13.

Zimbalist, der Grenzen-Mejwen, der gelehrte alte Knacker — er hält sich bereit, als das Gerücht von Indianern in einem blauen Schlitten aus Michigan vor seine Haustür rumpelt. Zimbalists Werkstatt ist ein steinernes Gebäude mit einem Zinkdach und großen Rolltoren und befindet sich am breiten Ende eines kopfsteingepflasterten Platzes. Der Platz ist an einem Ende schmal und verbreitert sich wie die Nase einer Judenkarikatur. Ein halbes Dutzend krummer Gassen purzelt hinein, Pfaden folgend, die von längst vergangenen ukrainischen Ziegen oder Auerochsen festgetreten wurden, vorbei an Häuserfronten, die ihren verlorenen ukrainischen Originalen getreu nachgebaut wurden. Ein Disney-Schtetl, strahlend unbeschmutzt wie eine frisch gefälschte Geburtsurkunde. Ein kunstvoller Wirrwarr aus schlammbraunen und senfgelben Bauten, aus Holz, Putz und Strohdächern. Gegenüber von Zimbalists Werkstatt, an der schmalen Seite des Platzes, steht das Heim von Heskel Shpilman, der zehnte in der dynastischen Linie des ursprünglichen Rebbe aus Verbov, selbst ein berühmter Wundertäter: drei hübsche weiße Würfel makellosen Stucks mit Mansardendächern aus blauen Schieferplatten und hohen Fenstern, schmal und verschlossen. Eine exakte Kopie des Stammsitzes in Verbov, das dem Großvater der Frau des jetzigen Rebbe gehörte, dem achten Verbover Rebbe, bis hin zur nickelbeschichteten Wanne im oberen Badezimmer. Schon bevor sich die Verbover Rebbes der Geldwäsche, dem Schmuggel und der persönlichen Bereicherung widmeten, unterschieden sie sich von ihren Wettbewerbern durch die Pracht ihrer Westen, durch das französische Silber auf ihren Sabbattischen und das weiche italienische Leder an ihren Füßen.

Der Grenz-Mejwen ist klein, zerbrechlich und schrägschultrig, vielleicht um die fünfundsiebzig, sieht aber zehn Jahre älter aus. Er hat zu langes, scheckiges aschgraues Haar, eingefallene dunkle Augen und blasse Haut mit einem gelblichen Stich wie ein Sellerieherz. Er trägt eine Strickjacke mit Reißverschluss und Kragenaufschlägen und ein Paar alter dunkelblauer Plastiksandalen, darin weiße Socken mit einem Loch für den linken großen Zeh und sein Horn. Auf seiner Fischgräthose sind Flecken von Eigelb, Säure, Teer, Epoxyleim, Siegellack, grüner Farbe und Mastodonblut. Das Gesicht des Mejwens ist hager, besteht fast nur aus Nase und Kinn, es dient allein dem Wahrnehmen, Sondieren und Vorstoßen in Lücken, Breschen, Vergehen. Sein voller, aschener Bart flattert im Wind wie Vogelflaum an einem Stacheldraht. In hundert Jahren Hilflosigkeit wäre es das letzte Gesicht, an das sich Landsman auf der Suche nach Beistand oder Information je wenden würde, aber Berko weiß mehr über das Leben der Schwarzhüte, als Landsman je erfahren wird.

Neben Zimbalist steht vor der geschwungenen Werkstatttür ein bartloser Jungmann mit einem Regenschirm, damit dem alten Knacker kein Schnee auf den Kopf fällt. Die schwarze Kruste vom Hut des Jungen ist schon mit einem halben Zentimeter Puderzucker bestäubt. Zimbalist behandelt seinen Helfer wie eine Topfpflanze.

