14.

Und so erzählt Zimbalist ihnen eine Mendel-Geschichte.

Eine gewisse Frau, sagt er, hatte Krebs und lag im Allgemeinen Krankenhaus von Sitka im Sterben. Nennen wir sie eine Bekannte. Das war 1973. Die Frau war zweifache Witwe, ihr erster Ehemann ein vor dem Krieg in Deutschland von Schtarkern erschossener Spieler, der zweite ein Kletteraffe in Zimbalists Diensten, der sich in einer Hochspannungsleitung verfing. Weil Zimbalist die Witwe seines toten Mitarbeiters mit Bargeld und Gefälligkeiten unterstützte, lernte er sie näher kennen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich die beiden ineinander verliebten. Sie waren über das Alter närrischer Leidenschaft hinaus, und so waren sie leidenschaftlich, ohne Narren zu sein. Sie war eine dunkle, schlanke Frau, bereits geübt in der Gewohnheit, ihre Lüste zu zügeln. Sie hielten die Affäre vor allen geheim, nicht zuletzt vor Mrs. Zimbalist.

Um seine erkrankte Freundin im Krankenhaus besuchen zu können, verlegte sich Zimbalist auf Ausflüchte, Heimlichkeiten und die Bestechung von Krankenpflegern. Zusammengerollt zwischen ihrem Bett und der Wand schlief er auf einem Handtuch am Boden. Wenn seine Geliebte im Halbdunkel aus den Tiefen des Morphiumrausches aufschrie, tröpfelte er Wasser zwischen ihre gesprungenen Lippen und kühlte ihre Stirn mit einem feuchten Tuch. Die Uhr an der Wand summte vor sich hin und brach mit dem Minutenzeiger zunehmend unruhig kleine Bröckchen der Nacht ab. Morgens kroch Zimbalist zurück zu seinem Geschäft auf der Ringelblum Avenue — seiner Frau sagte er, er würde dort schlafen, weil er so schlimm schnarche — und wartete auf den Jungen.

Fast jeden Morgen erschien Mendel Shpilman nach dem Beten und dem Thorastudium, um Schach zu spielen. Schach war erlaubt, obwohl das Verbover Rabbinat und die größere Gemeinschaft der Frommen es als Zeitverschwendung für den Jungen betrachteten. Je älter Mendel wurde — je strahlender seine meisterhafte Auffassungsgabe, je leuchtender die Berühmtheit seines frühreifen Scharfsinns —, desto schmerzlicher erschien diese Verschwendung. Es war nicht nur Mendels Gedächtnis, sein wendiges Denken, sein Erfassen von Präzedenzfällen, Geschichte, Gesetzen. Nein, schon als Kind schien Mendel Shpilman intuitiv das chaotische, menschliche Gewässer zu begreifen, das das Rechtssystem betrieb und gleichzeitig ein ausgeklügeltes System von Schleusen und Ablaufkanälen nötig machte. Angst, Zweifel, Lust, Unehrlichkeit, Eidesbruch, Mord und Liebe, Unsicherheit über die Absichten von Gott und den Menschen — das alles erkannte der kleine Mendel nicht nur im aramäischen Abstraktum, sondern auch wenn es im Studierzimmer seines Vaters auftauchte, gewandet in den dunklen Twill und die kräftige Muttersprache des Alltags. Falls je Konflikte im Kopf des Jungen entstanden, Zweifel an der Bedeutung des Rechtssystems, das er am Verbover Hof zu Füßen einer Schar ausgewachsener Gannefs und Gauner lernte, so war nichts davon zu merken. Nicht als gläubiges Kind und nicht als der Tag kam, da er allem den Rücken kehrte. Mendel hatte einen Kopf, der widersprüchliche Lehrmeinungen nebeneinanderstellen konnte, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten.

Nur weil die Shpilmans so stolz auf seine Vortrefflichkeit als jüdischer Sohn und Gelehrter waren, tolerierten sie jene Seite von Mendels Charakter, die am liebsten spielte. Unablässig dachte sich Mendel komplizierte Streiche und Juxe aus und führte Stücke mit seinen Schwestern, Tanten und der Ente auf. Manche fanden, das größte Wunder vollbrachte Mendel, wenn er seinen eindrucksvollen Vater alljährlich überzeugte, die Rolle der Königin Waschti im Purimspiel zu übernehmen. Der Anblick dieses düsteren Herrschers, dieses Gebirges von Würde, dieses furchterregenden Klotzes, wenn er auf hohen Absätzen herumtrippelte! Die blonde Perücke! Lippenstift und Rouge, Flitter und Glitter! Es mag der grausigste Auftritt als Frau gewesen sein, den das Judentum je hervorbrachte. Die Leute liebten die Nummer. Und sie liebten Mendel, weil er sie Jahr für Jahr möglich machte. Dabei war sie nur ein weiterer Beweis für die Liebe, die Heskel Shpilman für diesen Jungen hegte. Und mit derselben liebevollen Nachsicht wurde es Mendel gestattet, täglich eine Stunde mit dem Schachspiel zu verschwenden, unter der Bedingung, dass er seinen Gegner unter den Gläubigen von Verbov wählte.

