10.

Das nördliche Ende der Peretz Street besteht aus Betonplatten und Stahlsäulen, aus aluminiumgerahmten Fenstern mit Thermopaneverglasung gegen die Kälte. Die Häuser in diesem Teil der Untershtot wurden in den frühen Fünfzigern errichtet, Schutzräume, von Überlebenden rasch zusammenmontiert, mit einer gewissen noblen Hässlichkeit. Jetzt verbreiten sie nur noch die Hässlichkeit von Alter und Leerstand. Geschlossene Ladenlokale, verklebte Scheiben. Im Schaufenster von Nr. 1911, wo Landsmans Vater an Treffen der Edelshtat-Gesellschaft teilnahm, bevor ein Outlet-Store für Pflegeprodukte einzog, hockt mit sardonischem Grinsen ein Stoffkänguruh und hält ein Pappschild hoch: »Australien oder Pleite«. Das Hotel Einstein mit der Hausnummer 1906 sehe aus, meinte ein Witzbold bei seiner Eröffnung, wie ein Rattenkäfig in einem Aquarium. Es ist in Sitka ein beliebter Schauplatz für Selbstmorde. Traditionell und per Satzung ist es außerdem die Heimat des Einstein-Schachclubs.

Ein Mitglied des Einstein-Schachclubs namens Melekh Gaystik wurde 1980 in St. Petersburg Weltmeister gegen den Holländer Jan Timman. Die Weltausstellung noch frisch in Erinnerung, sahen die Einwohner von Sitka in Gaystiks Triumph einen weiteren Beweis für ihren Verdienst und ihre Identität als Volk. Gaystik neigte zu Wutausbrüchen, düsteren Launen und Anfällen geistiger Verwirrung, aber in der allgemeinen Feierlaune übersah man diese Unzulänglichkeiten.

Eine Folge von Gaystiks Sieg war die Entscheidung des Hotelmanagements, den Ballsaal mietfrei dem Schachclub zu überlassen. Hotelhochzeiten waren aus der Mode gekommen, und das Management versuchte schon länger, die Patzer mit ihrem Gemurmel und Gequalme aus dem Café zu verbannen. Gaystik lieferte der Verwaltung den nötigen Anlass. Die Eingangstüren zum Ballsaal wurden verschlossen, sodass man ihn nur hinten herum, über eine Gasse, betreten konnte. Das feine Eschenparkett wurde herausgerissen, dafür wurde in einem wilden Schachbrettmuster Linoleum in den Farbschlägen von Ruß, Galle und Krankenhausgrün verlegt. Der modernistische Lüster unter der hohen Betondecke wurde durch Reihen von Neonröhren ersetzt. Zwei Monate später spazierte der junge Weltmeister in das alte Café, wo Landsmans Vater einst Eindruck gemacht hatte, setzte sich an einen Tisch weiter hinten, holte einen Colt 38 Detective Special hervor und schoss sich in den Mund. In seiner Tasche war ein Zettel. Darauf stand lediglich: Wie es früher war, hat es mir besser gefallen.

»Emanuel Lasker«, sagt der Russe zu den beiden Polizeibeamten und sieht von seinem Schachbrett neben dem Empfangstisch auf. Eine alte Neonuhr über ihm wirbt für eine ehemalige Zeitung, das Blat. Er ist ein skelettöser Mann mit blättriger, dünner, rosafarbener Haut und einem schwarzen Spitzbart. Seine Augen stehen eng zusammen und haben die Farbe von kaltem Meerwasser. »Emanuel Lasker.« Die Schultern des Russen heben sich, er zieht den Kopf ein, sein Brustkorb schwillt an und fällt wieder zusammen. Es sieht aus, als lache er, doch ist kein Ton zu hören. »Ich wünsche, er kommt hier vorbei.« Wie bei den meisten russischen Immigranten ist sein Jiddisch experimentell und schroff. Er erinnert Landsman an jemanden, ohne dass er sagen könnte, an wen. »Ich gebe ihm so einen Tritt in Arsch.«

»Hast du mal seine Partien gesehen?«, will der Gegner des Russen wissen. Es ist ein junger Mann mit Puddingwangen, rahmenloser Brille und leicht grünlicher Hautfarbe, wie das Weiß einer Dollarnote. Die Gläser seiner Brille vereisen, als er sie auf Landsman richtet. »Haben Sie mal seine Partien gesehen, Detective?«