»Fetter denn je«, sagt er zur Begrüßung, als Berko auf ihn zustolziert. In seinem Gang vibriert noch der Geist des schweren Kriegsbeils. »So groß wie ein Sofa.«

»Professor Zimbalist«, sagt Berko und schwingt den unsichtbaren Hammer. »Sie sehen aus wie etwas, das aus einem vollen Staubsaugerbeutel gefallen ist.«

»Acht Jahre haben Sie mich in Ruhe gelassen.«

»Ja, ich dachte, Sie brauchten mal eine Pause.«

»Das ist schön. Nur schade, dass jeder andere Jude auf dieser verfluchten Kartoffelschale von Distrikt mir den ganzen Tag auf den Teekessel hackt.« Er wendet sich an den Jungen mit dem Schirm. »Tee. Gläser. Marmelade.«

Murmelnd zitiert der Jungmann auf Aramäisch einen Merksatz über absoluten Gehorsam aus dem Traktat über die Hierarchie von Hunden, Katzen und Mäusen, öffnet die Tür des Grenz-Mejwens, und sie treten ein. Es ist ein großer, hallender Raum, theoretisch unterteilt in Garage, Werkstatt und ein Büro, das mit stählernen Aktenschränken, gerahmten Zeugnissen und den schwarzen Buchrücken des endlosen, bodenlosen Gesetzes gesäumt ist. Die großen Rolltore sind da, um die Wagen ein- und ausfahren zu lassen. Drei Wagen, nach dem Trio von Ölflecken auf dem glatten Betonboden zu urteilen.

Landsman wird bezahlt — und lebt —, um aufzudecken, was normalen Menschen entgeht, doch jetzt scheint ihm, dass er bis zu diesem Moment, da er die Werkstatt des Grenz-Mejwens Zimbalist betritt, nicht genug auf Schnüre geachtet hat. Schnüre, Fäden, Seile, Kordeln, Bänder, Fasern, Taue, Trossen und Kabel; Polypropylen, Hanf, Gummi, gummiertes Kupfer, Kevlar, Stahl, Seide, Flachs, geflochtener Samt. Der Grenz-Mejwen kennt große Teile des Talmuds auswendig. Topographie, Geographie, Geodäsie, Geometrie, Trigonometrie, das ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, als ziele er über den Lauf eines Gewehrs. Doch das A und O für den Grenz-Mejwen ist die Qualität seiner Schnüre. Die meisten — man kann sie in Meilen, in Werst oder wie der Grenz-Mejwen in Händen messen — sind säuberlich auf Spulen gewickelt, die an der Decke hängen oder ordentlich der Größe nach geordnet auf Metallspindeln ruhen. Aber viele liegen einfach herum, in Haufen und Knäueln. Wie Steppenhexen werden Gesträuch, Gewölle und große dornige Elfenknoten aus Draht und Schnur durch die Werkstatt geweht.

»Professor, das ist mein Kollege, Detective Landsman«, sagt Berko. »Wenn Sie einen brauchen, der Ihnen auf den Teekessel hackt, sagen Sie mir Bescheid.«

»Eine Nervensäge, so wie Sie?«

»Ich sag lieber nichts.«

Landsman und der Professor geben sich die Hand.

»Den kenne ich«, sagt der Grenz-Mejwen und kommt näher, um Landsman besser betrachten zu können. Er mustert ihn blinzelnd, als sei Landsman eine seiner zehntausend Landkarten. »Der hat den verrückten Podolsky geschnappt. Der hat Hyman Tshamy hinter Schloss und Riegel gebracht.«

Landsman erstarrt und klappt die Spiegelfolie seines Visiers herunter, gefasst auf eine Standpauke. Hyman Tshamy, ein Verbover Dollarwäscher mit einer Videothekenkette, beauftragte zwei philippinische Schlosser — Auftragsmörder —, ein vertracktes Geschäft für ihn zu zementieren. Doch Landsmans bester Informant ist Benito Taganes, der König der chinesischen Donuts nach Filipinoart. Benitos Informationen führten Landsman zu dem Lokal am Flughafen, wo die glücklosen Schlosser auf ein Flugzeug warteten, und ihre Zeugenaussagen brachten Tshamy trotz der Höchstleistungen des reißfestesten Anwalts-Kevlars, das für Verbover Geld zu bekommen war, hinter Gitter. Hyman Tshamy ist der bisher einzige Verbover im Distrikt, der je eines Verbrechens überführt und dafür verurteilt wurde.

»Guck dir den an!« Der untere Teil von Zimbalists Gesicht reißt auf. Seine Zähne gleichen den Pfeifen einer aus Knochen geschnitzten Orgel. Sein Lachen klingt, als würde eine Handvoll rostiger Gabeln und Nägel zu Boden fallen. »Er glaubt, ich mache mir was aus diesen Leuten, mögen ihre Lenden so verdorren wie ihre Seelen.« Der Mejwen hört auf zu lachen. »Wie, haben Sie gedacht, ich gehöre dazu?«

Landsman findet, das ist die tödlichste Frage, die ihm je gestellt wurde.

