5.

Landsman lernte das Schachspiel durch seinen Vater und seinen Onkel Hertz hassen. Die beiden Schwager waren Freunde aus Kindertagen in Lodz, wo sie dem Jugendschachclub Makkabi angehörten. Landsman weiß noch, wie sie sich über jenen Tag im Sommer 1939 unterhielten, als der große Tartakower den Jungs von Makkabi einen Besuch abstattete, um ihnen eine Kostprobe seines Könnens zu geben. Savielly Tartakower war polnischer Staatsbürger, internationaler Großmeister und ein Original, berühmt für seinen Ausspruch: »Fehler sind da, um gemacht zu werden.« Auf dem Rückweg von Paris, wo er für eine französische Schachzeitschrift von einem Turnier berichtet hatte, besuchte er den Leiter des Jugendschachclubs Makkabi, einen alten Kameraden aus seiner Zeit an der russischen Front in Franz Josefs Armee. Auf Drängen des Leiters bot Tartakower nun dem besten jungen Spieler des Clubs, Isidor Landsman, eine Partie an.

Gemeinsam nahmen sie Platz, der stramme Kriegsveteran in seinem Maßanzug mit der schroffen guten Laune und der stammelnde Fünfzehnjährige mit dem nach außen schielenden Auge, dem zurückweichenden Haaransatz und einem Schnurrbart, der oft fälschlicherweise für einen rußigen Daumenabdruck gehalten wurde. Tartakower wählte Schwarz. Landsmans Vater entschied sich für die Englische Eröffnung. In der ersten Stunde spielte Tartakower unaufmerksam, ja autonom. Er ließ seinen berühmten Schachmotor im Leerlauf brummen und verrichtete Dienst nach Vorschrift. Nach vierunddreißig Zügen bot Tartakower Landsmans Vater freundlich spöttelnd ein Remis an. Landsmans Vater musste dringend pinkeln, seine Ohren summten, er schob das Unvermeidliche nur vor sich her. Doch wies er das Angebot zurück. Sein Spiel basierte nun lediglich auf Instinkt und Verzweiflung. Er reagierte, lehnte jeden Austausch ab, sein Vorteil bestand einzig und allein in seiner Sturheit und dem animalischen Gespür für das Brett. Nach siebzig Zügen, vier Stunden und zehn Minuten wiederholte Tartakower sein früheres Angebot, nicht mehr ganz so freundlich. Gequält vom Tinnitus und kurz davor, sich in die Hose zu machen, nahm Landsmans Vater an. In späteren Jahren erzählte er manchmal, dass sein Hirn, dieses sonderbare Organ, sich nie so recht von jener Tortur erholt hätte. Doch sollten natürlich noch schlimmere Torturen kommen.

»Das war alles andere als vergnüglich«, soll Tartakower zu Landsmans Vater gesagt haben, als er sich vom Stuhl erhob. Der junge Hertz Shemets mit seinem untrüglichen Blick für die Schwächen anderer Menschen hatte ein Zittern in Tartakowers Hand bemerkt, die ein eilig herbeigeholtes Glas Tokajer hielt. Dann zeigte Tartakower auf den Schädel von Isidor Landsman. »Aber es ist sicher angenehmer, als darin leben zu müssen.«

Keine zwei Jahre später trafen Hertz Shemets, seine Mutter und seine kleine Schwester Freydl mit der ersten Welle Galizianer Siedler auf Baranof Island in Alaska ein. Sie kamen mit der berüchtigten Diamond, einem Truppentransporter aus dem Ersten Weltkrieg, den Innenminister Ickes hatte entmotten lassen und, so will es die Legende, zur zweifelhaften Ehre des verstorbenen Anthony Dimond umtaufen lassen, dem nicht abstimmungsberechtigten Abgeordneten des Territoriums Alaska im Repräsentantenhaus. (Der Abgeordnete Dimond hatte vorgehabt, das Gesetz zur Besiedlung Alaskas im Ausschuss zu kippen, doch dann hatte auf einer Kreuzung in Washington, D. C., ein betrunkener, taxifahrender Schlemiel namens Denny Lanning interveniert und war so zum ewigen Helden der Juden von Sitka geworden.) Dünn, blass, verwirrt ging Hertz Shemets von Bord der Diamond, stieg aus der Dunkelheit und dem Muff von Suppe und rostigen Pfützen in die saubere, kühle Würze der Kiefern von Sitka. Zusammen mit seiner Familie und seinem Volk wurde er gemäß den Bestimmungen des Siedlungsgesetzes von 1940 wie ein Zugvogel nummeriert, geimpft, entlaust und etikettiert. In einer Pappschachtel trug er seinen »Ickes-Pass« mit sich herum, ein besonderes Behelfsvisum aus besonders verschmierter Tinte auf besonders dünnem Papier.

