6.

Auf dem Weg zu Berko hängt Landsman den Erinnerungen an jene alten schachspielenden Jids nach, die vornübergebeugt in der hintersten Ecke des Café Einstein saßen. Es ist Viertel nach sechs in der Früh, auf seiner Uhr. Nach dem Himmel, der leeren Hauptverkehrsstraße und dem Knoten der Furcht in seinem Magen zu urteilen, ist es mitten in der Nacht. So dicht am Polarkreis und an der Wintersonnenwende dauert es noch mindestens zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang.

Landsman sitzt am Steuer eines Chevrolet Chevelle Super Sport von 1971, den er vor zehn Jahren in einem Anflug von nostalgischem Optimismus gekauft hat und seitdem fährt, auch wenn die unsichtbaren Mängel des Wagens nicht mehr von seinen eigenen zu unterscheiden sind. Beim ’71er-Modell wurden die beiden Scheinwerferpaare durch ein einziges Paar ersetzt. Eine der Birnen ist durchgebrannt. Wie ein Zyklop tastet sich Landsman die Promenade entlang. Vor ihm erheben sich die Apartmenttürme der Shvartser-Yam auf ihrer künstlich angelegten Landzunge inmitten des Sitka-Sunds, sie kauern in der Dunkelheit wie von einem Wasserwerfer zusammengetriebene Gefangene.

Mitte der Achtzigerjahre, in den euphorischen Anfangstagen des legalen Casinobetriebs, bauten russische Schtarker Shvartser-Yam auf potenziellem Erdbebengelände. Time-share-Apartments, Ferienunterkünfte und Junggesellenwohnungen, das war die Idee, dazu im Zentrum des Geschehens das Grand-Yalta-Casino mit seinen überfüllten Tischen. Doch das legale Glücksspiel ist passe, es wurde vom Gesetz zur Erhaltung traditioneller Werte verboten, und das Casinogebäude beherbergt heute einen KosherMart, ein Walgreens und ein Outlet-Center von Big Macher. Die Schtarker finanzieren wieder illegale Lotterien, Wettstuben und Würfelspiele. Die Urlauber und lockeren Typen sind einer Bevölkerung aus zwielichtigen Gestalten der höheren Klasse, russischen Immigranten, einer Prise ultraorthodoxer Juden und einer Gruppe bürgerlicher Semikünstler gewichen, denen die Atmosphäre ruinierter Festlichkeit gefällt, die auf dieser Gegend liegt wie ein Streifen Lametta über dem Zweig einer nackten Tanne.

Die Familie Taytsh-Shemets wohnt im dreiundzwanzigsten Stock des Dnyeper. Das Dnyeper ist so rund wie ein Stapel Pastetendosen. Viele Bewohner verschmähen den schönen Blick auf den eingestürzten Kegel von Mt. Edgecumbe, den leuchtenden Safety Pin und die Lichter der Untershtot, denn sie haben ihre geschwungenen Balkone mit Sturmglas und Jalousien versehen, um einen zusätzlichen Raum zu gewinnen. So auch die Taytsh-Shemets, als das Kind kam — das erste. Jetzt schlafen die beiden kleinen Taytsh-Shemets dort draußen, verstaut auf dem Balkon wie ausrangierte Skier.

Landsman stellt seinen Super Sport hinter dem Müllcontainer in der Parklücke ab, die er inzwischen als seine betrachtet, auch wenn er vermutet, dass ein Mann besser keine zärtlichen Gefühle für eine Parklücke hegen sollte. Für das Auto einen Platz zu haben, der dreiundzwanzig Stockwerke unter einer immer gültigen Einladung zum Frühstück liegt, sollte im Herzen eines Mannes nie als Heimkehr gelten.

Er ist einige Minuten vor halb sieben da, und obwohl er ziemlich sicher ist, dass im Haushalt Taytsh-Shemets bereits alle auf den Beinen sind, entscheidet er sich für die Treppe. Das Treppenhaus des Dnyeper stinkt nach Seeluft, Kohl und kaltem Beton. Oben angekommen, zündet Landsman eine Papiros an, um sich für seinen Fleiß zu belohnen, bleibt auf der Fußmatte der Taytsh-Shemets’ stehen und leistet der Mesusa Gesellschaft. Einen Lungenflügel hat er bereits herausgehustet, der zweite ist unterwegs, als Ester-Malke Taytsh die Tür öffnet. In der Hand hält sie einen Schwangerschaftsteststreifen mit einem Tropfen Flüssigkeit auf der ausschlaggebenden Stelle. Das muss Urin sein. Als sie merkt, dass Landsman den Streifen registriert, lässt sie ihn kühl in der Tasche ihres Bademantels verschwinden.