»Nein, Professor«, sagt er. Dabei bezweifelte Landsman sogar, dass Zimbalist tatsächlich ein Professor ist, aber in seinem Büro hängen über dem Kopf des mit dem elektrischen Wasserkessel kämpfenden Jungmannes die gerahmten Zeugnisse und Zertifikate der Jeschiwa von Warschau (1939), der Freien Polnischen Staatsuniversität (1950) und des Bronfman Manual and Technical (1955). Ebenso Empfehlungen, Haskomes und Affidavits, jeweils in nüchternen schwarzen Rahmen, scheinbar von jedem Rabbi im Distrikt, von unbedeutend bis einflussreich, von Yakovy bis Sitka. Demonstrativ mustert Landsman Zimbalist von oben bis unten, doch man sieht allein schon an der großen, mit silbernem Faden bestickten Jarmulke, die das Ekzem auf seinem Hinterkopf bedeckt, dass der Grenz-Mejwen kein Verbover ist. »Den Fehler würde ich nicht machen.«

»Nein? Würden Sie denn eine von denen heiraten, so wie ich, würden Sie den Fehler machen?«

»Wenn es ums Heiraten geht, lass ich gerne die anderen Fehler machen«, sagt Landsman. »Meine Exfrau zum Beispiel.«

Zimbalist winkt seine Besucher zu sich, vorbei an dem robusten Eichentisch zu zwei kaputten Stühlen neben einem gewaltigen Rollpult. Der Jungmann geht ihm nicht schnell genug aus dem Weg, der Grenz-Mejwen packt ihn am Ohr.

»Was machst du da?« Er greift nach der Hand des Jungen. »Sieh dir diese Fingernägel an! Feh!« Er lässt die Hand fallen wie verdorbenen Fisch. »Los, raus hier, setz dich ans Funkgerät! Finde heraus, wo diese Idioten sind und warum sie so lange brauchen!«

Zimbalist gießt Wasser in eine Kanne und wirft eine Faustvoll Teeblätter hinein, die verdächtig nach zerhackter Schnur aussehen.

»Einen Eruw allein müssen sie mir patrouillieren. Einen! Ich habe zwölf Männer, die für mich arbeiten, und nicht einer von ihnen hätte auf Anhieb Erfolg, wenn er seine Zehen am Ende seiner Socken suchen müsste.«

Landsman hat sich wirklich bemüht zu vermeiden, Konzepte wie das des Eruw zu verstehen, aber er weiß, dass es sich dabei um das typisch jüdische Umgehen einer Vorschrift handelt, um einen Trick, mit dem man Gott täuscht, diesen allwissenden Drecksack. Es hat etwas damit zu tun, dass Telefonmasten als Türpfosten ausgegeben werden und die Drähte als Stürze dienen. Mit Hilfe von Masten und Drähten kann man einen Bereich absperren, ihn zum Eruw erklären und dann am Sabbat so tun, als sei der selbst geschaffene Eruw — im Fall von Zimbalist und seiner Mannschaft wohl der gesamte Distrikt — das eigene Haus. So kann man das Sabbatverbot umgehen, an öffentlichen Orten etwas zu tragen, und kann mit zwei Alka-Seltzer in der Tasche sonntags zu Schul gehen, ohne dass es eine Sünde ist. Mit ausreichend Draht und Masten kann man unter kreativer Zuhilfenahme bestehender Mauern, Zäune, Klippen und Flüsse einen Kreis um so gut wie alles ziehen und das Gebiet zum Eruw erklären.

Aber irgendjemand muss diese Grenzen festlegen, muss das Gelände vermessen, die Masten und Drähte instand halten und die Unversehrtheit der vorgeblichen Mauern und Türen angesichts von Wetter, Vandalismus, Bären und der Telefongesellschaft garantieren. Dazu braucht man den Grenz-Mejwen. Er hat den gesamten Mast- und Drahtmarkt in der Hand. Die Verbover waren die Ersten, die seinen Dienst in Anspruch nahmen, und als sie mit ihren Muskeln hinter ihm standen, gingen nacheinander die Satmarer, die Bobover, die Lubawitscher, die Gerrer und all die anderen Schwarzhutsekten dazu über, sich auf Zimbalists Dienste und sein Fachwissen zu verlassen. Wenn sich die Frage stellt, ob ein bestimmter Abschnitt eines Bürgersteigs, Seeufers oder offenen Feldes in einem Eruw liegt, berufen sich alle Rabbis auf Zimbalist, auch wenn er selbst keiner ist. An seinen Landkarten, seiner Mannschaft und seinen Polypropylenspulen hängt das Seelenheil jedes gläubigen Juden im Distrikt. Nach dem, was man hört, ist er der mächtigste Jude der Stadt. Und deshalb darf er hinter seinem schweren Eichentisch mit den zweiundsiebzig Fächern mitten auf Verbov Island sitzen und ein Glas Tee mit dem Mann trinken, der Hyman Tsharny am Schlafittchen packte.