»Nur um das klarzustellen«, sagt Landsman. »Das ist nicht der Lasker, den wir meinen.«

»Der Mann, den wir suchen, benutzte nur den Namen, wie ein Pseudonym«, sagt Berko. »Sonst würden wir ja einen Mann suchen, der schon seit sechzig Jahren tot ist.«

»Wenn man heute Laskers Partien sieht«, fährt der junge Mann fort. »Sie sind zu komplex. Er macht alles zu schwer.«

»Sind nur komplex für dich, Velvel«, sagt der Russe, »weil du bist so simpel.«

Die beiden Schammes haben die Partie im intensiven Mittelspiel gestört, der Russe hat Weiß und einen unangreifbaren Springer als Außenposten. Die Männer sind in ihr Spiel versunken, so wie zwei Berge in einem Schneesturm versinken. Instinktiv lassen sie die Polizeibeamten die abstrakte Verachtung spüren, mit denen sie allen Kibitzern begegnen. Landsman fragt sich, ob er und Berko warten sollen, bis die beiden fertig sind. Aber es werden noch andere Partien gespielt, andere Spieler sind zu befragen. Im alten Ballsaal kratzen Stuhlbeine über den Boden wie Fingernägel über eine Tafel. Schachfiguren klicken wie die Trommel in Melekh Gaystiks ‚38er. Die Taktik dieser Männer — hier gibt es keine Frauen — ist das stete Tyrannisieren ihrer Gegner durch Selbstverleumdung, eisiges Lachen, Pfeifen und Räuspern.

»Solange das klar ist«, sagt Berko. »Dieser Mann, der sich Emanuel Lasker nannte, aber nicht der 1868 in Preußen geborene berühmte Weltmeister war, ist tot, und wir untersuchen diesen Todesfall. In unserer Eigenschaft als Beamte der Mordkommission, was wir bereits erwähnten, ohne dass es offenbar besonders viel Eindruck gemacht hätte.«

»Ein Jude mit blondes Haar«, sagt der Russe.

»Und Sommersprossen«, sagt Velvel.

»Sehen Sie«, sagt der Russe. »Wir passen gut auf.«

Er schnappt einen seiner Türme, so wie man jemandem ein loses Haar vom Kragen zupft. Seine Finger unternehmen mit dem Turm eine kleine Reise die Reihe entlang und teilen dem letzten schwarzen Läufer mit einem Klopfen die schlechte Nachricht mit.

Velvel wechselt jetzt zu Russisch mit jiddischem Akzent, äußert die besten Wünsche für die Wiederaufnahme der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Mutter seines Gegners und einem gut ausgestatteten Hengst.

»Ich bin Waise«, sagt der Russe.

Er lehnt sich auf seinem Stuhl nach hinten, als gehe er davon aus, dass sein Gegner etwas Zeit benötigt, um sich vom Verlust seines Läufers zu erholen. Er knotet seine Arme um die Brust und klemmt die Hände in die Achselhöhlen. Es ist die Geste eines Mannes, der eine Papiros in einem Raum rauchen möchte, in dem dieses Laster verboten ist. Landsman fragt sich, was sein Vater mit sich selbst angefangen hätte, wenn der Einstein-Schachclub noch zu seinen Lebzeiten das Rauchen untersagt hätte. Der Mann konnte bei einer Partie eine ganze Schachtel Broadways verqualmen.

»Blond«, sagt der Russe, ein Ausbund an Hilfsbereitschaft. »Sommersprossen. Was noch, bitte?«

Landsman überfliegt sein Blatt spärlicher Informationen und versucht zu entscheiden, welche Karte er ausspielen soll.

»Er war Schachspieler, nehmen wir an. Kannte sich aus mit Schachgeschichte. In seinem Zimmer lag ein Buch von Siegbert Tarrasch. Und dann natürlich sein Pseudonym.«

»Wie scharfsinnig«, sagt der Russe, ohne sich die Mühe zu machen, besonders ehrlich zu klingen. »Zwei hochkarätige Schammes.«

Die Bemerkung nagt nicht so sehr an Landsman, als dass sie ihn eine halbe Witzelei näher an die Erinnerung stupst, wer dieser hagere Russe mit der blättrigen Haut ist.