Mendel wählte den Grenz-Mejwen, den einsamen Außenseiter in ihrer Mitte. Es war ein kleines Zeichen der Rebellion oder Halsstarrigkeit, die in späteren Jahren noch so mancher wiedertreffen sollte. Doch in der Sphäre von Verbov hatte überhaupt nur Zimbalist die minimale Chance, den Jungen zu schlagen.

»Wie geht es ihr?«, sagte Mendel eines Morgens zu Zimbalist, als seine Freundin nun schon zwei Monate im Krankenhaus von Sitka vor sich hin starb und fast aus dem Leben schied.

Zimbalist bekam einen Schock bei der Frage, natürlich nicht zu vergleichen mit dem Schicksal des zweiten Gatten der Witwe, doch es reichte, um sein Herz ein oder zwei Schläge lang aussetzen zu lassen. Er könne sich an jede Partie erinnern, die er je mit Mendel Shpilman ausgetragen habe, sagt er, nur an diese eine nicht; nur ein einziger Zug sei ihm von diesem Spiel im Gedächtnis geblieben. Zimbalists Frau war eine Shpilman, eine Cousine des Jungen.

Zimbalists Auskommen, seine Ehre, vielleicht sogar sein Leben hingen davon ab, dass das Geheimnis des Ehebruchs gewahrt blieb. Er war sich vollkommen sicher, dass das bisher der Fall gewesen war. Über seine Drähte und Fäden erspürte der Grenz-Mejwen jedes Flüstern und jedes Gerücht, so wie eine Spinne die im Netz zappelnde Fliege in ihren Beinen spürt. Es war unmöglich, dass Mendel Shpilman etwas zu Ohren gekommen war, ohne dass Zimbalist vorher davon gehört hätte.

Er fragte: »Wie geht es wem?«

Der Junge schaute ihn an. Mendel war kein hübsches Kind. Er hatte allzeit gerötete Wangen, eng stehende Augen, ein zweites Kinn und sogar den Anflug eines dritten, ohne dass das erste klar zu erkennen gewesen wäre. Aber seine Augen waren, wenn auch zu klein und zu nah am Nasenrücken, intensiv und voller Farben — wie die Flecken auf einem Schmetterlingsflügel: blau, grün, golden. Mitleid, Spott, Vergebung. Urteilsfrei. Vorwurfsfrei.

»Schon gut«, sagte Mendel sanft. Dann setzte er den Damenläufer an seinen ursprünglichen Platz auf dem Brett zurück.

Sosehr Zimbalist auch grübelte, er konnte keinen Sinn in diesem Zug erkennen. In einem Moment kam es ihm vor, als künde der Zug von einer phantastischen Schule des Schachs oder spiele auf sie an. Im nächsten Moment schien er nur das zu sein, was er aller Wahrscheinlichkeit nach war: eine Art Zurücknahme, angeboten in der Hoffnung, dass sie, anders als die vorhergehende Frage, den Freund weder übertölpelte noch erschreckte.

Im Laufe der nächsten Stunde bemühte sich Zimbalist, den kleinen Zug zu verstehen und die Kraft aufzubringen, einem Zehnjährigen, dessen Universum von Lehrhaus, Schul und der Tür zu der Küche seiner Mutter begrenzt wurde, nicht das Leid und das düstere Verzücken seiner Liebe zu der sterbenden Witwe anzuvertrauen, dem Jungen nicht zu beichten, wie jedes Mal ein unbekannter Durst in ihm selbst gelöscht wurde, wenn er ihr das kühle Wasser auf die blättrigen Lippen träufelte.

Sie spielten ohne weitere Unterhaltung bis zum Ende der Stunde. Doch als es für den Jungen Zeit wurde zu gehen, drehte er sich in der Tür des Geschäfts auf der Ringelblum Avenue um und fasste Zimbalist am Ärmel. Zögernd, als sträube oder schäme er sich. Vielleicht hatte er auch Angst. Dann bekam er einen harten, verkniffenen Gesichtsausdruck, in dem Zimbalist die verinnerlichte Stimme des Rebbes erkannte, wenn der seinen Sohn an die Pflicht gemahnte, der Gemeinschaft zu dienen.