Er konnte nirgends anders hin. So stand es in großen Buchstaben vorne auf dem Ickes-Pass. Ihm war nicht gestattet, nach Seattle oder San Francisco zu reisen, nicht einmal nach Juneau oder Ketchikan. Die bisherigen Quoten für jüdische Einwanderer in die Vereinigten Staaten blieben weiterhin gültig. Selbst nach dem frühzeitigen Ableben Dimonds konnte das Gesetz dem amerikanischen Staatskörper nur mit einem gewissen Druck und unter Zuhilfenahme von Schmiermitteln aufgezwungen werden, und zu dieser Vereinbarung gehörte die Einschränkung jüdischer Bewegungsfreiheit.

Unmittelbar nach den Juden aus Deutschland und Österreich wurden die Shemets-Familie und die übrigen Galizianer nach Camp Slattery abgeschoben, ein Lager in einem Sumpfgebiet, zehn Meilen entfernt von der leidgeprüften, halb verfallenen Stadt Sitka, Hauptstadt der alten Kolonie Russisch-Alaska. In zugigen Blechhütten und Baracken durchlitten die Siedler eine gründliche sechsmonatige Eingewöhnungsphase unter dem Elitekommando von fünfzehn Milliarden Mücken, bestellt vom amerikanischen Innenministerium. Hertz wurde zum Straßenbau zwangsverpflichtet und dann der Kolonne zugewiesen, die den Flughafen von Sitka baute. Er verlor zwei Backenzähne, als er in einem Senkkasten tief im Hafenschlamm von Sitka arbeitete und von einer Schaufel getroffen wurde. Wann immer man in späteren Jahren mit ihm über die Tshernovits-Brücke fuhr, rieb er sich den Kiefer, und die strengen Augen in seinem scharf geschnittenen Gesicht bekamen einen wehmütigen Ausdruck. Freydl wurde in eine eiskalte Scheune zur Schule geschickt, auf deren Dach unentwegt Regen prasselte. Der Mutter wurden die Grundlagen der Landwirtschaft beigebracht, der Einsatz von Pflug, Düngemittel und Bewässerungsschläuchen. In Broschüren und auf Plakaten wurde die knappe Wachstumsperiode in Alaska als Allegorie auf die kurze Dauer ihres Aufenthalts dargestellt. Mrs. Shemets sollte sich die Ansiedlung in Sitka wie einen Keller oder ein Gewächshaus vorstellen, in dem sie und ihre Kinder, Blumenzwiebeln gleich, den Winter über untergebracht waren, bis die Heimaterde so weit aufgetaut war, dass sie dorthin verpflanzt werden konnten. Niemand vermochte sich vorzustellen, dass der Boden Europas so dick mit Salz und Asche bedeckt sein würde.

Trotz der landwirtschaftlichen Bemühungen wurden die von der Siedlungsvereinigung Sitka angeregten bescheidenen Gehöfte und Bauernhof-Kooperativen niemals Wirklichkeit. Japan griff Pearl Harbor an. Die Aufmerksamkeit des Innenministeriums verlagerte sich auf dringendere strategische Probleme wie Ölreserven und Bergbau. Zum Abschluss des Halbjahres am »Ickes-College« bekam die Familie Shemets wie die meisten ihrer Mitflüchtlinge einen Tritt versetzt, sie sollten sich nun allein durchs Leben schlagen. Genau wie der Abgeordnete Dimond vorausgesagt hatte, zogen sie nach Norden in die schroffe, neuerdings florierende Stadt Sitka. Hertz studierte Strafrecht am neuen Technischen Institut Sitka und wurde nach seinem Abschluss 1948 als Fachkraft von der ersten großen amerikanischen Kanzlei angestellt, die in Sitka eine Zweigstelle eröffnete. Seine Schwester Freydl, die Mutter von Landsman, gehörte zu den ersten Pfadfinderinnen der Siedlung.