»Früher mal«, fährt Landsman jetzt langsamer fort und tastet, den Russen im Blick, nach dieser Erinnerung, »war der Verstorbene vielleicht ein frommer Jude. Ein Schwarzhut.«

Der Russe zieht seine Hände unter den Armen hervor. Ein wenig beugt er sich auf dem Stuhl vor. Das Eis seiner baltischen Augen scheint plötzlich zu tauen.

»War er heroinsüchtig?« Der Tonfall des Russen ist kaum für eine Frage geeignet, und als Landsman den Einwurf nicht sofort verneint, fügt er hinzu: »Frank.« Er spricht den Namen amerikanisch aus, mit langem stechendem Vokal und einem schattenlosen r. »Oh nein.«

»Frank«, stimmt Velvel zu.

»Ich —« Der Russe sackt zusammen, spreizt die Knie, lässt die Hände baumeln. »Detectives, darf ich Ihnen sagen etwas?«, fragt er. »Manchmal habe ich einen wahrhaften Hass auf diese dürftige Ersatzwelt.«

»Erzählen Sie uns von Frank!«, sagt Berko. »Sie mochten ihn.«

Der Russe hebt die Schultern, seine Augen vereisen wieder.

»Ich mag niemanden«, sagt er. »Aber wenn Frank kommt herein, ich laufe immerhin nicht schreiend hinaus zur Tür. Er ist lustig. Kein schöner Mann. Aber schöne Stimme. Ernste Stimme. Wie der Mann im Radio, der ernste Musik spielt. Um drei Uhr nachts, erzählt von Schostakowitsch. Aber er sagt Sachen mit ernste Stimme, die sind lustig. Alles, was er sagt, ist immer eine kleine Kritik. Wie dein Haar ist geschnitten, wie hässlich ist deine Hose, dass Velvel immer fährt auf, wenn ein Mensch spricht von seiner Frau.«

»Das stimmt«, sagt Velvel. »Das tue ich.«

»Zieht dich immer auf, aber ich weiß nicht, warum, du bist nicht böse.«

»Weil du fühlst, dass er zu sich selbst noch härter ist«, sagt Velvel.

»Wenn du spielst gegen ihn, auch wenn er gewinnt jedes Mal, hast du das Gefühl, du spielst besser gegen ihn als gegen die Arschlöcher im Club«, sagt der Russe. »Frank ist nie Arschloch.«

»Meyer«, sagt Berko leise. Er lässt die Flaggen seiner Augenbrauen zum Nachbartisch wehen. Sie haben Zuhörer.

Landsman dreht sich um. Zwei Männer sitzen an einem Spiel in der Anfangsphase. Einer trägt die moderne Jacke, Hose und den Vollbart eines Lubawitscher Juden. Der Bart ist dicht und schwarz, wie mit einem weichen Bleistift gezeichnet. Eine ruhige Hand hat ein schwarzes, mit schwarzer Seide abgesetztes Velourskäppchen auf sein schwarzes Haargewirr gesetzt. Sein dunkelblauer Mantel und der blaue Filzhut hängen an einem Haken an der verspiegelten Wand hinter ihm. Das Mantelfutter und das Etikett des Huts spiegeln sich im Glas. Erschöpfung verdunkelt die Unterlider seiner Augen; glühende Augen, träge und traurig. Sein Gegner ist ein Bobover mit langer Robe, Kniehose, weißen Strümpfen und Pantoffeln. Seine Haut ist so blass wie eine Seite im Thorakommentar. Sein Hut thront auf seinem Schoß, ein schwarzer Kuchen auf einem schwarzen Teller. Flach wie eine aufgenähte Tasche ruht die Jarmulke auf seinem kurz geschorenen Hinterkopf. Für ein nicht durch Polizeiarbeit ernüchtertes Auge könnten die beiden Männer in das diffuse Leuchten ihres Spiels so versunken sein wie jedes andere Patzerpärchen im Einstein. Doch Landsman würde hundert Dollar wetten, dass keiner von beiden weiß, wer am Zuge ist. Sie haben jedem Wort am Nachbartisch gelauscht, und sie lauschen auch jetzt.

