33.

Von seinem Eckbüro im Erdgeschoss des Polizeireviers von St. Cyril aus hat Inspector Dick einen guten Blick auf den Parkplatz. Auf sechs Müllcontainer, die wie eiserne Jungfrauen mit Metallplatten und Stahlbändern vor Bären geschützt sind. Auf eine subalpine Wiese hinter den Containern und dann auf die schneebedeckte Ghettomauer, die ihm die Juden vom Hals hält. Dick hängt in seinem Schreibtischstuhl im Maßstab 2:3, die Arme verschränkt, das Kinn auf der Brust, und starrt durch das Flügelfenster. Nicht auf die Berge oder auf die Wiese, gräulich grün im späten Licht, betupft mit Nebelbäuschchen, nicht einmal auf die gepanzerten Müllcontainer. Sein Blick wandert nicht über den Parkplatz hinaus — nicht weiter als bis zu seiner 1951er Royal Enfield Crusader. Landsman kennt den Ausdruck in Dicks Gesicht. Es ist der Ausdruck, der sich bei Landsman einstellt, wenn er seinen Chevelle Super Sport oder das Gesicht von Bina Gelbfish betrachtet. Die Miene eines Mannes, der das Gefühl hat, in die falsche Welt geboren zu sein. Etwas ist schiefgelaufen; er ist nicht dort, wo er hingehört. Immer wieder spürt er, dass sein Herz — gleich einem Drachen in Telefonleitungen — an Dingen hängen bleibt, die ihm eine Heimat versprechen oder den Weg dorthin weisen könnten. Zum Beispiel ein in seiner fernen Kindheit gebautes amerikanisches Auto oder ein Motorrad, das einst dem zukünftigen König Englands gehörte, oder das Gesicht einer Frau, die mehr wert ist, geliebt zu werden als er.

»Ich hoffe, er hat was an«, sagt Dick, ohne sich vom Fenster abzuwenden. Das sehnsüchtige Flackern in seinen Augen erlischt. In seinem Gesicht passiert jetzt überhaupt nichts mehr. »Weil das, was ich da im Wald gesehen habe, mein Gott, Landsman, ich hätte fast mein Scheiß-Bärenfell abfackeln müssen.« Er tut, als erschaudere er. »Die Tlingit-Nation zahlt mir nicht ansatzweise genug Entschädigung, um dich in Unterhose zu sehen.«

»Die Tlingit-Nation«, sagt Berko Shemets und spricht es aus wie den Namen eines berüchtigten Coups oder wie die Behauptung, jemand habe Atlantis geortet. Er drängt Dicks Büro seine massige Gestalt auf. »Ach, dann wird hier noch Gehalt gezahlt? Weil Meyer eben meinte, vielleicht auch nicht.«

Jetzt dreht Dick sich um, langsam und träge, und schürzt einen Teil seiner Oberlippe, um mehrere Schneide- und Eckzähne zu entblößen.

»Johnny, der Jude«, sagt er. »So, so, mit Mützchen und allem. Und scheinbar hast du in letzter Zeit reichlich Gelegenheit gehabt, über den einen oder anderen Filipino-Donut den Segen zu sprechen.«

»Leck mich, Dick, du antisemitischer kleiner Zwerg.«

»Leck mich, Johnny, du und deine bekackten Anspielungen auf meine Integrität als Polizeibeamter.«

In seinem rostigen, aber reichhaltigen Tlingit drückt Berko den Wunsch aus, Dick eines Tages tot und ohne Schuhe im Schnee liegen zu sehen.

»Geh kacken ins Meer«, sagt Dick in tadellosem Jiddisch.

Sie treten aufeinander zu, und der große Mann nimmt den kleinen in den Arm. Sie hauen sich gegenseitig auf den Rücken, tasten nach den tuberkulösen Stellen ihrer langsam sterbenden Freundschaft, in den Tiefen dröhnt ihre alte Feindschaft wie eine Trommel. In dem Jahr des Elends, das Berkos Übertritt zur jüdischen Seite seiner Vorfahren voranging, bevor seine Mutter von einer flüchtenden Wagenladung randalierender Juden zerquetscht wurde, entdeckte der junge John Bear das Basketballspiel für sich und für Wilfred Dick, damals ein eins fünfundzwanzig großer Aufbauspieler. Es war Hass auf den ersten Blick, jener großartige, romantische Hass, der bei dreizehnjährigen Jungen nicht von Liebe zu unterscheiden ist oder ihr am nächsten kommt.