1948: seltsame Zeiten für Juden. Im August brach die Verteidigung von Jerusalem zusammen, und die zahlenmäßig unterlegenen Juden der drei Monate alten Republik Israel wurden verjagt, massakriert und ins Meer getrieben. Als Hertz seine Stelle bei Foehn Harmattan & Buran antrat, begann der Ausschuss für Territorien und Inselfragen des Weißen Hauses mit einer lange hinausgezögerten Überprüfung des Status, die das Siedlungsgesetz von Sitka vorschrieb. Wie der Rest des Kongresses, wie die meisten Amerikaner, war der Ausschuss erschüttert angesichts der grausamen Enthüllungen über das Abschlachten von zwei Millionen europäischer Juden, von der Unmenschlichkeit der zionistischen Zerstörung, von der Not der Flüchtlinge aus Palästina und Europa. Zugleich war man praktisch veranlagt. Die Bevölkerung der Siedlung Sitka war bereits auf zwei Millionen angewachsen. Dem Gesetz zuwiderhandelnd, hatten sich Juden an der gesamten Westküste von Baranof Island bis nach Kruzof und hoch bis nach West Chichagof Island ausgebreitet. Die Wirtschaft florierte. Und die amerikanischen Juden betrieben immense Lobbyarbeit. Schließlich gestand der Kongress der Siedlung Sitka einen »Interimsstatus« als Bundesdistrikt zu. Eine Anwartschaft auf staatliche Souveränität wurde ausdrücklich ausgeschlossen. GESETZGEBER VERSPRICHT: KEIN JUDALASKA lautete die Schlagzeile im Pioneer von Anchorage. Die Betonung lag immer auf dem Wort »Interim«. Nach sechzig Jahren würde der Status aufgehoben werden, und die Juden von Sitka würden wieder auf sich selbst gestellt sein.

An einem warmen Septembernachmittag, nicht lange nach dem Distrikt-Tag, überzog Hertz Shemets seine Mittagspause und ging die Seward Street entlang, als er zufällig seinen alten Kumpel aus Lodz, Isidor Landsman, traf. Landsmans Vater war gerade in Sitka eingetroffen, allein, an Bord der Williwaw, frisch von einer Tour durch die Todes- und Flüchtlingslager Europas. Er war fünfundzwanzig, kahlköpfig und hatte fast keine Zähne mehr. Bei einer Körpergröße von einem Meter achtzig wog er siebenundfünfzig Kilo. Er roch komisch, redete wirr und hatte als Einziger seiner Familie überlebt. Er war unempfänglich für den sprühenden Pioniergeist im Zentrum von Sitka, für die Arbeitskolonnen junger Jüdinnen mit blauen Kopftüchern, die Negerspirituals mit Sprüchen von Lincoln und Marx auf Jiddisch sangen. Der kernige Geruch von Fisch, gefällten Bäumen und umgegrabener Erde, das Rumoren von Baggern, die Anhöhen ebneten und den Sund von Sitka füllten, das alles schien ihn nicht zu berühren. Er ging gesenkten Kopfes und mit hochgezogenen Schultern, als grabe er sich auf seinem unerklärlichen Weg durch diese Welt lediglich von einer unbekannten Dimension in die nächste. Nichts drang in den dunklen Tunnel seiner Reise, nichts spendete ihm Licht. Doch als Isidor Landsman merkte, dass der grinsende Mann mit dem öligen Haar und den glänzenden Schuhen, dieser Mann, der nach Cheeseburger mit gerösteten Zwiebeln roch, just verspeist an der Imbisstheke von Woolworth, sein alter Freund Hertz Shemets vom Jugendschachclub Makkabi war, hob er den Blick. Die ewige Verspannung wich aus seinen Schultern. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, sprachlos vor Scham, Freude und Staunen. Dann brach er in Tränen aus.

Hertz nahm Landsmans Vater mit zu Woolworth, kaufte ihm etwas zu essen (ein Eiersandwich, seinen ersten Milchshake, anständige Gewürzgurken) und führte ihn dann die Lincoln Street hinunter zum neuen Hotel Einstein, in dessen Café die großen Verbannten der jüdischen Schachwelt sich Tag für Tag trafen, um sich herz- und erbarmungslos zu vernichten. Landsmans Vater, zu jenem Zeitpunkt halb irre durch das frisch zugeführte Fett, den Zucker und die schleichenden bösen Folgen von Typhus, machte kurzen Prozess. Er nahm es mit jedem Ankömmling auf und schickte jeden Einzelnen so vernichtend geschlagen aus dem Einstein, dass ein oder zwei seiner Gegner ihm niemals verziehen.