Berko geht zum Tisch auf der anderen Seite von Velvel und dem Russen. Er ist leer. Berko hebt einen Wiener Stuhl mit zerschlissenem Rohrgeflecht hoch, schwingt ihn herum und stellt ihn zwischen den Tisch mit den Schwarzhüten und den Tisch, an dem der Russe gerade Velvel bezwingt. Auf seine eindrucksvolle Fleischklopsart nimmt Berko Platz, spreizt die Beine und wirft die Mantelschöße nach hinten, so als wolle er sich alle Anwesenden zum Festmahl vornehmen. Er setzt seinen Homburg ab, streicht über die Rundung der Krone. Sein Indianerhaar ist dicht und glänzend, seit Neuestem silbern durchwoben. Graues Haar lässt Berko weiser und freundlicher aussehen, eine Wirkung, die auszunutzen er nicht zögert, obwohl er wirklich ziemlich weise und eigentlich ganz freundlich ist. Der Kaffeehausstuhl fürchtet sich vor dem Umfang und Umriss von Berkos Hinterbacken.

»Hü«, sagt Berko zu den Schwarzhüten. Er reibt die Handflächen aneinander, dann legt er sie auf die Oberschenkel. Dieser Mann braucht nur noch eine Serviette im Kragen, eine Gabel und ein Messer. »Wie geht’s?«

Mit dem Talent und der Entschlossenheit schlechtester Schauspieler blicken die Schwarzhüte erstaunt auf.

»Wir wollen keinen Ärger«, sagt der Lubawitscher.

»Mein Lieblingssatz in der jiddischen Sprache«, sagt Berko aufrichtig. »Wie wäre es, wenn Sie sich an unserer kleinen Unterhaltung beteiligten? Erzählen Sie uns von Frank!«

»Wir kannten ihn nicht«, sagt der Lubawitscher. »Was für ein Frank?«

Der Bobover sagt nichts.

»Freund Bobover«, sagt Landsman freundlich. »Ihr Name!«

»Ich heiße Saltiel Lapidus«, sagt der Bobover. Er hat mädchenhafte, scheue Augen. Er verschränkt die Hände auf dem Schoß, auf seinem Hut. »Und ich weiß nichts über niemanden.«

»Haben Sie mit diesem Frank gespielt? Kannten Sie ihn?«

Saltiel Lapidus schüttelt schnell den Kopf. »Nein.«

»Doch«, sagt der Lubawitscher. »Er war uns bekannt.«

Wütend funkelt Lapidus seinen Freund an, der Lubawitscher blickt zur Seite. Landsman versteht, was dahintersteckt. Frommen Juden ist das Schachspiel erlaubt, als einziges Spiel sogar am Sabbat. Doch der Einstein-Schachclub ist eine streng weltliche Einrichtung. Der Lubawitscher hat den Bobover an einem Freitagmorgen in diesen ungeweihten Tempel geführt, obwohl der Sabbat bevorsteht und beide Besseres zu tun hätten. Er sagte, es sei schon in Ordnung, was könne es denn schaden? Das sieht man ja jetzt.

Landsman ist neugierig, sogar gerührt. Eine Freundschaft über die Grenzen der Konfessionen hinweg ist seiner Erfahrung nach kein geläufiges Phänomen. Bisher fand Landsman, dass, abgesehen von Homosexuellen, nur Schachspieler eine verlässliche Möglichkeit gefunden haben, mit Leidenschaft, aber ohne verhängnisvolle Gewalt den Golf zu überbrücken, der alle Männer voneinander trennt.

»Ich habe ihn hier gesehen«, verkündet der Lubawitscher, die Augen auf den Freund gerichtet, wie um ihm zu versichern, dass sie nichts zu befürchten haben. »Diesen sogenannten Frank. Vielleicht habe ich ein- oder zweimal gegen ihn gespielt. Meiner Meinung nach war er ein überaus begabter Spieler.«

»Verglichen mit dir, Fishkin«, sagt der Russe, »ist ein Affe Raul Capablanca.«

»Sie«, sagt Landsman auf eine Eingebung hin mit ruhiger Stimme zu dem Russen. »Sie wussten, dass er heroinabhängig war. Woher?«

»Detective Landsman«, sagt der Russe halb tadelnd. »Erkennen Sie mich nicht?«

Landsman dachte, es sei eine Eingebung, dabei war es nur eine falsch abgelegte Erinnerung.

