17.

Man sehe sich Landsman an: ein Hemdschoß hängt heraus, der schneebestäubte Filzhut ist nach links verrutscht, der Mantel baumelt an einem Daumen über der Schulter. Er klammert sich an einen himmelblauen Caféteria-Bon, als sei das der Riemen, der ihn auf den Füßen halte. Seine Wangen haben eine Rasur nötig. Sein Rücken macht ihn fertig. Aus Gründen, die er nicht versteht — oder vielleicht ohne Grund —, hat er seit halb zehn am Morgen keinen Alkohol mehr getrunken. In der verchromten, gekachelten Trostlosigkeit der Kafeteria Polar-Shtern um neun Uhr am Freitagabend ist er während eines Schneesturms der einsamste Jude im Distrikt Sitka. Er spürt, dass etwas Dunkles, Unwiderstehliches in ihm das Gewicht verlagert; hundert Tonnen schwarzer Erde auf einem Berghang schürzen die Röcke, um nach unten zu rutschen. Bei dem Gedanken an Essen, und sei es nur der Goldbarren von Nudelauflauf, das Kronjuwel der Kafeteria Polar-Shtern, wird Landsman übel. Doch er hat den ganzen Tag noch nichts gegessen.

In Wirklichkeit weiß Landsman natürlich, dass er längst nicht der einsamste Jude im Distrikt Sitka ist. Er verachtet sich selbst, überhaupt diese Ansicht zu hegen. Sein Selbstmitleid ist der Beweis, dass er im Spundloch kreist, sich nach innen und immer weiter nach unten schraubt, tief hinab. Um dieser Corioliskraft zu widerstehen, verlässt sich Landsman auf drei Strategien. Die erste ist Arbeit, aber die Arbeit ist jetzt offiziell ein Witz. Die zweite ist Alkohol. Der beschleunigt und verlängert den Sturz zwar nur und lässt Landsman tiefer sinken, aber wenigstens hilft er beim Vergessen. Die dritte Taktik ist, etwas zu essen. Deshalb trägt er seinen blauen Bon und sein Tablett zu der großen litauischen Dame mit dem Haarnetz, den Polyethylenhandschuhen und dem Metalllöffel hinter der Glastheke und reicht es hinüber.

»Die Käseblintzen bitte«, sagt er, obwohl er keine Käseblintzen will und sich überhaupt nicht die Mühe macht nachzusehen, ob sie heute auf der Speisekarte stehen. »Wie geht’s, Mrs. Nemintziner?«

Mrs. Nemintziner bugsiert drei pralle Blintzen auf einen weißen Teller mit einem blauen Randstreifen. Um die Abendmahlzeiten der einsamen Seelen von Sitka zu dekorieren, hat Mrs. Nemintziner mehrere Dutzend Scheiben sauer eingelegten Holzapfels auf Salatblättern vorbereitet. Sie verziert Landsmans Essen mit einem dieser Gestecke. Dann stanzt sie seinen Bon ab und stößt ihm den Teller entgegen.

»Wie soll’s mir schon gehen?«, sagt sie.

Landsman räumt ein, dass die Antwort auf diese Frage zu hoch für ihn ist. Er trägt sein Tablett mit den mit Hüttenkäse gefüllten Blintzen zu den Kaffeemaschinen und zapft sich einen Becher. Er reicht seinen gestanzten Bon und das Geld an die Kassiererin weiter, dann wandert er durch das Ödland des Essbereichs, vorbei an zwei Rivalen um den Titel des einsamsten Juden. Landsman steuert auf seinen bevorzugten Tisch am Fenster zu, wo er die Straße im Auge hat. Am Nebentisch hat jemand einen halb gegessenen Teller mit Corned Beef und Salzkartoffeln und ein halb leeres Glas hinterlassen, das offenbar schwarze Kirschlimonade enthält. Das verlassene Mahl, die befleckte, zerknitterte Serviette erfüllen Landsman mit der leichten Übelkeit böser Ahnungen. Aber es ist sein Tisch, und es steht nun mal fest, dass ein Nos gerne die Straße im Auge hat. Landsman setzt sich, stopft sich die Serviette in den Kragen, schneidet ein Käseblintzen auf und schiebt sich den Bissen in den Mund. Er kaut. Er schluckt. Braver Junge.