»Was ist mit Ihnen?«, sagt er zu Berko und lässt sich mit gummiartigem Quietschen auf ein aufblasbares Donut-Kissen fallen. Von einer Zigarettenklammer auf dem Schreibtisch nimmt er eine Schachtel Broadways. »Warum laufen Sie hier rum und machen allen Angst mit diesem Kriegsbeil?«

»Mein Kollege war enttäuscht von der Begrüßung hier«, sagt Berko.

»Es mangelte ihr am Geist des Sabbats«, sagt Landsman und zündet sich selbst eine Papiros an. »Fand ich.«

Zimbalist schiebt einen dreieckigen Kupferaschenbecher über den Tisch. Seitlich steht darauf »Krasny’s Tabak- und Schreibwaren«, und genau dort holte sich Isidor Landsman seine monatliche Ausgabe der Chess Review. Krasny mit seiner Leihbücherei, seinem enzyklopädischen Humidor und dem jährlichen Lyrikpreis wurde schon Vorjahren von amerikanischen Ladenketten verdrängt, und beim Anblick dieses netten Aschenbechers gibt die Quetschkommode von Landsmans Herz ein nostalgisches Schnaufen von sich.

»Zwei Jahre meines Lebens habe ich diesen Leuten geschenkt«, sagt Berko. »Man sollte meinen, es würde sich einer an mich erinnern. Bin ich so leicht zu vergessen?«

»Ich sag Ihnen mal was, Detective.« Mit einem erneuten Quietschen des Gummidonuts steht Zimbalist wieder auf und schenkt Tee in drei verschmierte Gläser. »So, wie die sich hier fortpflanzen, sind die Leute, die Sie heute auf der Straße gesehen haben, nicht mehr dieselben wie vor acht Jahren, sondern deren Enkelkinder. Heute kommen sie schon schwanger zur Welt.«

Er reicht jedem von ihnen ein dampfendes Glas, zu heiß zum Festhalten. Es verbrennt Landsmans Fingerspitzen. Die Flüssigkeit riecht nach Gras, Hagebutte und nur ein klein bisschen nach Schnur.

»Die machen immer mehr Juden«, sagt Berko und rührt einen Löffel Marmelade in sein Glas. »Aber keiner schafft Platz, wo sie hinkönnen.«

»Das ist die Wahrheit«, sagt Zimbalist, und sein knochiger Hintern sackt in den Donut. Er verzieht das Gesicht. »Seltsame Zeiten für Juden.«

»Nur hier scheinbar nicht«, sagt Landsman. »Auf Verbov Island geht das Leben seinen gewohnten Gang. In jeder Einfahrt ein gestohlener BMW und in jedem Topf ein sprechendes Huhn.«

»Die Leute hier machen sich erst Sorgen, wenn der Rebbe es ihnen sagt«, erklärt Zimbalist.

»Vielleicht müssen sie sich um gar nichts sorgen«, sagt Berko. »Vielleicht hat sich der Rebbe schon um das Problem gekümmert.«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Das glaube ich keine Sekunde lang.«

»Dann lassen Sie es halt.«

Eines der Garagentore gleitet auf den Rollen zur Seite, und ein weißer Van fährt herein, eine helle Schneemaske auf der Windschutzscheibe. Vier Männer in gelben Overalls drängen heraus, sie haben rote Nasen, und ihre Bärte sind mit schwarzen Netzen hochgebunden. Sie schnauzen sich und stapfen mit den Füßen, und Zimbalist muss hinübergehen und sie ein bisschen zusammenfalten. Es stellt sich heraus, dass es ein Problem in der Nähe des Staubeckens im Scholem-Alejchem-Park gab, irgendein Idiot von der Gemeindeverwaltung hat eine Wand zum Squashspielen aufgestellt, mitten in einen vorgeblichen Türrahmen zwischen zwei Straßenlaternen. Alle wandern hinüber zum Kartentisch in der Mitte des Büros. Während Zimbalist die betreffende Landkarte hinlegt und ausrollt, nicken seine Mitarbeiter nacheinander Landsman und Berko zu und spannen ihre bösen Muskeln an. Danach werden die beiden von Zimbalists Mannschaft einfach ignoriert. Zwei Schammes sind eine imaginäre Brise, die an ihnen vorbeiweht.