»Vassily Shitnovitzer«, sagt Landsman. Es ist gar nicht so lange her — ein Dutzend Jahre —, dass er einen jungen Russen dieses Namens wegen Verabredung zum Heroinverkauf verhaftete. Ein Einwanderer, ehemaliger Sträfling, ungeschoren aus dem Chaos gespült, das auf den Zusammenbruch der Dritten Russischen Republik folgte. Ein Mann mit gebrochenem Jiddisch war er, dieser Heroindealer, die blassen Augen zu eng beieinander. »Und Sie wussten die ganze Zeit Bescheid.«

»Sie sind ein hübscher Kerl. Schwer zu vergessen«, sagt Shitnovitzer. »Und immer so schick angezogen.«

»Shitnovitzer hat lange in Butyrka gesessen«, berichtet Landsman Berko von dessen Haft im berüchtigten Moskauer Gefängnis. »Netter Kerl. Vertickte seinen Stoff hier in der Küche des Cafés.«

»Sie haben Frank Heroin verkauft?«, sagt Berko zu Shitnovitzer.

»Ich bin im Ruhestand«, sagt Vassily Shitnovitzer und schüttelt den Kopf. »Vierundsechzig Monate in Ellensburg, Washington. Schlimmer als Butyrka. Den Kram ich rühre nicht mehr an, Detectives, und selbst wenn, ihr könnt mir glauben, gehe ich nicht in Franks Nähe. Bin ich vielleicht verrückt, aber bin ich nicht lebensmüde.«

Landsman spürt, wie seine Reifen blockieren und rutschen. Sie sind gerade gegen etwas geprallt.

»Warum nicht?«, sagt Berko freundlich und weise. »Warum sind Sie nicht nur ein Verbrecher, sondern lebensmüde, wenn Sie Smack an Frank verkaufen, Mr. Shitnovitzer?«

Es erklingt ein leichtes, entschlossenes Klirren, etwas hohl, wie aufeinanderbeißende falsche Zähne. Velvel kippt seinen König um.

»Ich gebe auf«, sagt er. Er nimmt die Brille ab, lässt sie in die Tasche gleiten und steht auf. Er hat einen Termin vergessen. Er kommt zu spät zur Arbeit. Seine Mutter ruft ihn auf der Ultraschallfrequenz an, die die Regierung für jüdische Mütter bei bevorstehendem Mittagessen reserviert hat.

»Hinsetzen«, sagt Berko, ohne sich umzudrehen. Der Junge setzt sich hin.

Ein Krampf zieht Shitnovitzers Eingeweide zusammen; so sieht es zumindest für Landsman aus.

»Schlechtes Masel«, sagt Shitnovitzer schließlich.

»Schlechtes Masel«, wiederholt Landsman und gibt dabei seinen Zweifeln und seiner Enttäuschung Ausdruck.

»Wie ein Mantel. Ein Hut voll schlechtem Masel auf dem Kopf. So viel schlechtes Masel, dass man ihn nicht wollte berühren, nicht wollte atmen dieselbe Luft.«

»Ich habe mal gesehen, wie er fünf Partien gleichzeitig spielte«, bringt Velvel hervor. »Für hundert Dollar. Gewann alle. Dann kotzte er draußen in die Gasse.«

»Bitte, die Herren«, sagt Saltiel Lapidus mit gequälter Stimme. »Wir haben nichts damit zu tun. Wir wissen nichts über diesen Mann. Heroin. In die Gasse kotzen. Bitte, wir sind schon unangenehm berührt genug.«

»Peinlich berührt«, behauptet der Lubawitscher.

»Es tut uns leid«, schließt Lapidus. »Und wir haben nichts zu sagen. Also dürfen wir bitte gehen?«

»Sicher«, sagt Berko. »Entfernen Sie sich. Schreiben Sie uns einfach Ihre Namen und Adressen auf, bevor Sie gehen.«

Er holt sein sogenanntes Notizbuch hervor, ein schweres kleines Papierbündel, zusammengehalten von einer übergroßen Büroklammer. Wann auch immer man hineinsieht, stellt man fest, dass es Visitenkarten, Tidentabellen, Aufgabenlisten, chronologische Verzeichnisse aller englischen Könige, um drei Uhr morgens hingekritzelte Theorien, Fünfdollarnoten, hastig notierte Rezepte enthält oder gefaltete Servietten mit der Skizze einer Gasse in Süd-Sitka, wo eine Nutte ermordet wurde. Berko blättert durch sein Notizbuch, bis er einen leeren Karteikartenschnipsel findet, den er Fishkin reicht, dem Lubawitscher. Er hält ihm seinen Bleistiftstummel hin, aber, nein danke, Fishkin hat einen eigenen Stift. Er notiert seinen Namen und seine Adresse und die Nummer seines Shoyfer, dann gibt er die Karte an Lapidus weiter, der es ihm nachtut.