Einer seiner Rivalen heute Abend im Polar-Shtern ist ein Zocker unterster Schublade namens Penguin Simkowitz, der vor ein paar Jahren schlecht mit dem Geld eines anderen umging und so schlimm von Schtarkern zusammengeschlagen wurde, dass sein Hirn und seine Sprache beeinträchtigt sind. Der andere Rivale sitzt vor einem Teller Sahnehering, aber Landsman kennt ihn nicht. Die linke Augenhöhle des Jid ist hinter einem hautfarbenen Verband verborgen. Sein linkes Brillenglas fehlt. Die Behaarung beschränkt sich auf drei daunenweiche graue Flecken an der Stirn. Beim Rasieren hat der Mann sich in die Wange geschnitten. Als er anfängt, lautlos in den Sahnehering zu weinen, kippt Landsman seinen König um.

Dann erblickt er Buchbinder, den Archäologen des Wahns. Ein Zahnarzt. Sein Talent mit Zange und Wachsausschmelzverfahren brachte ihn auf klassische Zahnarztmanier dazu, sich einen feierabendgeeigneten Miniaturwahnsinn zuzulegen wie beispielsweise Schmuckherstellung oder Puppenhausvertäfelung. Aber dann ging es, wie es bei Zahnärzten manchmal der Fall ist, ein wenig mit Buchbinder durch. Der stärkste, älteste Wahn der Juden ergriff Besitz von ihm. Er begann die Utensilien und die Kleidung der alten Kohanim nachzubilden, der Hohepriester Jahwes. Zuerst maßstabsgetreu, aber bald in Originalgröße. Bluteimer, Fleischspieße, Ascheschaufeln, alles wie von Leviticus für die alten heiligen Grillfeste in Jerusalem vorgeschrieben. Früher hatte Buchbinder ein Museum, vielleicht gibt es das noch, oben, am heruntergekommenen Ende der Ibn-Ezra Street. Ein Ladenlokal in dem Gebäude, wo Buchbinder schlichten Juden die Zähne zog. Der aus Pappe nachgebaute Tempel Salomons im Schaufenster war unter einem Sandsturm von Staub begraben und mit Cherubim und toten Fliegen verziert. Oft wurde der Laden von Junkies der Nachbarschaft mutwillig zerstört. Wer in der Untershtot Streife ging, wurde regelmäßig gerufen, kam um drei Uhr morgens hin und traf Buchbinder an, weinend inmitten seiner zerstörten Schaukästen, und ein Scheißhaufen trieb in einem vergoldeten Kupferrauchfass des Hohepriesters.

Als Buchbinder Landsman sieht, kneift er die Augen argwöhnisch oder kurzsichtig zusammen. Auf der Rückkehr vom Männerklo zu seinem Teller mit Corned Beef und seiner Kirschlimonade bearbeitet er die Knöpfe seines Hosenstalls mit der Geistesabwesenheit eines Mannes, der sich mit einer sinnlosen Schlussfolgerung über die Welt beschäftigt. Buchbinder ist ein kräftiger Mann, ein Deutscher, gewandet in eine Strickjacke mit Raglanärmeln und Schärpe. Zwischen seinem gewölbten Bauch und der geknoteten Schärpe gibt es Hinweise auf vergangenen Hader, doch scheint man zu einem Einvernehmen gekommen zu sein. Eine Tweedhose, an den Füßen Wanderschuhe. Dunkelblonde Haare und ein Bart mit grauen und silbernen Einsprengseln. Eine silberne Schnalle hält eine bunt bestickte Jarmulke auf seinem Hinterkopf. Er wirft ein Lächeln in Landsmans Richtung, als ließe er einen Vierteldollar in den Becher eines Krüppels fallen, fischt einen klein gedruckten Wälzer aus seiner Jackentasche und setzt seine Mahlzeit fort. Er wiegt sich vor und zurück, liest und kaut, summt ein kleines Lied.