»Wenn Sie sie heute sehen«, sagte Mendel, »sagen Sie ihr, dass ich ihr meinen Segen schicke. Dass ich sie grüßen lasse.«

»Das mache ich«, sagte Zimbalist oder meinte, es gesagt zu haben.

»Richten Sie ihr von mir aus, dass alles gut werden wird.«

Dieses Äffchengesicht, dieser traurige Mund und dieser Blick, der sagte, dass er einen vielleicht nur auf den Arm nahm, sosehr er einen auch kannte und liebte.

»Oh, das mache ich«, sagte Zimbalist, dann brach er schluchzend zusammen. Der Junge holte ein sauberes Taschentuch hervor und reichte es Zimbalist. Geduldig hielt er dem Grenz-Mejwen die Hand. Mendels Finger waren weich, ein wenig klebrig. Auf die Innenseite seines Handgelenks hatte seine kleinere Schwester Reyzl mit roter Tinte ihren Namen geschrieben. Als Zimbalist die Fassung zurückgewann, ließ Mendel seine Hand los und stopfte sich das feuchte Taschentuch in die Hosentasche.

»Bis morgen«, sagte er.

Als Zimbalist in jener Nacht auf die Krankenstation schlich, trichterte er seiner bewusstlosen Geliebten den Segen des Jungen ins Ohr, kurz bevor er sein Handtuch auf dem Boden ausbreitete. Er tat es ohne Hoffnung und mit nur sehr wenig Glauben. In der Dunkelheit um fünf Uhr morgens weckte Zimbalists Freundin ihn und sagte, er solle nach Hause gehen und mit seiner Frau frühstücken. Es waren die ersten verständlichen Sätze, die sie seit Wochen von sich gegeben hatte.

»Haben Sie ihr meinen Segen erteilt?«, fragte Mendel, als sie sich am nächsten Morgen zum Schachspiel hinsetzten.

»Ja.«

»Wo ist sie?«

»Im Krankenhaus.«

»Mit anderen Menschen? Auf einer Station?«

Zimbalist nickte.

»Haben Sie meinen Segen auch den anderen Menschen gegeben?«

Das war Zimbalist nicht in den Sinn gekommen.

»Ich habe nicht mit ihnen gesprochen«, sagte er. »Ich kenne sie nicht.«

»Es war mehr als genug Segen für alle«, teilte Mendel ihm mit. »Sagen Sie es den Leuten. Geben Sie ihn heute Abend weiter.«

Doch als Zimbalist seine Freundin am Abend besuchen wollte, war sie auf eine andere Station verlegt worden, eine Station, wo niemand in Todesgefahr schwebte, und irgendwie vergaß Zimbalist den Auftrag des Jungen. Zwei Wochen später schickten die Ärzte die Frau unter verwirrtem Kopfschütteln zurück nach Hause. Wiederum zwei Wochen später zeigte das Röntgenbild keine Spur von Krebs in ihrem Körper.

Da hatten Zimbalist und die Frau ihre Affäre bereits in gegenseitigem Einvernehmen beendet, und Zimbalist schlief wieder jede Nacht im ehelichen Bett. Die täglichen Treffen mit Mendel hinten in seiner Werkstatt auf der Ringelblum Avenue wurden noch eine Weile fortgeführt, dann fand Zimbalist, er habe die Freude daran verloren. Das augenscheinliche Wunder der Krebsheilung veränderte seine Beziehung zu Mendel Shpilman für alle Zeit. Zimbalist konnte ein gewisses Schwindelgefühl nicht abschütteln, wann immer Mendel ihn mit seinen eng stehenden, von Mitleid und Gold befleckten Augen ansah. Der Glaube des Grenz-Mejwens an die Ungläubigkeit war durch die einfache Frage Wie gebt es ihr? erschüttert worden, durch ein Dutzend Worte des Segens, durch einen schlichten Schachzug, der ein Schachspiel erahnen ließ, das über das hinausging, was Zimbalist kannte.

Als Vergeltung für das Wunder arrangierte Zimbalist das geheime Treffen zwischen Mendel und Melekh Gaystik, dem König des Café Einstein und zukünftigen Weltmeister. Drei Partien im Hinterzimmer des Geschäfts auf der Ringelblum Avenue, und der Junge gewann zwei von dreien. Als diese List entdeckt wurde — die andere nicht, es erfuhr niemals jemand von der Affäre —, wurden Mendel Shpilman die Besuche bei Zimbalist verboten. Danach verbrachten die beiden nie wieder eine gemeinsame Stunde am Brett.

»Das kommt davon, wenn man seinen Segen erteilt«, sagt Zimbalist, der Grenz-Mejwen. »Aber Mendel Shpilman brauchte lange, um das zu begreifen.«

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