»Angeblich hat der Mejwen eine Landkarte für jede Stadt, wo jemals zehn Juden zusammengehockt haben«, sagt Berko zu Landsman. »Bis zurück nach Jericho.«

»Das Gerücht habe ich selbst in die Welt gesetzt«, sagt Zimbalist, den Blick auf die Karte gerichtet. Er findet die betroffene Stelle, und einer seiner Mitarbeiter zeichnet die Squashwand mit einem Bleistiftstummel ein. Rasch ersinnt Zimbalist eine Notlösung, die bis zum Sonnenuntergang am nächsten Tag halten muss, eine Ausbuchtung in der großen imaginären Mauer des Eruw. Er schickt seine Jungs zurück nach Harkavy, um Plastikleitungen an zwei nahe Telefonmasten zu spannen, damit die Satmarer, die östlich des Scholem-Alejchem-Parks wohnen, mit ihren Hunden Gassi gehen können, ohne ihre Seelen zu gefährden.

»Tut mir leid«, sagt er und kommt wieder um den Tisch herum. Er zuckt zusammen. »Ich habe nicht mehr viel Freude am Sitzen. Nun, was kann ich für euch tun? Ich bezweifle doch stark, dass ihr mit einer Frage über Reschus harabbim hergekommen seid.«

»Wir arbeiten an einem Mordfall, Professor Zimbalist«, sagt Landsman. »Und wir haben Grund zu der Annahme, dass der Tote ein Verbover gewesen ist oder Verbindungen zu den Verbovern hatte, zumindest früher einmal.«

»Verbindungen«, sagt der Mejwen und zeigt wieder seine Orgelpfeifenstalaktiten. »Ich denke, damit kenne ich mich aus.«

»Er wohnte unter dem Namen Emanuel Lasker in einem Hotel auf der Max Nordau Street.«

»Lasker? Wie der Schachspieler?« Eine Falte bildet sich im Pergament von Zimbalists gelber Stirn, und tief in seinen Augenhöhlen kratzt Feuerstein über Stahl: Erstaunen, Überraschung, ein Erinnerungszündholz. »Ich habe das Spiel mal betrieben«, erklärt er. »Vor langer Zeit.«

»Ich auch«, sagt Landsman. »So wie unser Toter, bis zu seinem Ende. Neben seiner Leiche fanden wir ein Schachbrett mit aufgestellten Figuren. Er las Siegbert Tarrasch. Und er kannte die Stammgäste im Schachclub Einstein. Dort kannte man ihn unter dem Namen Frank.«

»Frank«, wiederholt der Grenz-Mejwen mit einem Yankeenäseln. »Frank, Frank, Frank. War das sein Vorname? Als Nachname ist er geläufig bei Juden, aber als Vorname, nein. Wisst ihr mit Sicherheit, dass er Jude war, dieser Frank?«

Berko und Landsman tauschen einen schnellen Blick aus. Mit Sicherheit wissen sie gar nichts. Die Tefillin im Nachtschrank könnten dort als Warnung deponiert worden sein oder vergessen von einem früheren Bewohner von Raum 208. Niemand im Einstein-Club behauptete, den toten Junkie Frank in der Synagoge gesehen zu haben, sich wiegend im Stehgebet.