»Bloß«, sagt Fishkin, »rufen Sie uns nicht an. Kommen Sie nicht zu uns nach Hause. Ich bitte Sie darum. Wir haben nichts zu sagen. Es gibt nichts über diesen Juden, das wir Ihnen erzählen könnten.«

Jeder Nos im Distrikt lernt, das Schweigen der Schwarzhüte zu respektieren. Es ist eine Weigerung, die sich ausbreiten, anhäufen und vertiefen kann, bis sie wie ein Nebel über einer gesamten Schwarzhutgegend liegt. Schwarzhüte verfügen über sachkundige Anwälte, politischen Einfluss und großmäulige Zeitungen, und sie können einen glücklosen Inspector und selbst den Polizeichef in einen gewaltigen Schwarzhut-Gestank einhüllen, der so lange haftet, bis der Zeuge oder der Verdächtige auf freien Fuß gesetzt und die Anklage fallengelassen wird. Landsman müsste schon die volle Unterstützung seiner Abteilung hinter sich haben oder zumindest die Genehmigung seines Vorgesetzten, um Lapidus und Fishkin auf den heißen Stuhl im Modul der Mordkommission zu laden.

Er riskiert einen Blick hinüber zu Berko, und Berko riskiert ein schwaches Kopfschütteln.

»Gehen Sie«, sagt Landsman.

Wie ein von seinen Eingeweiden besiegter Mann richtet Lapidus sich wankend auf. Den Mantel und die Überschuhe anzuziehen, bringt er mit zur Schau gestellter angeschlagener Würde über die Bühne. Den Eisendeckel von Hut senkt er zentimeterweise auf seinen Kopf, so wie man eine Schachtabdeckung herunterlässt. Mit betrübtem Blick sieht er zu, wie Fishkin die ungespielten Eröffnungen dieses Morgens in ein Holzkästchen wischt. Seite an Seite schlängeln sich die Schwarzhüte zwischen den Tischen hindurch, vorbei an den anderen Spielern, die kurz aufsehen. An der Tür knickt das linke Bein von Saltiel Lapidus ein. Er sackt zur Seite und streckt die Hand aus, um sich an der Schulter seines Freundes festzuhalten. Der Boden unter seinen Füßen ist glatt und nackt. So weit Landsman sehen kann, gibt es nichts, an dem sein Schuh hätte hängenbleiben können.

»Ich habe noch nie einen so traurigen Bobover gesehen«, stellt er fest. »Der Jude hatte Tränen in den Augen.«

»Willst du ihm noch ein bisschen zusetzen?«

»Nur ein, zwei Zentimeter.«

»Weiter kommst du bei denen eh nicht«, sagt Berko.

Sie eilen an den Patzern vorbei: an einem schäbigen Geiger aus dem Sitka Odeon, einem Fußpfleger, dessen Konterfei auf Busbänken klebt. Berko stürmt hinter Lapidus und Fishkin durch die Tür. Landsman will ihm folgen, doch da zupft etwas Wehmütiges an seinem Gedächtnis, der Hauch einer Rasierwassermarke, die niemand mehr benutzt, der plärrende Refrain eines Lieds, das in einem August vor fünfundzwanzig Sommern eine bescheidene Berühmtheit erlangte. Landsman schaut zum Tisch, der der Tür am nächsten ist.

Zusammengeballt wie eine Faust sitzt dort ein alter Mann vor einem Schachbrett und blickt auf einen leeren Stuhl. Er hat alle Figuren auf ihre Ausgangspositionen gestellt und Weiß gewählt oder sich selbst zugewiesen. Wartet auf das Auftauchen seines Gegners. Ein glänzender Schädel, umrahmt von gräulichen Haarbüscheln, wie Taschenfussel. Der untere Teil seines Gesichts ist durch den gesenkten Kopf verborgen. Sichtbar für Landsman sind allein seine hohlen Schläfen, der Heiligenschein aus Haarschuppen, der knochige Nasenrücken, die Furchen auf seiner Stirn wie das Muster, das Gabelzinken in einem Kuchenteig hinterlassen. Und die zornig hochgezogenen Schultern, die das Problem auf dem Schachbrett begreifen, eine brillante Schlacht planen. Es waren einmal breite Schultern, die Schultern eines Helden oder Klavierträgers.