»Du weißt, dass wir eine Klingel haben, oder?«, sagt ihre Stimme hinter einem wirren Vorhang ziegelbraunen Haars, das zu fein ist für die Bobfrisur, die sie immer trägt. Es hat die Angewohnheit, sich über ihr Gesicht zu ergießen, besonders wenn sie schlaue Sprüche von sich gibt. »Ich meine, husten geht natürlich auch.«

Sie lässt die Tür offen und Landsman auf der dicken Kokosmatte mit der Aufschrift »HAU AB« stehen. Beim Eintreten berührt Landsman die Mesusa mit zwei Fingern und küsst sie mechanisch. So macht man es, wenn man gläubig ist wie Berko oder ein sarkastisches Arschloch wie Landsman. Er hängt seinen Hut und den Mantel an ein Elchgeweih neben der Wohnungstür. Dann folgt er Ester-Malkes dürrem Hintern im weißen Baumwollbademantel durch den Flur in die Küche. Die Küche ist schmal und wie eine Kombüse eingerichtet: Herd, Spüle und Kühlschrank an der einen, die Schränke an der anderen Seite. Eine Frühstückstheke mit zwei Hockern bildet den Übergang zum Wohnesszimmer. Dampf ringelt sich in Comic-Eisenbahn-Wölkchen aus einem Waffeleisen auf der Arbeitsplatte. Die Kaffeemaschine hustet und spuckt wie ein angeschlagener jüdischer Polizist nach zehn Treppen.

Landsman nähert sich seinem Lieblingshocker und bleibt daneben stehen. Aus der Tasche seines Tweedsakkos holt er ein Miniaturschachspiel und packt es aus. Er hat es im 24-Stunden-Drugstore am Korczak-Platz gekauft.

»Der große Dicke noch im Schlafanzug?«, fragt er.

»Zieht sich an.«

»Der kleine Dicke?«

»Sucht ’ne Krawatte aus.«

»Und der andere, wie heißt er nochmal?« Nach der jüngsten Mode, Nachnamen zu Vornamen umzuschmieden, heißt der kleine Spross Feingold Taytsh-Shemets. Genannt wird er Goldy. Vor vier Jahren hatte Landsman die Ehre, Goldys kleine Beinchen festzuhalten, während sich ein uralter Jude mit einem Messer auf seine Vorhaut stürzte. »Seine Majestät.«

Als Antwort nickt Ester-Malke in Richtung Wohnesszimmer.

»Immer noch krank?«, fragt Landsman.

»Schon besser heute.«

Landsman geht um die Frühstückstheke herum und vorbei an der Glasplatte des Esstischs zur großen weißen Couchkombination, um sich anzusehen, was das Fernsehen mit seinem Patenkind anstellt.

»Guck mal, wer hier ist«, sagt er.

Goldy trägt seinen Eisbär-Schlafanzug — absolut angesagter Retrochic für jedes jüdische Kind in Alaska. Eisbären, Schneeflocken, Iglus und die übrige nordische Metaphorik, die in Landsmans Kindertagen so allgegenwärtig war — das alles ist wieder hochmodern. Nur scheint es diesmal ironisch gemeint zu sein. Schneeflocken, ja, die fanden die Juden hier vor, doch dank der Treibhausgase gibt es davon nun messbar weniger als in den alten Zeiten. Eisbären hingegen gar keine. Keine Iglus. Keine Rentiere. Eigentlich nur viele zornige Indianer, Nebel und Regen und ein fünfzig Jahre anhaltendes Gefühl, fehl am Platz zu sein, so durchdringend, so tief in den Organismus der Juden getrieben, dass es überall auftaucht, selbst auf den Pyjamas der Kinder.

»Gehst du heute zur Arbeit, Goldele?«, fragt Landsman. Er drückt den Handrücken gegen die Stirn des Jungen. Sie ist angenehm kühl. Goldys Jarmulke mit Shnapish, dem Hund, sitzt schief, Landsman streicht sie glatt und rückt die Haarklemme zurecht. »Geht’s auf Verbrecherjagd?«

»Klar, Onkel Meyer.«

Landsman hält dem Jungen die Hand hin, und ohne aufzusehen, schiebt Goldy sein trockenes kleines Pfötchen hinein. Ein blaues Rechteck schwimmt auf dem feuchten Film seiner dunkelbraunen Augen. Landsman hat die Sendung aus dem Schulfernsehen schon einmal zusammen mit seinem Patenkind geschaut. Wie neunzig Prozent aller Sendungen kommt sie aus dem Süden und wird jiddisch synchronisiert. Sie handelt von den Abenteuern zweier Kinder mit jüdischen Namen, die offensichtlich keine Eltern haben und aussehen, als wären sie halbe Indianer. Sie besitzen die magische Schuppe eines Drachens aus Kristall, mit der sie sich wünschen können, in das Land der Pastelldrachen zu reisen, die sich nur durch ihre Farbe und ihr Maß an Blödheit voneinander unterscheiden. Es dauert nicht lange, da verbringen die Kinder immer mehr Zeit mit der magischen Drachenschuppe, bis sie eines Tages in das Land der Regenbogenidiotie reisen und nicht mehr zurückkehren. Ihre Leichen werden vom Nachtportier einer billigen Unterkunft gefunden, jedes Kind hat eine Kugel im Hinterkopf. Vielleicht, denkt Landsman, geht durch die Übersetzung doch etwas verloren.

»Willst du immer noch ein Nos werden, wenn du einmal groß bist?«, fragt Landsman. »So wie dein Papa und Onkel Meyer?«

»Ja«, sagt Goldy, ohne Begeisterung. »Auf jeden Fall.«

»Guter Junge!«

Sie geben sich erneut die Hand. Dieses Gespräch ist für Landsman das Gegenstück zum Küssen der Mesusa: Anfangs macht man es aus Spaß, am Ende ist es ein Band, an dem man festhält.