»Wir haben Grund zu der Annahme«, wiederholt Berko langsam, »dass der Mann früher ein Verbover Jude war.«

»Was für einen Grund?«

»Es gab zwei geeignete Telefonmasten«, sagt Landsman. »Zwischen die haben wir einen Draht gespannt.«

Er greift in seine Tasche und holt einen Umschlag hervor. Eines von Shpringers Totenpolaroids reicht er Zimbalist über den Tisch, und Zimbalist hält es mit ausgestrecktem Arm, gerade lang genug, um sich darüber klarzuwerden, dass es das Bild einer Leiche ist. Er holt tief Luft, schürzt die Lippen und macht sich bereit, ihnen eine stichhaltige professorale Einschätzung des vorliegenden Beweismittels aufzutischen. Das Bild eines Toten, das ist, ehrlich gesagt, eine Zäsur in der täglichen Routine eines Grenz-Mejwens. Dann blickt er auf das Foto, und in dem Moment, bevor er die absolute Kontrolle über seine Züge wiedergewinnt, sieht Landsman, dass Zimbalist einen Schlag in die Magengrube bekommt. Die Luft weicht aus seiner Lunge, das Blut fließt ihm aus dem Gesicht. Das stete, kluge Flackern von Intelligenz in seinem Blick erlischt. Eine Sekunde lang erblickt Landsman das Polaroid eines toten Grenz-Mejwens. Dann gehen die Lichter im Gesicht des alten Knackers wieder an. Berko und Landsman warten eine Weile, dann noch etwas länger, und Landsman weiß, dass der Mejwen sich jetzt, so gut er kann, bemüht, nicht die Kontrolle zu verlieren und an der Chance festzuhalten, als Nächstes die Worte Meine Herren, ich habe diesen Mann noch nie in meinem Lehen gesehen zu sagen und sie plausibel, logisch, wahr klingen zu lassen.

»Wer war er, Professor Zimbalist?«, fragt Berko schließlich.

Zimbalist legt das Foto auf den Schreibtisch und betrachtet es noch etwas länger, nun ist ihm einerlei, was seine Augen oder Lippen tun.

»Oj, der Junge«, sagt er. »Der liebe, liebe Junge.«

Er holt ein Tuch aus seiner Strickjacke und tupft sich die Tränen von den Wangen, dann hustet er einmal. Es ist ein furchtbares Geräusch. Landsman nimmt das Teeglas des Mejwens und gießt den Inhalt in seines. Aus der Jackentasche holt er die Wodkaflasche, die er am Morgen auf dem Männerklo des Vorsht beschlagnahmt hat. Er schenkt zwei Fingerbreit in das Teeglas und hält es dem alten Knacker hin.

Wortlos nimmt Zimbalist den Wodka und kippt ihn in einem Schluck hinunter. Dann steckt er das Taschentuch wieder in die Tasche und gibt Landsman das Foto zurück.

»Ich habe dem Jungen Schach beigebracht«, sagt er. »Als er noch ein Junge war, meine ich. Bevor er groß wurde. Tut mir leid, ich rede wirr.« Er sucht eine Broadway, hat aber schon alle aufgeraucht. Eine Weile braucht er, bis er das erkennt. Vergeblich bohrt er mit einem krummen Finger in der Packung herum, als suche er eine Erdnuss. Landsman gibt ihm eine von seinen ab. »Danke, Landsman. Danke Ihnen.«

Aber dann sagt er nichts, sondern sitzt einfach nur da und sieht zu, wie seine Papiros runterbrennt. Aus seinen eingefallenen Augenhöhlen späht er zu Berko hinüber, dann riskiert er einen kurzen Kartenspielerblick zu Landsman. Er erholt sich jetzt von dem Schock. Versucht, die Lage kartographisch zu erfassen, die Grenzlinien, die er nicht überschreiten darf, die Türschwellen, die er bei Gefahr für seine Seele nicht übertreten darf. Die behaarte, gefleckte Krabbe seiner Hand lässt eins ihrer Beine zum Telefon auf dem Schreibtisch schnellen. Noch eine Minute, und die Wahrheit und Dunkelheit des Lebens werden wieder in die Obhut von Anwälten verwiesen.

Das Garagentor knarrt und rumpelt, und Zimbalist will sich mit einem dankbaren Stöhnen wieder erheben, aber Berko ist schneller auf den Beinen. Er lässt eine schwere Hand auf die Schulter des Alten sinken.