Schon damals legte er die düstere, gequälte Spielweise an den Tag, die dazu beitrug, Landsman den Sport bereits als Kind zu vergällen. »Dein Vater spielte Schach«, sagte Hertz Shemets einmal, »als hätte er gleichzeitig Zahnschmerzen, Hämorrhoiden und Blähungen.« Er seufzte, er stöhnte. Wie von Sinnen zog er an den stoppeligen Resten seines braunen Haars oder jagte es mit der Hand kreuz und quer über seinen Schädel wie ein Bäckermeister, der Mehl auf einer Marmorplatte verstreut. Die Fehler seiner Gegner verursachten ihm Magenkrämpfe. Seine eigenen Züge, so wagemutig, überraschend, originell und klug sie auch waren, trafen ihn wie furchtbare Nachrichten, sodass er bei ihrem Anblick die Hand vor den Mund schlug und die Augen verdrehte.

Onkel Hertz’ Stil war ein völlig anderer. Er spielte ruhig, strahlte Gleichgültigkeit aus, hielt den Körper in einem Winkel zum Brett, als erwarte er in Kürze eine Mahlzeit auf dem Tisch vor sich oder ein hübsches Mädchen auf seinem Schoß. Aber seinen Augen entging nichts, so wie sie auch das verräterische Zittern in Tartakowers Hand an jenem Tag im Makkabi-Club bemerkt hatten. Mit stoischer Ruhe nahm er seine Niederlagen hin, seine Chancen mit leichter Belustigung. Eine Broadway nach der anderen rauchend, beobachtete er, wie sein alter Freund sich durch die versammelten Genies des Einstein wand und murmelte. Als der Raum schließlich völlig brachlag, machte Hertz den entscheidenden Zug. Er lud Isidor Landsman zu sich nach Hause ein.

Im Sommer 1948 lebte die Familie Shemets in einer Zweizimmerwohnung in einem brandneuen Gebäude auf einer brandneuen Insel. Das Gebäude war die Heimat von zwei Dutzend Familien, allesamt »Eisbären«, wie sich die erste Welle der Flüchtlinge nannte. Die Mutter schlief im Schlafzimmer, Freydl auf dem Sofa, und Hertz richtete sich ein Bett auf dem Fußboden. Inzwischen waren sie alle gestandene Alaska-Juden, das heißt: sie waren Utopisten, das heißt: sie sahen Unzulänglichkeiten, wohin sie auch blickten. Es war eine spitzzüngige, streitsüchtige Familie, insbesondere Freydl Shemets, die mit vierzehn schon einen Meter siebzig maß und einhundertzehn Kilo wog. Sie warf nur einen Blick auf Landsmans Vater, der unschlüssig zögernd in der Wohnungstür stand, und diagnostizierte zutreffend, dass er ebenso wenig kulturfähig und zugänglich wie die Wildnis sei, die sie zusehends als ihre Heimat betrachtete. Es war Liebe auf den ersten Blick.

In späteren Jahren war es schwer für Landsman, aus seinem Vater herauszubekommen, was er in Freydl Shemets gesehen hatte. Mit ihren ägyptischen Augen und der olivbraunen Haut war sie kein hässliches Mädchen. Ihre kurze Hose, die Wanderstiefel und die aufgerollten Ärmel ihres karierten Hemdes verströmten den alten Geist der Makkabi-Bewegung von mens sana in corpore sano. Sie bedauerte Isidor Landsman unendlich für den Verlust seiner Familie, für sein Leiden in den Lagern. Aber sie gehörte zu den Kindern der Eisbären, und die verarbeiteten ihre Schuldgefühle, dem Dreck, dem Hunger, den Gräben und Todesfabriken entkommen zu sein, indem sie den Überlebenden einen unablässigen Schwall von Ratschlägen, Informationen und als Ermunterung getarnte Kritik angedeihen ließen. Als könne die erstickende, tief hängende schwarze Rauchwolke der Vernichtung nur von einem überzeugten Kibitzer vertrieben werden.

In jener ersten Nacht schlief Landsmans Vater mit Hertz auf dem Boden der Shemets-Wohnung. Am nächsten Tag ging Freydl mit ihm Kleidung kaufen und bezahlte alles von dem für ihre Bat Mitzwa gesparten Geld. Sie half ihm, bei einem jüngst verwitweten Mann ein Zimmer zu mieten.