»Fängst du mit Schach an?«, fragt Ester-Malke, als er in die Küche zurückkehrt.

»Gott bewahre!«, sagt Landsman. Er klettert auf den Hocker und plagt sich mit den winzigen Bauern, Springern und Königen seines Reisesets ab, arrangiert sie wie auf dem Brett, das der sogenannte Emanuel Lasker zurückließ. Landsman hat Schwierigkeiten, die Figuren auseinanderzuhalten, und immer wenn er sich eine vors Gesicht hält, um sie besser zu erkennen, lässt er sie fallen.

»Guck mich nicht so an!«, sagt er versuchsweise zu Ester-Malke, ohne sie anzusehen. »Das kann ich nicht leiden.«

»Verdammt, Meyer«, sagt sie mit Blick auf seine Hände. »Du bist ganz schön tatterig.«

»Hab die ganze Nacht nicht geschlafen.«

»Aha.«

Die Sache mit Ester-Malke ist die, dass sie, bevor sie wieder zur Schule ging, dann Sozialarbeiterin wurde und Berko heiratete, sich eines kurzen, aber beachtlichen Werdegangs als Versagerin aus Süd-Sitka erfreute. Zu ihrer Vergangenheit gehören ein paar Schmalspurganoven, eine bereute Tätowierung auf dem Bauch und eine Brücke im Kiefer als Souvenir des letzten Mannes, der sie misshandelte. Landsman kennt Ester-Malke länger als Berko, denn er lochte sie wegen Vandalismus ein, als sie noch zur Highschool ging. Aus Intuition und Gewohnheit weiß Ester-Malke, wie man einen Versager behandelt, doch spart sie sich das Vorwurfsvolle, das in ihr hochkommt, wenn sie ihre eigene vergeudete Jugend betrachtet. Sie geht zum Kühlschrank und holt eine Flasche Bruner Adler heraus, ploppt sie auf und reicht sie Landsman. Er rollt sie über seine schlaflosen Schläfen und nimmt einen großen Schluck.

»Und?«, sagt er, sich augenblicklich besser fühlend. »Bist du drüber?«

Sie setzt eine halb theatralische, schuldbewusste Miene auf, fühlt nach dem Schwangerschaftsteststreifen, lässt dann aber die Hand in der Tasche und umfasst den Streifen, ohne ihn herauszuholen. Da Ester-Malke das Thema ein- oder zweimal angeschnitten hat, weiß Landsman, dass sie besorgt ist, er könne sie und Berko wegen ihres erfolgreichen Zuchtprogramms und ihrer beiden hübschen Söhne beneiden. Das tut Landsman tatsächlich, manchmal voller Bitterkeit. Aber wenn sie davon spricht, bemüht er sich normalerweise, es zu leugnen.

»Scheiße«, sagt er, als ein Läufer unter den Barhocker hopst und unterm Schrank verschwindet.

»War das ein schwarzer oder ein weißer?«

»Ein schwarzer. Ein Läufer. Scheiße. Jetzt ist er weg.«

Ester-Malke geht zum Gewürzregal, schnürt den Bademantel enger und wägt ihre Möglichkeiten ab.

»Hier«, sagt sie. Sie holt ein Glas mit Schokoladenstücken heraus, dreht es auf, schüttet ein Stück auf ihre Handfläche und reicht es Landsman. »Nimm das.«

Landsman kniet unter der Frühstückstheke. Er findet den fehlenden Läufer und schafft es, ihn in das Loch bei h6 zu stecken. Ester-Malke stellt das Glas wieder in den Schrank und kehrt mit der rechten Hand zum Geheimnis in ihrer Bademanteltasche zurück. Landsman isst die Schokolade.

»Weiß Berko Bescheid?«, fragt er.

Ester-Malke schüttelt den Kopf, versteckt sich hinter ihrem Haar.

»Ist nichts«, sagt sie.

»Offiziell nichts?«

Sie zuckt mit den Achseln.

»Hast du noch nicht draufgeguckt?«

»Hab Angst.«

»Wovor hast du Angst?«, fragt Berko und erscheint mit dem kleinen Pinchas Taytsh-Shemets — unweigerlich Pinky genannt — in der rechten Armbeuge in der Küchentür. Vor einem Monat wurde der Kleine mit einem Kuchen und einer Kerze gefeiert. Das heißt, errechnet Landsman, dass der dritte Taytsh-Shemets ungefähr einundzwanzig, zweiundzwanzig Monate nach dem zweiten eintreffen müsste. Und sieben Monate nach der Reversion. Nach sieben Monaten in der unbekannten kommenden Welt. Ein weiterer kleiner Gefangener von Geschichte und Schicksal, ein weiterer potenzieller Messias — denn Messias, sagen die Experten, wird in jede Generation geboren —, der die Segel der wild gewordenen Karavelle der Träume des Propheten Elija füllen soll. Ester-Malkes Hand kommt aus der Tasche, ohne Schwangerschaftstest. Mit erhobener Augenbraue gibt sie Landsman ein Süd-Sitka-Zeichen.