»Setzen Sie sich, Professor«, sagt er. »Ich bitte Sie. Nehmen Sie sich Zeit, wenn Sie wollen, aber setzen Sie sich bitte wieder auf den Donut.« Er lässt die Hand, wo sie ist, und drückt Zimbalist leicht nach unten. Dabei nickt er in Richtung Garage. »Meyer.«

Landsman geht durch die Werkstatt zur Garageneinfahrt und zerrt seine Dienstmarke hervor. Er stellt sich dem Van in den Weg, als sei die Marke ein richtiges Schild und könne einen zwei Tonnen schweren Chevy aufhalten. Der Fahrer tritt auf die Bremse, und das Heulen der Reifen prallt gegen die kalten Steinwände. Der Fahrer lässt das Fenster hinunter. Er besitzt die komplette Ausrüstung der Zimbalist-Angestellten: Netz um den Bart, gelber Overall, gut entwickelter finsterer Blick.

»Was gibt’s, Detective?«, will er wissen.

»Fahrt spazieren«, sagt Landsman. »Wir unterhalten uns.« Er greift zum Funkgerät und packt den herumschleichenden kleinen Jungmann am Kragen seines langen Mantels, wirft ihn wie einen Welpen zur Beifahrerseite des Vans, reißt die Tür auf und schiebt ihn zärtlich hinein. »Und nimm den kleinen Pischer mit.«

»Chef?«, ruft der Fahrer zum Grenz-Mejwen hinüber. Nach einem Moment nickt Zimbalist und wedelt den Fahrer fort.

»Aber wo soll ich hin?«, sagt der Fahrer zu Landsman.

»Weiß ich nicht«, sagt Landsman. Er drückt die Tür ins Schloss. »Besorgt mir ein schönes Geschenk.«

Landsman klopft auf die Motorhaube, und der Van rollt rückwärts hinaus in den Sturm weißer Linien, gestrickt wie die Drähte des Grenz-Mejwens über nachgebaute Fassaden und den grellgrauen Himmel. Landsman zieht das Garagentor zu und schiebt den Riegel vor.

»Nu, vielleicht fangen Sie noch mal von vorne an«, sagt er zu Zimbalist, als er wieder auf dem Stuhl Platz nimmt. Er schlägt die Beine übereinander und zündet für beide noch eine Papiros an. »Wir haben viel Zeit.«

»Kommen Sie, Professor«, sagt Berko. »Sie kennen das Opfer von Kindesbeinen an, ja? All die Erinnerungen müssen sich doch jetzt in Ihrem Kopf drehen. So schlecht es Ihnen auch geht, Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie einfach erzählen.«

»Das ist es nicht«, sagt der Grenz-Mejwen. »Das … das ist es nicht.« Er nimmt die angezündete Papiros von Landsman entgegen, und diesmal raucht er sie fast zu Ende, ehe er zu sprechen beginnt. Er ist ein gelehrter Jid, er hat gerne Ordnung in seinen Gedanken.

»Er heißt Menachem«, beginnt er. »Mendel. Er ist — oder war — achtunddreißig, ein Jahr älter als Sie, Detective Shemets, aber er hatte am gleichen Tag Geburtstag, am 15. August, stimmt’s? Ja? Wusste ich doch. Seht ihr? Hier ist der Kartenschrank.« Er klopft auf seine haarlose Kuppel. »Karten von Jericho, Detective Shemets, von Jericho und Tyros.«

Das Klopfen auf den Kartenschrank gerät ein wenig außer Kontrolle, er schlägt sich die Jarmulke vom Kopf, und als er nach ihr greift, fällt Asche auf seinen Pullover.

»Mendeles IQ lag bei 170«, fährt er fort. »Mit acht oder neun Jahren konnte er Hebräisch, Aramäisch, Sephardisch, Latein und Griechisch lesen. Die schwierigsten Texte, das dornigste Dickicht von Logik und Argumentation. Damals war Mendele schon ein viel besserer Schachspieler, als ich je hoffen konnte zu werden. Er hatte ein bemerkenswertes Gedächtnis für gespielte Partien, er musste nur einmal eine Notation lesen und konnte sie im Kopf nachspielen, Zug um Zug, ohne Fehler. Als er älter wurde und man ihn nicht mehr so oft spielen ließ, ging er im Kopf berühmte Partien durch. Zwei, drei, vier Partien gleichzeitig.«

»Das wurde auch immer über Melekh Gaystik erzählt«, sagt Landsman. »Der hatte auch so ein Gedächtnis.«