»Johnny Bear«, sagt Dick. »Verdammte Scheiße, du Riesenjude!«

Berko zuckt mit den Schultern und reibt sich betreten den Nacken, sodass er aussieht wie ein dreizehnjähriger Centerspieler beim Basketball, an dem gerade etwas Kleines, Hässliches auf direktem Weg zum Korb vorbeihuscht.

»Ja, hey, Willie D.«, sagt er.

»Setz dich, du fetter Hurensohn«, sagt Dick. »Du auch, Landsman, mit den ekligen Flecken in der Arschritze.«

Berko muss grinsen, und alle setzen sich — Dick auf seine Seite des Schreibtischs, die jüdischen Polizisten auf die andere. Die beiden Besucherstühle haben Normalmaß, ebenso die Bücherregale und alles andere im Büro, nur nicht Dicks Schreibtisch und sein Stuhl. Die Wirkung ist zerrspiegelartig, übelkeitserregend. Vielleicht ist es aber nur ein weiteres Symptom des Alkoholentzugs. Dick holt seine schwarzen Zigaretten hervor und schiebt Landsman über den Tisch einen Aschenbecher zu. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und legt die Füße auf den Schreibtisch. Die Ärmel seines Woolrich-Hemds sind hochgekrempelt. Seine Unterarme sind sehnig und braun. Krauses graues Haar späht aus seinem offenen Kragen, und seine schicke Brille steckt zusammengeklappt in der Hemdtasche.

»Es gibt so viele Leute, denen ich jetzt lieber gegenübersitzen würde«, sagt er. »Um genau zu sein: Millionen.«

»Dann mach doch die Augen zu«, schlägt Berko vor.

Dick gehorcht. Seine Augenlider sind dunkel und glänzend, sie schimmern bläulich.

»Landsman«, sagt er, als genieße er das Blindsein, »wie war dein Zimmer?«

»Die Bettdecke roch stärker nach Lavendelwasser, als mir lieb gewesen wäre«, sagt Landsman. »Aber sonst kann ich mich wirklich nicht beschweren.«

Dick öffnet die Augen.

»Es war mein Glück als Gesetzesvertreter in diesem Reservat, in all den Jahren relativ wenig mit Juden zu tun zu haben«, beginnt er. »Ah, und bevor einer von euch wegen meines angeblichen Antisemitismus seinen Schließmuskel zukneift, möchte ich jetzt nur kurz vorausschicken, dass es mir wichsscheißegal ist, ob ich eure Schweineschisserärsche beleidige oder nicht, unterm Strich würde ich sogar sagen, ich hoffe es. Der fette Kerl da weiß ganz genau, sollte er wenigstens, dass ich alle Menschen gleichermaßen hasse, ohne jede Bevorzugung und ohne Rücksicht auf Konfession oder DNA.«

»Versteht sich von selbst«, sagt Berko.

»Uns geht es genauso in Bezug auf dich«, sagt Landsman.

»Ich meine damit: mit Juden zu tun zu haben, heißt Verarschung. Tausend auf Hochglanz polierte Schichten aus Politik und Lügen. Deshalb glaube ich genau verwichste null Komma null Prozent von dem, was mir dieser angebliche Dr. Roboy erzählt hat, dessen Papiere sich übrigens als einwandfrei erwiesen haben. Etwas trübe war nur seine Erklärung, wie es kam, dass du in der Unterbuxe die Straße runtergeflitzt bist, Landsman, und ein jüdischer Cowboy aus einem Wagenfenster Nahaufnahmen von dir machen wollte.«

Landsman will es erklären, aber Dick hebt seine mädchenhafte Hand mit den sauberen, blitzenden Nägeln.