»Sie hat Angst zu hören, was ich gestern gegessen habe«, sagt Landsman. Als Ablenkungsmanöver holt er Laskers Exemplar der 300 Schachpartien aus der anderen Seitentasche seines Sakkos und legt es neben das Schachspiel auf die Theke.

»Geht es um deinen toten Junkie?«, fragt Berko und beäugt das Brett.

»Emanuel Lasker«, sagt Landsman. »Aber das war nur der Name auf dem Meldezettel des Hotels. Wir haben keinerlei Ausweispapiere bei ihm gefunden. Wir wissen noch nicht, wer er wirklich war.«

»Emanuel Lasker. Der Name kommt mir bekannt vor.«

In Anzughose und Hemdsärmeln quetscht sich Berko seitlich in die Küche. Seine Hose ist aus grauer Merinowolle mit Bundfalten vorne und hinten, das Hemd reinweiß. An seinem Hals hängt, hübsch gebunden, eine dunkelblaue Krawatte mit orangefarbenen Tupfen. Die Krawatte ist extralang, die Hose ist weit und wird von dunkelblauen Hosenträgern gehalten, gedehnt durch Umfang und Wölbung seines Bauches. Unter dem Hemd trägt Berko das mit Fäden verzierte Vier-Ecken, und eine schmucke blaue Jarmulke thront auf dem schwarz glänzenden Ginster seines Hinterkopfs, doch auf seinen Wangen will einfach kein Barthaar sprießen. Auf der Gesichtshaut der Männer seiner Familie mütterlicherseits ist kein Barthaar zu finden, zweifellos schon seit der Zeit, als der Rabe alles erschuf (außer der Sonne, die stahl er). Berko ist gläubig, aber auf seine eigene Weise und aus ganz privaten Gründen. Berko Shemets ist ein Minotaurus, und die Welt der Juden ist sein Labyrinth.

Zu den Landsmans im Haus auf der Adler Street kam er an einem Spätfrühlingstag im Jahr 1981, ein watschelndes Riesenbaby, im Sea Monster House des Raben-Clans vom Langhaarstamm bekannt als Johnny Bear, der Jude. In seinen Mukluks brachte er es an jenem Nachmittag auf einen Meter dreiundsiebzig, dreizehn Jahre alt und nur zweieinhalb Zentimeter kleiner als der achtzehnjährige Landsman. Bis zu jenem Augenblick hatte niemand gegenüber Landsman und seiner kleinen Schwester diesen Jungen erwähnt. Jetzt sollte das Kind in dem Zimmer schlafen, das einst Meyers und Naomis Vater als Klein-Flasche für die Endlosschleifen seiner Schlaflosigkeit gedient hatte.

»Wer bist du überhaupt?«, fragte Landsman den Jungen, der sich seitlich ins Wohnzimmer stahl. Er drehte eine Schirmmütze in den Händen und registrierte die Umgebung mit seinem dunklen, alles verzehrenden Blick. Hertz und Freydl standen draußen auf dem Bürgersteig und schrien sich an. Offenbar hatte Landsmans Onkel seiner Schwester gegenüber zu erwähnen versäumt, dass sein Sohn zu ihr ins Haus kommen würde.

»Ich heiße Johnny Bear«, sagte Berko. »Ich gehöre zur Shemets-Kollektion.«

Bis heute ist Hertz Shemets ein bekannter Fachmann für die Kunst- und Gebrauchsgegenstände der Tlingit. Einmal führte ihn dieses Hobby oder dieser Zeitvertreib auf einer Wanderung tiefer und weiter in das Indianerland, als je ein Jude seiner Generation gekommen war. Ja, doch, seine Beschäftigung mit der Kultur der Eingeborenen, seine Reisen in das Indianerland waren eine Trotzreaktion auf seine Tätigkeit bei der Spionageabwehr in den Sechzigern. Aber sie waren mehr als das. Hertz Shemets fühlte sich vom indianischen Leben angezogen. Er lernte, einen Seehund mit einem Stahlhaken durch das Auge zu töten, einen Bär zu schlachten und zu pökeln und den Geschmack von Kerzenfischfett genauso zu lieben wie den von Schmalz. Und er zeugte ein Kind mit Miss Laurie Jo Bear aus Hoonah. Als sie beim sogenannten Synagogen-Aufstand getötet wurde, rief ihr halbjüdischer Sohn, Objekt von Verachtung und Schikane innerhalb des Raben-Clans, seinen ihm kaum bekannten Vater um Hilfe an. Es war ein Zwischenzug, ein überraschendes Manöver in der erwartbaren Entwicklung eines Spiels. Es erwischte Onkel Hertz auf dem falschen Fuß.

»Was hast du vor, willst du ihn etwa wegschicken?«, schrie er Landsmans Mutter an. »Die machen ihm das Leben da oben zur Hölle. Seine Mutter ist tot. Von Juden ermordet.«

Tatsächlich wurden elf Ureinwohner Alaskas bei den Krawallen getötet, die auf die Bombardierung eines Gebetshauses folgten, das eine Gruppe von Juden auf umstrittenem Land erbaut hatte. Auf jenen kleinen Inseln gibt es Bereiche, wo die von Harold Ickes gezeichnete Landkarte zögert und sich auf gepunktete Linien beschränkt. Die meisten Ecken sind zu abgelegen oder gebirgig, um bewohnt zu sein, sie sind das ganze Jahr über gefroren oder überflutet. Aber einige dieser schraffierten Flecken, erlesen, eben und mild, sollten für die Juden in ihrer großen Zahl über die Jahre unwiderstehlich werden. Juden wollen Platz zum Leben. In den Siebzigern begannen einige von ihnen, hauptsächlich Angehörige kleiner orthodoxer Sekten, ihn sich zu nehmen.