»Melekh Gaystik«, sagt Zimbalist. »Gaystik war ein Freak. Das war nicht mehr menschlich, wie Gaystik spielte. Er hatte ein Hirn wir ein Käfer. Das Einzige, was er konnte, war fressen. Er war grob. Schmierig. Gemein. Mendele war völlig anders. Er bastelte Spielzeug für seine Schwestern, Puppen aus Wäscheklammern und Filz, ein Haus aus einer Packung Haferschleim. Hatte immer Leim an den Fingern und in der Tasche eine Wäscheklammer mit einem Gesicht drauf. Ich gab ihm Zwirn für das Haar. Acht kleine Schwestern hingen ständig an ihm. Eine Ente lief ihm nach wie ein kleiner Hund.« Zimbalists schmale braune Lippen ziehen sich in den Winkeln hoch. »Ob ihr’s glaubt oder nicht, einmal habe ich ein Spiel zwischen Mendel und Melekh Gaystik arrangiert. So was konnte man damals machen, Gaystik war immer pleite und hatte Schulden, er hätte gegen einen betrunkenen Bären gespielt, wenn es Geld gebracht hätte. Damals war der Junge zwölf, Gaystik sechsundzwanzig. Es war das Jahr, bevor er die Meisterschaft in St. Petersburg gewann. Sie spielten drei Partien hinten in meiner Werkstatt, die damals noch, wie Sie sich erinnern werden, Detective, auf der Ringelblum Avenue lag. Ich bot Gaystik fünftausend Dollar für ein Spiel gegen Mendele. Der Junge gewann die erste und dritte Partie. Bei der zweiten hatte er Schwarz und zwang Gaystik zu einem Remis. Ja, Gaystik war heilfroh, dass das Spiel geheim gehalten wurde.«

»Warum?«, will Landsman wissen. »Warum mussten die Spiele geheim gehalten werden?«

»Weil dieser Junge«, sagt der Grenz-Mejwen, »der in einem Hotelzimmer auf der Max Nordau Street starb … Kein schönes Hotel, nehme ich an.«

»Eine Absteige«, sagt Landsman.

»Drückte er sich das Heroin in den Arm?«

Landsman nickt, und nach ein oder zwei harten Sekunden nickt auch Zimbalist.

»Ja. Natürlich. Nu. Ich hatte mich bereit erklärt, die Spiele heimlich zu organisieren, weil diesem Jungen verboten worden war, mit Außenstehenden Schach zu spielen. Irgendwie bekam Mendeles Vater Wind von dem Spiel gegen Gaystik, ich habe nie erfahren, wie. Für mich ging es noch gerade gut aus. Obwohl meine Frau mit dem Vater verwandt war, verlor ich fast sein Haskome, was damals meine Geschäftsgrundlage war. Ich habe mein ganzes Geschäft auf diese Approbation aufgebaut.«

»Der Vater — Sie wollen doch nicht sagen, dass Heskel Shpilman der Vater ist«, sagt Berko. »Der Mann da auf dem Bild ist der Sohn des Verbover Rebbe?«

Da merkt Landsman, wie still es auf Verbov Island ist, im Schnee, in dieser steinernen Scheune, kurz vor der Dunkelheit, während der entweihte Teil der Woche und die sie entweihende Welt sich rüsten, in den Flammen zweier identischer Kerzen zu vergehen.

»Doch«, sagt Zimbalist schließlich. »Mendel Shpilman. Sein einziger Sohn. Er hatte noch einen Zwillingsbruder, aber der wurde tot geboren. Das wurde später als Zeichen gedeutet.«

Landsman sagt: »Als Zeichen wofür? Dass er ein Wunderkind war? Dass er irgendwann als Junkie in einer billigen Absteige in der Untershtot enden würde?«

»Das nicht«, sagt Zimbalist. »Daran dachte niemand.«

»Man sagte … man erzählte sich damals …«, beginnt Berko. Er verzieht das Gesicht, als wisse er, dass das, was er nun äußern wird, Landsman verdrießen und ihm Anlass zum Spott geben wird. Dann zieht er seine kleinen braunen Augen wieder glatt und lässt den Moment verstreichen. Er kann sich nicht überwinden, zu wiederholen, was man sich erzählte. »Mendel Shpilman. Du lieber Gott. Ich habe so einiges gehört.«

»Eine Menge«, sagt Zimbalist. »Alles nur Geschichten, bis er zwanzig Jahre alt war.«

»Was für Geschichten?«, sagt Landsman, gebührend verdrossen. »Geschichten worüber? Nu erzählt schojn, verdammt nochmal!«

Загрузка...