»Lass mich ausreden. Diese Herren, nein, Johnny, die zahlen nicht mein Gehalt, geschissenen Dank auch. Aber über Kanäle, die sich meiner Kenntnis entziehen und über die ich nicht spekulieren will, haben diese Herren Freunde, Tlingit-Freunde, die mein Gehalt bezahlen, oder um genauer zu sein, die in dem Rat sitzen, der mich bezahlt. Und sollten mir diese weisen Stammesältesten zu verstehen geben, dass sie es mir nicht übelnehmen, wenn ich deinen Kollegen hier anzeige und wegen widerrechtlichen Betretens und Einbruch verknacke, nicht zu vergessen wegen Durchführung einer illegalen, unautorisierten Ermittlung, dann würde ich das tun müssen. Diese jüdischen Wiesel da draußen in Peril Strait — und ich weiß, dass ihr wisst, wie sehr mich das zu sagen schmerzt —, die sind, was auch geschieht, meine verfluchten jüdischen Wiesel. Und ihre Einrichtung steht, solange sie sie in Anspruch nehmen, unter der Flagge und dem vollständigen Schutz der Sicherheitskräfte meines Stammes. Da mache ich mir da draußen die Mühe, deinen verpickelten Arsch zu retten, Landsman, dich herzuschleppen und dich für teures Geld unterzubringen, und dann haben diese verschissenen Juden auf einmal kein Interesse mehr an dir.«

»Das nenne ich mal eine Litanei«, sagt Landsman zu Berko. Dann sagt er zu Dick: »Ihr habt hier einen Arzt, den solltest du wirklich mal aufsuchen.«

»Aber so gerne ich dich auch zurückschicken würde, damit dir deine Exfrau mal so richtig die Eier langzieht, Landsman«, poltert Dick weiter, »und wenn ich mich noch so anstrenge, ich kann euch einfach nicht ziehen lassen, ohne eine bestimmte Frage gestellt zu haben, selbst wenn ich von vornherein weiß, dass ihr beide Juden seid, in gewisser Hinsicht, und dass jede Antwort von euch nur noch mehr Verarsche ist und mich die ganze Scheiße jetzt schon mit ihrem edlen jüdischen Glanz blendet.«

Sie warten auf die Frage, und sie kommt, und dann wird Dicks Verhalten härter. Alles Salbadern und alle Ironie verschwindet. »Reden wir hier von Mord?«, fragt er.

»Ja«, sagt Landsman, und im selben Moment sagt Berko: »Offiziell nicht.«

»Zwei«, beharrt Landsman. »Zwei Morde, Berko. Naomi geht auch auf ihre Rechnung.«

»Naomi?«, sagt Berko. »Meyer, was soll der Scheiß?«

Landsman rekapituliert alles, von Anfang an, lässt nichts Wichtiges aus, beginnt mit dem Klopfen an seiner Zimmertür im Zamenhof bis zu seinem Gespräch mit Mrs. Shpilman, berichtet von der Tochter des Kuchenmanns, die ihn ins Archiv der Flugsicherung schickte, bis zu der Anwesenheit von Aryeh Baronshteyn in Peril Strait.

»Hebräisch?«, sagt Berko. »Mexikaner, die Hebräisch sprechen?«

»So hörte es sich an«, sagt Landsman. »Aber kein Synagogenhebräisch.« Landsman erkennt Hebräisch, wenn er es hört. Aber das Hebräisch, das er kennt, ist die traditionelle Form, die Sprache, die seine Vorfahren durch die Millenien ihres europäischen Exils trugen, ölig und salzig wie ein zum Konservieren geräuchertes Stück Fisch, stark gewürzt vom Jiddischen. Diese Form von Hebräisch wird nie in der menschlichen Unterhaltung verwendet. Sie ist dem Gespräch mit Gott vorbehalten. Wenn es Hebräisch war, das Landsman in Peril Strait hörte, so war es nicht die alte Salzheringsprache, sondern ein stacheliger Dialekt, ein Klang wie Alkali und Steine. Für Landsman hörte es sich an wie das Hebräisch, das die Zionisten nach 1948 herüberbrachten. Jene harten Wüstenjuden klammerten sich im Exil verzweifelt an ihre Sprache, aber wie es vor ihnen schon den deutschen Juden ergangen war, wurden sie vom tönenden Getöse des Jiddischen und von der ewigen schmerzlichen Assoziation ihrer Sprache mit Versagen und Unheil jüngeren Datums überwältigt. Soweit Landsman weiß, existiert diese Art von Hebräisch nicht mehr, nur noch bei den wenigen letzten Aufrechten, die sich jährlich in leeren Sälen treffen. »Ich hab nur ein, zwei Wörter verstanden. Sie redeten so schnell, ich kam nicht mit. War wohl Sinn der Sache.«

Er erzählt ihnen, dass er in dem Zimmer aufwachte, in dem Naomi ihre Inschrift in der Wand hinterließ, erzählt von den Wohnheimen und dem Übungsgelände und von den bewaffneten jungen Männern in Wartestellung.