»Mr. Litvak«, sagt Landsman.

Litvak wählt den Springer seines Königs, so wie ein Maler einen Pinsel aussucht. Seine Hände sind noch immer wendig und sehnig. Er vollführt einen geschwungenen Zug zur Mitte des Bretts; schon immer bevorzugte er die hypermoderne Spielweise. Beim Anblick von Litvaks Händen und der Réti-Eröffnung wird Landsman von seiner alten Angst vor Schach überwältigt, ja fast umgeworfen, von der Monotonie, der Gereiztheit, der Schande jener Tage, die er damit verbrachte, am Schachbrett im Café Einstein das Herz seines Vaters zu brechen.

Lauter sagt er: »Alter Litvak!«

Litvak blickt auf, kurzsichtig und verwirrt. Er war der Mann für einen Faustkampf, er war eine Walze, ein Jäger, ein Fischer, ein Soldat. Wenn er nach einer Schachfigur griff, sah man seinen dicken goldenen Ranger-Ring von der Armee aufblitzen. Jetzt wirkt Litvak geschrumpft, erschöpft, ein Märchenkönig, vom Fluch des ewigen Lebens verwandelt zu einer Grille in der Kaminasche. Allein die geschwungene Nase ist als Testament der ehemaligen Erhabenheit seines Gesichts geblieben. Beim Anblick dieses Wracks von Mann kommt Landsman der Gedanke, dass sein Vater aller Wahrscheinlichkeit nach inzwischen ohnehin tot wäre, wenn er sich nicht das Leben genommen hätte.

Litvak macht eine ungeduldige oder auffordernde Geste. Aus seiner Brusttasche zieht er einen marmorierten schwarzen Block und einen dicken Füller. Sein Bart ist so sauber gestutzt wie immer. Ein Hahnentrittsakko, Bootsschuhe mit Quasten, ein Einstecktuch, ein durch die Aufschläge gezogenes Band. Der Mann hat seine Sportlichkeit nicht verloren. In den Falten seines Halses entdeckt Landsman eine glänzende Narbe, ein weißliches, leicht ins Rosa spielendes Komma. Als Litvak mit seinem dicken Waterman in den Block schreibt, kommt sein Atem in geduldigen kleinen Windstößen durch die große, fleischige Nase. Das Kratzen der Feder ist alles, was ihm als Stimme geblieben ist. Er reicht Landsman den Block. Seine Schrift ist gleichmäßig und sauber.

Kenne ich Sie

Sein Blick wird schärfer, er legt den Kopf zur Seite, schätzt Landsman ab, liest in seinem zerknitterten Anzug, seinem runden Filzhut, seinem dem Hund Hershel ähnlichen Gesicht, kennt Landsman, ohne ihn zu erkennen. Er nimmt den Block zurück und hängt ein Wort an seine Frage.

Kenne ich Sie Detective

»Meyer Landsman«, sagt Landsman und reicht dem Alten eine Visitenkarte. »Sie kannten meinen Vater. Ich kam von Zeit zu Zeit mit ihm her. Als der Club noch im Café war.«

Die rot geränderten Augen weiten sich. Mr. Litvak vertieft seine Landsman-Studie, sucht nach einem Beweis für diese unglaubliche Behauptung. Verwunderung mischt sich mit Schrecken. Er schlägt eine neue Seite seines kleinen schwarzen Blocks auf und verkündet seinen Befund in der zur Diskussion stehenden Angelegenheit.

Unmöglich Auf gar keinen Fall kann Meyerle Landsman so ein dummer alter Zwiebelsack sein

»Leider doch«, sagt Landsman.