In dem Glauben, sein Haar würde nachwachsen, rieb sie seine Glatze mit Zwiebeln ein. Sie verwöhnte ihn mit Kalbsleber für sein träges Blut. In den folgenden fünf Jahren bedrängte und piesackte und plagte sie ihn, bis er gerade saß, beim Sprechen seinem Gegenüber in die Augen schaute, amerikanisches Englisch lernte und ein Gebiss trug. Sie heiratete ihn einen Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag und bekam eine Stelle bei der Tog von Sitka, wo sie sich über die Frauenseite zur Kulturredakteurin hocharbeitete. Sie schuftete an fünf Tagen in der Woche sechzig bis fünfundsiebzig Stunden, bis sie an Krebs starb. Da war Landsman auf dem College. In derselben Zeit beeindruckte Hertz Shemets die amerikanischen Anwälte von Foehn Harmattan so sehr, dass sie Spenden sammelten und an den Fäden zogen, die gezogen werden mussten, um ihn zum Jurastudium nach Seattle zu schicken. Später wurde er der erste Jude, der beim FBI in Sitka angestellt wurde, dann der erste Distriktleiter, und schließlich führte er, Hoover ins Auge gefallen, die lokale Spionageabwehr des FBI.

Landsmans Vater spielte Schach.

Jeden Morgen, bei Regen, Schnee oder Nebel, ging er zu Fuß die zwei Meilen zum Café des Hotel Einstein, setzte sich weit hinten an einen aluminiumbeschichteten Tisch mit Blick auf die Tür und holte ein kleines Schachspiel mit Figuren aus Ahorn und Kirschholz hervor, ein Geschenk seines Schwagers. Abends saß er auf seiner Bank hinter dem kleinen Haus auf der Adler Street in Halibut Point, in dem Landsman aufwuchs, und pflegte die acht oder neun Briefpartien, die er gleichzeitig spielte. Er verfasste Artikel für die Chess Review. Er überarbeitete eine Biographie von Tartakower, eine Arbeit, die er nie ganz abschloss, aber auch nicht aufgab. Er bekam eine Rente von der deutschen Regierung. Und mit Unterstützung seines Schwagers lehrte er seinen Sohn, das von ihm geliebte Spiel zu hassen.

»Das willst du doch nicht tun«, redete Landsmans Vater auf seinen Sohn ein, wenn der mit blutleeren Fingern seinen König oder Bauern einem Schicksal übergab, das immer wieder überraschend für Landsman kam, egal, wie intensiv er das Schachspiel studierte, übte oder praktizierte. »Glaub’s mir.«

»Tu ich doch.«

»Tust du nicht.«

Doch im Dienste seines eigenen kleinen Elends konnte auch Landsman stur sein. Befriedigt und brennend vor Scham sah er dann zu, wie das grausame Schicksal seinen Lauf nahm, das er nicht hatte vorausahnen können. Landsmans Vater erlegte seinen Sohn, nahm ihn aus und sezierte ihn, während er ihn von der baufälligen Veranda seines Gesichts aus beobachtete.

Nach einigen Jahren dieses Sports setzte sich Landsman an die Schreibmaschine seiner Mutter und tippte einen Brief an seinen Vater, in dem er ihm seinen Hass auf das Schachspiel beichtete und bat, nicht länger zum Spielen gezwungen zu werden. Eine Woche lang trug Landsman diesen Brief in seinem Tornister mit sich umher, erlitt drei weitere blutige Niederlagen und schickte ihn dann vom Postamt in der Untershtot aus ab. Zwei Tage später beging Isidor Landsman im Raum 21 des Hotel Einstein Selbstmord mit einer Überdosis Nembutal.

Danach bekam Landsman einige Probleme. Er nässte ins Bett, wurde dick, sprach nicht mehr. Seine Mutter schickte ihn zu einer Therapie bei einem bemerkenswert sanften und erfolglosen Arzt namens Melamed. Erst dreiundzwanzig Jahre nach dem Tod seines Vaters sollte Landsman den verhängnisvollen Brief in einer Kiste wiederfinden, in der auch eine Reinschrift der unvollendeten Biographie von Tartakower lag. Es stellte sich heraus, dass Landsmans Vater den Brief seines Sohnes niemals geöffnet, geschweige denn gelesen hatte. Als der Postbote ihn zustellte, war Landsmans Vater bereits tot.

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