Ungewollt wird Dicks Interesse immer größer, er stellt Fragen, vertieft sich mit einer instinktiven, hartnäckigen Liebe zum Stunk in die Angelegenheit.

»Ich hab deine Schwester gekannt«, sagt er, als Landsman seine Rede mit der Rettung im Wald von Peril Strait abschließt. »Tut mir leid, dass sie gestorben ist. Und diese heilige Schwuchtel hört sich wie genau die Sorte streunender Köter an, für den sie ihren Arsch aufs Spiel gesetzt hätte.«

»Aber was wollten sie von Mendel Shpilman, diese Juden mit dem Besucher, der keine Schweinerei will?«, fragt Berko. »Das verstehe ich einfach nicht. Was machen die da draußen?«

Diese Fragen erscheinen Landsman unvermeidlich, folgerichtig und entscheidend, bei Dick jedoch kühlen sie die Begeisterung für den Fall merklich ab.

»Ihr habt nichts«, sagt er, und sein Mund ist ein blutleerer Bindestrich. »Und ich will dir was sagen, Landsman, das mit den Juden in Peril Strait, das hat doch nichts mit dem Fall zu tun. Die haben so viel Einfluss im Rücken, meine Herren, ich sage euch, die könnten euch aus einem versteinerten Scheißhaufen einen Diamanten schleifen.«

»Was weißt du über sie, Willie?«, fragt Berko.

»Einen Scheiß weiß ich.«

»Der Mann im Caudillo«, sagt Landsman. »Mit dem du geredet hast. War das auch ein Amerikaner?«

»Nein, eine vertrocknete kleine Rosine von Jude. Hat seinen Namen nicht genannt. Und ich darf nicht danach fragen. Denn die offizielle politische Linie der Stammespolizei an dem Ort lautet, wie ich, glaube ich, bereits erwähnt habe: Einen Scheiß weiß ich.«

»Komm, Wilfred«, sagt Berko. »Wir reden hier von Naomi.«

»Das ist mir klar. Aber ich weiß genug über Landsman, Scheiße, ich weiß genug über die Kollegen von der Mordkommission, um sicher zu sein, dass es hier, Schwester hin oder her, nicht darum geht, die Wahrheit herauszufinden. Es geht nicht darum, die Story zu verstehen. Denn ihr und ich, meine Herren, wir wissen, dass die Story halt so ist, wie wir sie uns zurechtlegen, und wie hübsch und nett das auch sein mag, am Ende macht die Geschichte für die Toten nicht den geringsten Unterschied. Du, Landsman, du willst dich an diesen Schweinen rächen. Aber dazu wird es nie kommen. Du wirst sie nie bekommen. Nie im Leben.«

»Willie-Boy«, sagt Berko. »Los, komm! Dann tu’s nicht für ihn. Tu’s nicht, weil seine Schwester Naomi so ein supertolles Mädel war.«

In dem nun folgenden Schweigen gibt er Dick einen dritten Grund, sie aufzuklären.

»Du willst sagen«, sagt Dick, »dass ich es für dich tun soll.«

»Genau.«

»Weil wir uns im Frühling unseres Lebens so viel bedeutet haben.«

»So weit würde ich vielleicht nicht gehen.«

»Das ist verdammt rührend«, sagt Dick. Er beugt sich vor und drückt auf seine Gegensprechanlage. »Minty, hol mein Bärenfell aus dem Müll und bring es rein, damit ich drauf kotzen kann.« Er lässt die Taste los, ehe Minty antworten kann. »Ich tue einen Scheißdreck für dich, Detective Berko Shemets. Aber weil ich deine Schwester mochte, Landsman, binde ich in euren Kopf denselben Knoten, den diese Wiesel in meinen geknotet haben, und dann lass ich euch herausfinden, was das zum Teufel bedeutet.«

Die Tür geht auf, und eine breite junge Frau kommt herein, wiederum nur halb so groß wie ihr Chef. Sie trägt den Bärenfellumhang, als enthalte er den nur fotografisch sichtbaren Rückstand des auferstandenen Leichnams Jesu Christi. Dick springt auf, greift sich das Fell und bindet es mit einer Grimasse, als befürchte er Verseuchung, mit dem Riemen um den Hals.

»Such dem da einen Mantel und einen Hut«, sagt er, mit dem Daumen auf Landsman weisend. »Irgendwas, das schön stinkt, nach Lachsgedärmen oder Muskateller. Nimm den Mantel von Marvin Klag, der liegt besoffen in A7.«

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