Was machst du hier furchtbarer Schachspieler

»Ich war doch noch ein Kind«, sagt Landsman und erschrickt über das knirschende Selbstmitleid in seiner Stimme. Was für ein schrecklicher Ort, was für ein elender Mensch, was für ein grausames, sinnloses Spiel. »Mr. Litvak, Sie kennen nicht zufällig jemanden, der hier manchmal spielt, so nehme ich an, einen Juden, der vielleicht Frank genannt wird?«

Ja den kenne ich hat er was angestellt

»Wie gut kennen Sie ihn?«

Nicht so gut wie ich gerne würde

»Wissen Sie, wo er wohnt, Mr. Litvak? Haben Sie ihn kürzlich gesehen?«

Ist Monate her sag bitte nicht du bist von der Mordkomm.

»Nochmals«, sagt Landsman, »leider doch.«

Der alte Mann blinzelt. Sollte er schockiert oder betrübt über seine Rückschlüsse sein, so ist es nicht an seinem Gesicht oder seiner Körpersprache abzulesen. Doch andererseits würde ein Mann, der seine Gefühle nicht im Griff hat, mit der Réti-Eröffnung nicht allzu weit kommen. Vielleicht ist das Wort, das er als Nächstes in seinen Block schreibt, ein klein wenig verwackelt.

Überdosis?

»Erschossen«, sagt Landsman.

Die Tür des Schachclubs öffnet sich krächzend, und zwei grau und kalt wirkende Patzer kommen herein. Der eine ist eine zwanzig Jahre alte, hagere Vogelscheuche mit einem gestutzten goldenen Bart und einem zu klein geratenen Anzug, der andere ein kleiner rundlicher Kerl, dunkel und lockenbärtig, in einem viel zu großen Anzug. Sie haben einen ungleichmäßigen Bürstenschnitt, wie selbstverstümmelt, und tragen kleine, schwarze, gehäkelte Jarmulkes. Kurz zögern sie auf der Schwelle, beschämt, und schauen Mr. Litvak an, als erwarteten sie eine Standpauke.

Da spricht der alte Mann, er saugt die Worte ein, seine Stimme der Geist eines Dinosauriers. Es ist ein furchtbares Geräusch, eine Fehlfunktion der Luftröhre. Kurz nachdem es verklungen ist, wird Landsman klar, was er gesagt hat: »Meine Großneffen.«

Litvak winkt sie herbei und reicht Landsmans Visitenkarte an den Untersetzten weiter.

»Freut mich, Detective«, sagt der Untersetzte mit leichtem Akzent, vielleicht Australisch. Er nimmt einen freien Stuhl, wirft einen Blick aufs Schachbrett und setzt fachkundig seinen Königsspringer, »’tschuldigung, Onkel Alter. Der da kam wieder zu spät, wie immer.«

Der Magere hängt zurück, die Hand an der offenen Tür des Clubs.

»Landsman!«, ruft Berko aus der Gasse, wo er Fishkin und Lapidus zwischen den Müllcontainern eingefangen hat. Für Landsman sieht es aus, als heule Lapidus wie ein kleines Kind. »Was ist los, Mann?«

»Komme schon«, sagt Landsman. »Ich muss gehen, Mr. Litvak.« Kurz berührt er Knochen, Horn und Leder der alten Hand. »Wo kann ich Sie erreichen, falls ich nochmal mit Ihnen sprechen muss?«

Litvak notiert eine Adresse und reißt das Blatt aus dem Block.

»Madagaskar?«, sagt Landsman und liest den Namen einer unvorstellbaren Straße in Tananarive. »Das ist mal was Neues.« Beim Anblick der fernen Adresse, beim Gedanken an das Haus in der Rue Jean Bart verspürt Landsman seinen deutlich schwindenden Willen, die Sache mit dem toten Jid aus 208 noch länger zu verfolgen. Was macht es schon für einen Unterschied, ob er den Mörder fasst? In einem Jahr werden Juden Afrikaner sein und dieser alte Ballsaal wird voll mit tanzenden Nichtjuden sein und jeder Fall, der je von Polizisten in Sitka aufgenommen oder abgeschlossen wurde, wird in Schrank 9 abgelegt sein. »Wann brechen Sie auf?«

»Nächste Woche«, sagt der untersetzte Großneffe, und es klingt etwas zweifelnd.

Der alte Mann stößt noch ein grässliches reptilisches Krächzen aus, das jedoch niemand versteht. Er schreibt und schiebt den Block seinem Großneffen zu.

»Der Mensch plant«, liest der junge Mann vor, »und Gott lacht.«

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