Als eine Splittergruppe der Splittergruppe einer Sekte aus Lisianski ein Gebetshaus in St. Cyril erbaute, war das für viele Ureinwohner der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es folgten Demonstrationen, Kundgebungen, Anwälte und dumpfes Gepolter im Kongress, die frechen Juden oben im Norden hätten sich neuerlich über Frieden und Gleichheit hinweggesetzt. Zwei Tage vor der Einsegnung warf jemand — niemand erklärte sich je dafür verantwortlich oder wurde angezeigt — einen doppelten Molotowcocktail durchs Fenster, sodass das Gebetshaus bis auf die Grundmauern niederbrannte. Die Gemeinde und ihre Befürworter schwärmten nach St. Cyril aus, zerstörten Krabbenkörbe, warfen die Fenster des Versammlungssaals der Alaska Native Brotherhood ein und steckten spektakulär einen Schuppen voller Feuerwerkskörper in Brand. Der Fahrer einer Wagenladung zorniger Jids verlor die Kontrolle über sein Auto und raste in das Lebensmittelgeschäft, in dem Laurie Jo an der Kasse saß. Sie war auf der Stelle tot. Der Synagogen-Aufstand bleibt das übelste Kapitel in der bitteren, unrühmlichen Geschichte der Beziehungen zwischen Tlingit und Juden.

»Ist das vielleicht meine Schuld? Ist das mein Problem?«, schrie Landsmans Mutter zurück. »Ein Indianer in meinem Haus, so was kann ich nicht gebrauchen!«

Eine Weile hörten die Kinder zu. Johnny Bear stand in der Tür und trat mit den Turnschuhen gegen seinen Matchbeutel.

»Gut, dass du kein Jiddisch kannst«, sagte Landsman zu Johnny.

»Brauch ich gar nicht, du Blödmann«, sagte Johnny der Jude. »Diesen Scheiß höre ich schon mein Leben lang.«

Nachdem die Sache geklärt war — und sie war im Grunde schon geklärt, bevor Landsmans Mutter mit dem Geschrei begann —, kam Hertz herein, um sich zu verabschieden. Sein Sohn war fünf Zentimeter größer als er. Als er den Jungen kurz und unbeholfen an sich drückte, sah es aus, als würde ein Stuhl eine Couch umarmen. Dann trat er zurück.

»Es tut mir leid, John«, sagte er. Er packte seinen Sohn an den Ohren und hielt sie fest. Er überflog das Gesicht des Jungen wie ein Telegramm. »Ist mir wichtig, dass du das weißt. Ich möchte nicht, dass du mich irgendwann ansiehst und denkst, es täte mir nicht unglaublich leid.«

»Ich möchte bei dir wohnen«, sagte der Junge ausdruckslos.

»Das hast du schon gesagt.« Die Worte waren grob und gefühllos, doch plötzlich — es jagte Landsman einen Mordsschreck ein — glänzten Tränen in Onkel Hertz’ Augen. »Ich bin als absoluter Hurensohn bekannt, John. Bei mir wärst du schlimmer dran als auf der Straße.« Er betrachtete das Wohnzimmer seiner Schwester, die Plastikschonbezüge auf den Möbeln, die stacheldrahtähnliche Kunst, die abstrakte Menora. »Gott weiß, was sie hier aus dir machen.«

»Einen Juden«, sagte Johnny Bear, und es war schwer einzuschätzen, ob er damit prahlte oder seinen eigenen Untergang vorhersagte. »So einen wie dich.«

»Das scheint mir unwahrscheinlich«, sagte Hertz. »Möchte sehen, wie sie das schaffen. Auf Wiedersehen, John.«

Er tätschelte den Kopf der kleinen Naomi. Kurz bevor er ging, hielt er inne, um Landsman die Hand zu reichen.

»Hilf deinem Cousin, Meyerle, er kann’s gebrauchen.«

»Er sieht aus, als könne er sich selbst helfen.«

»Das stimmt, nicht?«, sagte Onkel Hertz. »Das immerhin hat er von mir.«

Heute lebt Ber Shemets, wie er sich mit der Zeit anreden ließ, wie ein Jude und trägt Jarmulke und Vier-Ecken wie ein Jude. Er argumentiert wie ein Jude, betet wie ein Jude, zeugt wie ein Jude, liebt seine Frau wie ein Jude und dient dem Gemeinwohl wie ein Jude. Er entwirft Theorien mit den Händen, lebt koscher und trägt einen diagonal beschnittenen Penis (dafür hatte sein Vater gesorgt, bevor er Baby-Bär zurückließ). Aber äußerlich ist er ein waschechter Tlingit. Tartarenaugen, dichtes schwarzes Haar, ein breites, zur Freude bestimmtes, doch auch in der Kunst des Leidens geübtes Gesicht. Die Bears sind große Menschen, in Socken bringt es Berko auf zwei Meter und wiegt einhundertzehn Kilo. Er hat einen großen Kopf, große Füße, einen großen Bauch und große Hände. Alles an Berko ist groß, außer dem Kind auf seinem Arm, das Landsman scheu anlächelt. Es hat einen Schopf schwarzen Pferdehaars, das wie magnetisierte Eisenspäne absteht. Zuckersüß ist der Kleine, Landsman wäre der Erste, der das zugeben würde, aber selbst nach einem Jahr drückt der Anblick von Pinky eine Delle in die weiche Stelle hinter Landsmans Brustbein. Pinky wurde genau zwei Jahre nach Djangos errechnetem Termin geboren: am 22. September.

