nachricht. Dann springt er auf alle viere und humpelt zur Treppe, die er vorsichtig herunterstolpert. Mit klackernden Nägeln überquert er den Betonboden zu dem Tisch, an dem Landsman sitzt, und sieht zu ihm auf, als suche er Bestätigung.

»Das ist die reine Emmes, Hershel«, sagt Landsman zum Hund. »Mit Zahnabdrücken bewiesen.«

Der Hund scheint darüber nachzudenken; dann läuft er, zu Landsmans großer Überraschung, zur Eingangstür. Berko schaut Landsman vorwurfsvoll an: Was habe ich dir gesagt? Mit einem kurzen Blick zum Perlenvorhang schiebt er den Riegel zurück, dreht den Schlüssel und öffnet die Tür. Der Hund trottet nach draußen, als habe er etwas Wichtiges zu erledigen.

Berko kehrt mit einer Miene an den Tisch zurück, als hätte er gerade eine Seele vom ewigen Rad des Karma erlöst.

»Du hast gehört, was die Lady gesagt hat. Wir haben noch neun Wochen Zeit«, sagt er. »Mehr oder weniger. Wir können ein, zwei Tage lang so tun, als hätten wir eine Menge zu erledigen, und in der Zeit die Sache mit dem toten Junkie aus deinem Hotel untersuchen.«

»Ihr bekommt ein Kind«, sagt Landsman. »Ihr seid bald zu fünft.«

»Was meinst du damit?«

»Damit meine ich, dass es fünf Taytsh-Shemets sind, denen wir die Tour vermiesen, falls jemand nach Gründen sucht, euch die Aufenthaltsgenehmigung zu verweigern, wie man immer wieder hört, und falls einer der Gründe eine jüngst erfolgte Vorladung wäre, weil du dich den Anordnungen eines Vorgesetzten widersetzt hast, ganz zu schweigen von einer krassen Missachtung der Abteilungspolitik, wie dämlich und duckmäuserisch sie auch sein mag.«

Berko blinzelt, schiebt sich noch eine eingelegte Tomate in den Mund, kaut und seufzt.

»Ich hatte nie Geschwister«, sagt er. »Nur Cousins und Cousinen. Die meisten waren Indianer und wollten nichts von mir wissen. Zwei waren Juden. Einer von ihnen ist tot — möge ihr Name zum Segen sein. Bleibst nur noch du.«

»Das weiß ich zu schätzen, Berko«, sagt Landsman. »Das sollst du wissen.«

»Fuck that shit«, sagt Berko. »Wir gehen ins Einstein, stimmt’s?«

»Ja«, sagt Landsman. »Ich dachte, da sollten wir anfangen.«

Ehe sie aufstehen oder mit Mrs. Kalushiner abrechnen können, kratzt es an der Tür, dann folgt ein langes, tiefes Stöhnen. Das Geräusch ist menschlich und verzweifelt, Landsman stehen die Nackenhaare zu Berge. Er geht zur Tür und lässt den Hund herein. Der klettert zurück auf die Bühne, an den Platz, wo die Farbe auf den Dielenbrettern bereits fehlt, setzt sich mit gespitzten Ohren hin, um den Klang eines entschwundenen Horns zu erhaschen, und wartet geduldig auf das Einklinken der Leine.

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