»Haben Sie immer noch dieses Museum, Herr Doktor?«, fragt Landsman.

Verdutzt schaut Buchbinder auf, versucht den störenden Fremden mit den Blintzen einzuordnen.

»Landsman, Sitka Central. Vielleicht erinnern Sie sich, ich habe früher —«

»Ach ja«, sagt Buchbinder mit dünnem Lächeln. »Wie geht es Ihnen? Wir sind ein Institut, kein Museum, aber das ist schon in Ordnung.«

»Entschuldigung.«

»Ist ja nichts passiert«, sagt er. Sein geschmeidiges Jiddisch wird gestützt von einem förmlichen Drahtgestell deutschen Akzents, an dem er und die anderen Jekkes selbst nach sechzig Jahren noch stur festhalten. »Ein häufiger Fehler.«

So häufig kann der auch wieder nicht sein, denkt Landsman, aber sagt: »Immer noch oben auf der Ibn-Ezra?«

»Nein«, sagt Dr. Buchbinder. Mit der Serviette wischt er sich einen Streifen braunen Senfs von den Lippen. »Nein, Sir, ich habe zugemacht. Offiziell und endgültig.«

Er redet geschwollen, fast feierlich, was Landsman angesichts des Inhalts seiner Erklärung sonderbar vorkommt.

»Harte Gegend«, versucht es Landsman.

»Oh, das waren Tiere«, sagt Buchbinder so fröhlich wie zuvor. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Male sie mir das Herz gebrochen haben.« Er stopft sich eine letzte Gabel Corned Beef in den Mund und unterzieht sie einer anständigen Zahnbehandlung. »Aber ich bezweifle, dass sie mich an meinem neuen Standort belästigen werden.«

»Und wo ist das?«

Buchbinder lächelt, betupft seinen Bart, schiebt sich vom Tisch zurück. Er hebt eine Augenbraue und behält die große Überraschung noch etwas länger für sich.

»Wo wohl?«, sagt er schließlich. »In Jerusalem.«

»Wow«, sagt Landsman und macht eine völlig unbewegte Miene. Die Regularien für die Aufnahme von Juden in Jerusalem hat Landsman noch nie gesehen, aber er ist sich ziemlich sicher, dass besessene religiöse Eiferer nicht ganz oben auf der Liste stehen. »Jerusalem, hm? Das ist weit weg.«

»Ja.«

»Mit Sack und Pack?«

»Mit dem ganzen Geschäft.«

»Kennen Sie dort jemanden?«

Es gibt noch Juden in Jerusalem, so wie es dort immer welche gegeben hat. Einige. Sie waren schon da, bevor die Zionisten mit ihren Überseekoffern voll hebräischer Wörterbücher, Landwirtschaftsanleitungen und jeder Menge Ärger für alle auftauchten.

»Eigentlich nicht«, sagt Buchbinder. »Nun ja, abgesehen von —« Er hält inne und senkt die Stimme. » — Messias.«

»Na, das ist doch ein guter Anfang«, sagt Landsman. »Hab gehört, er hat die besten Beziehungen.«

Buchbinder nickt, unerreichbar im geheiligten Zuckerwürfel seiner Träume.

»Mit Sack und Pack«, sagt er. Er steckt sein Buch in die Jackentasche zurück und stopft sich und seine Strickjacke in einen alten blauen Anorak. »Gute Nacht, Landsman.«

»Gute Nacht, Dr. Buchbinder. Legen Sie bei Messias ein gutes Wort für mich ein.«

»Ach«, sagt er, »das ist nicht nötig.«

»Nicht nötig oder sinnlos?«

Abrupt werden die fröhlichen Augen so stählern wie die Rückseite des Zahnarztspiegels. Mit der Erfahrung von fünfundzwanzig Jahren unermüdlichen Suchens nach schwachen oder verfaulten Stellen prüfen sie Landsmans Zustand. Ganz kurz zweifelt Landsman am Wahnsinn des Mannes.

»Das liegt an Ihnen«, sagt Buchbinder. »Nicht wahr?«

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