»Emanuel Lasker war ein berühmter Schachspieler«, informiert Landsman Berko, der von Ester-Malke einen Becher Kaffee entgegennimmt und mit gerunzelter Stirn in den Dampf blickt. »Ein deutscher Jude. Bis in die Zwanzigerjahre.« Landsman hat in der Zeit zwischen fünf und sechs an seinem Computer im leeren Dienstzimmer gesessen und versucht, so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. »Mathematiker. Verlor gegen Capablanca, wie damals alle. Das Buch war in seinem Zimmer. Und ein Schachbrett, mit dieser Aufstellung.«

Berko hat schwere, seelenvolle, violett schimmernde Augenlider, aber wenn er sie über seine großen Augen senkt, dann ist es, als würde der Strahl einer Taschenlampe durch einen Schlitz fallen. Sein Blick ist so kalt und skeptisch, dass er einen Unschuldigen dazu bringen kann, sein eigenes Alibi zu bezweifeln.

»Und du hast das Gefühl«, sagt er mit einem bedeutungsschweren Seitenblick auf die Flasche Bier in Landsmans Hand, »dass die Anordnung der Figuren auf dem Brett … was?« Der Schlitz wird schmaler, der Strahl leuchtet heller. »Den Namen des Mörders verrät?«

»Im Alphabet von Atlantis«, sagt Landsman.

»Hm, hm.«

»Der Jude spielte Schach. Und band sich mit einem Tefillin den Arm ab. Er wurde mit großer Sorgfalt und Diskretion umgebracht. Keine Ahnung. Vielleicht ist das mit dem Schach völlig unwichtig. Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Ich bin das ganze Buch durchgegangen, aber ich hab nicht herausbekommen, welche Partie er spielte. Vielleicht gar keine aus diesem Buch. Diese kleinen Zeichnungen, weiß nicht, ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich sie nur ansehe. Ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich nur das Brett sehe. Einen Fluch darauf.«

Landsmans Stimme klingt ebenso hohl und hoffnungslos, wie er sich fühlt, was alles andere als beabsichtigt ist. Berko schaut über Pinkys Kopf zu seiner Frau hinüber, um zu erfahren, ob er sich wirklich Sorgen um Landsman machen muss.

»Hör mal zu, Meyer. Wenn du das Bier wegstellst«, sagt Berko in dem misslungenen Versuch, nicht wie ein Polizist zu klingen, »dann darfst du dieses süße Baby halten. Wie wär’s? Guck dir den Kleinen doch mal an! Diese strammen Beinchen! Da will man doch reinkneifen. Stell das Bier zur Seite, ja? Und halt mal kurz dieses süße Baby.«

»Er ist wirklich ein Süßer«, sagt Landsman. Er saugt zwei weitere Zentimeter Bier aus der Flasche. Dann stellt er sie ab, wappnet sich, nimmt das Baby, riecht es und reißt die alte Wunde in seinem Herzen wieder auf. Pinky duftet nach Joghurt und Waschpulver. Dazu ein Hauch Piment von seinem Vater. Landsman trägt das Baby bis zur Küchentür und versucht nicht zu atmen, er beobachtet, wie Ester-Malke eine Waffel aus dem Eisen löst. Es ist ein altes Westinghouse mit Bakelitgriffen, die die Form von Blättern haben. Es kann bis zu vier knusprige Waffeln gleichzeitig backen.

»Buttermilch?«, fragt Berko und studiert das Schachbrett, fährt sich mit dem Finger über seine schwere Oberlippe.

»Was sonst?«, fragt Ester-Malke.

»Richtige oder Milch mit Essig?«

»Wir haben einen Blindtest gemacht, Berko.« Ester-Malke reicht Landsman einen Teller Waffeln im Austausch gegen ihren jüngeren Sohn, und obwohl Landsman nicht nach Essen zumute ist, lässt er sich nur zu gerne auf den Handel ein. »Du schmeckst den Unterschied gar nicht, schon vergessen?«

»Er kann ja auch nicht Schach spielen«, sagt Landsman. »Aber guck dir an, wie er so tut.«

»Leck mich, Meyer«, sagt Berko. »Also, jetzt mal im Ernst: Welche Figur ist das Schlachtschiff?«

Die Schachversessenheit der Familie war bereits verklungen oder in andere Bahnen gelenkt, als Berko zu Landsman und seiner Mutter kam. Isidor Landsman war sechs Jahre tot, und Hertz Shemets hatte sein Talent im Täuschen und Angreifen auf ein weitaus größeres Schachbrett verlagert. Daher gab es niemanden außer Landsman, der Berko das Spiel hätte beibringen können, eine Aufgabe, die er geflissentlich ignorierte.

»Butter?«, fragt Ester-Malke. Sie schöpft neuen Teig in die Waben des Waffeleisens, und Pinky sitzt auf ihrer Hüfte und erteilt unaufgeforderte Ratschläge.

»Keine Butter.«

»Sirup?«

»Keinen Sirup.«

»Du willst gar keine Waffel, Meyer, stimmt’s?«, sagt Berko. Er tut nicht länger so, als würde er das Schachbrett betrachten, sondern nimmt sich das Buch von Siegbert Tarrasch vor, als würde er daraus schlau werden.

»Ehrlich gesagt, nein«, sagt Landsman. »Aber ich weiß, dass es eigentlich besser wäre.«

Ester-Malke drückt den Deckel des Waffeleisens auf das Teiggitter.

»Ich bin schwanger«, sagt sie mit sanfter Stimme.

»Was?«, ruft Berko und schaut von dem Buch der geordneten Überraschungen auf. »Fuck!« Englisch ist die von Berko bevorzugte Sprache für Flüche und Schimpfwörter. Er beginnt, den kleinen Streifen imaginären Kaugummis zu bearbeiten, der immer in seinem Mund auftaucht, wenn er kurz vorm Platzen steht. »Super, Es! Einfach klasse! Echt! Weil in dieser beschissenen Wohnung ja gerade noch eine Schublade frei ist, wo kein Blag drinliegt!«

Dann hebt er 300 Schachpartien über den Kopf und holt theatralisch aus, um das Buch über die Frühstückstheke ins Wohnesszimmer zu schleudern. Es ist der Shemets in ihm, der da herauskommt. Auch Landsmans Mutter war dafür bekannt, im Zorn mit Gegenständen zu werfen, und die theatralischen Darbietungen von Onkel Hertz, jenem kühlen Genossen, sind selten, aber legendär.

»Beweismittel«, erinnert Landsman ihn. Berko hebt das Buch noch etwas höher, und Landsman sagt: »Das ist ein Beweismittel, verdammt!«, und dann wirft Berko tatsächlich. Das Buch wirbelt durch die Luft, die Seiten flattern, es streift etwas Klirrendes, wahrscheinlich die silberne Gewürzdose auf dem gläsernen Esstisch. Das Baby schiebt die Unterlippe vor, schiebt sie noch weiter vor, zögert, blickt von seiner Mutter zum Vater. Dann bricht es in trostloses Schluchzen aus. Böse sieht Berko Pinky an, als habe er ihn verraten. Er geht um die Theke herum, um das misshandelte Beweismittel aufzuheben.

»Was macht Papa da nur?«, sagt Ester-Malke zum Baby, küsst es auf die Wange und funkelt zornig das große schwarzumrandete Loch in der Luft an, das Berko hinterlassen hat. »Hat der böse Kommissar Supersperma ein dummes altes Buch weggeworfen?«

»Lecker!«, sagt Landsman und stellt seinen unberührten Teller ab. Er hebt die Stimme. »He, Berko, ich, ähm, ich glaube, ich warte lieber unten im Wagen auf dich.« Er streift Ester-Malkes Wangen mit den Lippen. »Sag Wie-heißt-er-noch-gleich tschüss von Onkel Meyerle.«

Landsman geht nach draußen zum Aufzug, durch dessen Schacht der Wind pfeift. Fried, der Nachbar, kommt in seinem langen schwarzen Mantel aus der Wohnung, das weiße Haar ist zurückgekämmt und lockt sich über dem Kragen. Fried ist Opernsänger, und die Taytsh-Shemets haben das Gefühl, er behandle sie herablassend. Aber das glauben sie nur, weil Fried ihnen gesagt hat, er sei besser als sie. Im Allgemeinen bemühen sich die Sitkaner, auf dieser Beurteilung ihrer Nachbarn zu beharren, insbesondere wenn es Indianer sind oder sie weiter südlich leben. Fried und Landsman nehmen gemeinsam den Aufzug. Fried fragt Landsman, ob er in letzter Zeit irgendwelche Leichen gefunden habe, und Landsman fragt Fried, ob sich in letzter Zeit irgendein toter Komponist seinetwegen im Grabe umgedreht hätte, danach sagen sie nicht mehr viel. Landsman geht nach draußen zu seinem Wagen und steigt ein. Er lässt den Motor an und wartet in der hereingeblasenen Wärme. Mit Pinkys Geruch am Kragen und dem kühlen, trockenen Geist von Goldys kleiner Hand in seiner großen spielt er den Torwart, während eine Mannschaft sinnloser Reuegefühle einen Angriff auf seine Fähigkeit aufbaut, den Tag zu überstehen, ohne irgendetwas zu fühlen. Landsman steigt aus und raucht eine Papiros im Regen. Er blickt nach Norden, über den Hafen, zum gewundenen Aluminiumstift auf der windgepeitschten Insel. Wieder verspürt er stechende Sehnsucht nach der Weltausstellung, nach der heldenhaften jüdischen Ingenieurskunst des Safety Pin (offiziell trägt der Leuchtturm die Bezeichnung »Ort der Zuflucht«, aber so nennt ihn niemand) und nach dem Ausschnitt jener uniformierten Dame, die damals die Eintrittskarten für die Aufzugfahrt ins Restaurant in der Spitze des Safety Pins abriss. Dann setzt sich Landsman wieder in den Wagen. Einige Minuten später kommt Berko aus dem Haus und wälzt sich wie eine Basstrommel in den Super Sport. Er hält das Buch und das Schachspiel in einer Hand und balanciert beides auf dem linken Oberschenkel.

»Tut mir leid mit eben«, sagt er. »Total dämlich, hm?«

»Schon gut.«

»Wir müssen uns einfach was Größeres suchen.«

»Genau.«

»Irgendwo.«

»Das ist der Punkt.«

»Es ist ein Geschenk.«

»Klar! Masel-tow, Berko.«

Landsmans Glückwünsche sind so ironisch, dass sie schon wieder von Herzen kommen, sie kommen aus so tiefem Herzen, dass sie nur unehrlich klingen können, und so sitzen er und sein Kollege eine Weile im Auto, fahren nirgends hin und lauschen, wie die Glückwünsche gerinnen.

»Ester-Malke meint, sie ist ständig so müde, dass sie sich nicht mal daran erinnern kann, mit mir geschlafen zu haben«, sagt Berko mit einem tiefen Seufzer.

»Vielleicht habt ihr ja gar nicht.«

»Du meinst, es ist ein Wunder. Wie das sprechende Huhn beim Schlachter.«

»Hm.«

»Ein warnendes Zeichen und Sinnbild.«

»So kann man es auch sehen.«

»Apropos Zeichen«, sagt Berko. Er schlägt das in der öffentlichen Bibliothek von Sitka seit Langem vermisste Exemplar von 300 Schachpartien auf der Innenseite des Rückumschlags auf und schiebt die Rückgabekarte aus ihrer Tasche. Hinter der Karte, erkennt Landsman, steckt ein Foto, eine Farbaufnahme, 8 x 12 Zentimeter, Hochglanz, mit weißem Rand. Es zeigt ein Schild, ein Rechteck aus schwarzem Plastik, in das drei weiße römische Buchstaben gedruckt sind, darunter deutet ein weißer Pfeil nach links. Mit zwei schwachen Ketten ist das Schild an einer schmutzigweißen quadratischen Schallschluckplatte befestigt.

»Pie«, liest Landsman.

»Sieht aus, als ob es bei meiner energischen Untersuchung des Beweismittels herausgefallen wäre«, sagt Berko. »Ich nehme an, es war tief in die Tasche geschoben, sonst hättest du es mit deinem scharfen Schammes-Blick nicht übersehen. Erkennst du es?«

»Ja«, sagt Landsman. »Ich erkenne es wieder.«

Am Flugplatz der nördlich gelegenen, rauen Stadt Yakovy — von wo aus man, wenn man als Jude auf ein bescheidenes Abenteuer aus ist, in den bescheidenen Urwald des Distrikts aufbricht — liegt, versteckt am hinteren Ende des Hauptgebäudes, ein bescheidener Laden, der Pie verkauft, nichts anderes, nur Obstkuchen amerikanischer Art. Der Laden besteht aus kaum mehr als einem Fenster, das den Blick auf eine Backstube mit fünf glänzenden Öfen freigibt. Neben dem Fenster hängt eine weiße Tafel, auf die die Inhaber — ein feindseliges Ehepaar aus Klondike und seine geheimnisvolle Tochter — jeden Tag eine Liste des aktuellen Angebots schreiben: Brombeer, Apfel-Rhabarber, Pfirsich, Banane-Sahne. Der Kuchen ist gut, auf bescheidene Weise sogar berühmt. Jeder, der schon einmal am Flugplatz von Yakovy war, kennt ihn, und man erzählt von Menschen, die von Juneau oder Fairbanks oder von noch weiter angeflogen kommen, um ihn zu essen. Landsmans tote Schwester war ein besonders großer Fan von Kokos-Sahne.

»Und, nu«, sagt Berko. »Was denkst du?«

»Ich wusste es«, sagt Landsman. »In dem Moment, als ich in das Zimmer kam und Lasker da liegen sah, da sagte ich zu mir: Landsman, in diesem Fall wird es auf den Kuchen ankommen.«

»Du meinst also, es hat nichts zu bedeuten.«

»Nichts hat nichts zu bedeuten«, sagt Landsman, und plötzlich bekommt er keine Luft mehr, sein Hals ist geschwollen, Tränen brennen ihm in den Augen. Vielleicht ist es der Schlafmangel oder dass er zu viel Zeit in Gesellschaft seines Schnapsglases verbracht hat. Oder vielleicht ist es das unerwartete Bild von Naomi, die sich an die Wand neben dem namenlosen, unerklärbaren Kuchenladen lehnt, mit einer Plastikgabel ein Stück Kokos-Sahne-Kuchen von einem Pappteller spießt, die Augen schließt, die Lippen spitzt und kräuselt und mit animalischer Intensität den Mundvoll Creme und Krokant genießt. »Verdammt nochmal, Berko. Ich hab jetzt Lust auf so ein Stück Kuchen.«

»Das habe ich auch gerade gedacht«, sagt Berko.

Загрузка...