19.

Als das Telefon Landsman am nächsten Morgen um sechs Uhr weckt, sitzt er in seiner weißen Unterhose im Ohrensessel und hält seine M-39 zärtlich in der Hand.

Tenenboym macht gerade Feierabend. »Sie wollten geweckt werden«, sagt er und legt auf.

Landsman kann sich nicht erinnern, einen Weckruf bestellt zu haben. Er kann sich nicht erinnern, die Flasche Sliwowitz weggeputzt zu haben, die leer auf der zerkratzten Urethanfläche des Eichenfurniertisches neben dem Ohrensessel steht. Er kann sich nicht erinnern, den Nudelauflauf gegessen zu haben, dessen letztes Drittel in einer Ecke des muschelförmigen Plastikbehälters neben der Flasche Sliwowitz kauert. Durch die Anordnung der bunten Glasscherben auf dem Boden rekonstruiert er, dass er sein Schnapsglas von der Weltausstellung 1977 in Sitka gegen die Heizung geschleudert hat. Vielleicht war er frustriert, weil er keine Fortschritte auf dem Plastikschachbrett machte, das jetzt bäuchlings unter seinem Bett liegt, die winzigen Figuren großzügig im Raum verteilt. Aber er kann sich weder an den Wurf als solchen noch an das Splittern des Glases erinnern. Vielleicht hat er auf etwas oder jemanden angestoßen, und die Heizung sollte ein Kamin sein. Er weiß es nicht mehr. Aber man kann nicht behaupten, dass ihn irgendetwas an der verwahrlosten Szenerie von Zimmer 505 überrascht, schon gar nicht die geladene Scholem in seiner Hand.

Er prüft den Schlagbolzen und steckt die Waffe zurück in das Holster, das über der Rückenlehne des Ohrensessels hängt. Dann geht er hinüber zur Wand und zerrt das Schrankbett aus seinem Versteck. Er schält die Decke zurück und steigt hinein. Die Bettwäsche ist sauber und riecht nach Dampfbügelpresse und dem Staub dieses Wandlochs. Nun kann sich Landsman schwach erinnern, irgendwann gegen Mitternacht den romantischen Plan gefasst zu haben, früh zur Arbeit zu gehen, nachzusehen, was die Rechtsmediziner und die Ballistiker im Shpilman-Fall herausbekommen haben, vielleicht sogar auf die Inseln rauszufahren, in die Russengegend, und dem Patzer und ehemaligen Knastbruder Vassily Shitnovitzer ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. Sein Bestes tun, sich richtig reinhängen, bevor Bina um neun Uhr zur Zange greift und ihm Zähne und Klauen zieht. Wehmütig muss Landsman über den halsstarrigen jungen Draufgänger lächeln, der er noch in der Nacht war. Sich um sechs Uhr morgens wecken zu lassen!

Er zieht die Decke über den Kopf und schließt die Augen. Ungebeten stellt sich die Formation von Bauern und Figuren auf dem Schachbrett in seinem Kopf auf. In der Brettmitte wird der schwarze König bedrängt, ohne dass ihm Schach geboten würde. Der weiße Bauer in Reihe b ist kurz davor, etwas Besseres zu werden — eine Dame, ein Läufer. Landsman braucht das Taschenspiel nicht mehr; zu seinem Entsetzen hat er alles auswendig im Kopf. Er versucht, es zu vertreiben, es auszulöschen, die Figuren beiseitezuwischen und alle weißen Quadrate schwarz anzumalen. Ein rein schwarzes Schachbrett, unbefleckt durch Steine oder Spieler, Eröffnungen oder Endspiele, Tempo, Taktik oder Materialvorteil, schwarz wie die Baranof-Berge.

Und Landsman liegt immer noch dort, alle weißen Quadrate im Kopf ausgelöscht, in Unterhose und Socken, als es an der Tür klopft. Mit dem Gesicht zur Wand setzt er sich auf, sein Herz ist eine an seine Schläfen schlagende Trommel, er zieht das Laken über sich, als wäre er ein Kind, das jemanden als Gespenst erschrecken will. Er hat auf dem Bauch gelegen, vielleicht etwas länger. Jetzt fällt ihm wieder ein, dass er auf dem Grunde einer Gruft in schwarzer Erde, in einer lichtlosen Höhle eine Meile unter der Erdoberfläche die fernen Vibrationen seines Shoyfer hörte und später das sanfte Zirpen des Telefons auf dem Eichenfurniertisch. Aber er war so tief unter der Erde begraben, dass er, selbst wenn die Telefone nur in seinem Traum existiert hätten, nicht die Kraft oder die Lust gehabt hätte, sich zu melden. Sein Kopfkissen ist mit einer übelriechenden Suppe aus alkoholischem Schweiß, Panik und Speichel getränkt. Landsman sieht auf die Uhr. Es ist zwanzig nach zehn.

»Meyer?«

Landsman lässt sich aufs Bett zurückfallen, die Füße am Kopfende, verheddert im Laken.

»Ich kündige«, sagt er. »Bina, ich kündige.«

Bina erwidert nicht sofort etwas. Landsman hofft, dass sie seine jetzt eh überflüssige Kündigung angenommen hat, dass sie zum Revier und dem Mann von der Beerdigungsgesellschaft zurückgekehrt ist, zurück zu ihrem Projekt, von einer jüdischen Polizistin zu einer Beamtin des großen Bundesstaates Alaska zu werden. Sobald Landsman überzeugt ist, dass Bina fort ist, will er das Hausmädchen, das einmal die Woche die Bettwäsche und die Handtücher wechselt, überreden, ihn zu erschießen. Dann muss Bina ihn nur noch beerdigen, indem sie das Bett wieder zurück in den Schrank drückt. Seine Klaustrophobie, seine Angst vor dem Dunkeln können ihn dann nicht mehr behelligen.

Kurz darauf hört er den Bart eines Schlüssels im Schloss, und die Tür von Zimmer 505 schwingt auf. Bina schleicht sich herein, so wie man in ein Krankenzimmer in der Kardiologie schleicht, wenn man sich auf einen Schock gefasst macht, auf eine Mahnung an die eigene Sterblichkeit, auf grausame Wahrheiten über den Körper.

»Jesus fucking Christ!«, sagt sie mit ihrem fehlerlosen, harten Akzent. Der Ausdruck kommt Landsman immer merkwürdig vor, zumindest würde er Geld dafür geben, ihn einmal ausgeführt zu sehen.

Bina watet durch die Bestandteile von Landsmans grauem Anzug, steigt über ein Badetuch und bleibt vor dem Bett stehen. Ihre Augen registrieren die rosa Tapete mit dem aufgeflockten bordeauxroten Girlandenmotiv, den grünen Plüschteppich mit seinem Zufallsmuster aus Brandlöchern und geheimnisvollen Flecken, das kaputte Glas, die leere Flasche, das blättrige, gesplitterte Furnier der Sperrholzmöbel. Landsman sieht ihr zu, den Kopf am Fußende des Schrankbetts, und erfreut sich an ihrem entsetzten Gesichtsausdruck, denn wenn er das nicht täte, müsste er sich schämen.

»Was heißt ›Drecksloch‹ auf Esperanto?«, fragt Bina.

Sie geht zum Tisch und blickt auf die letzte verwahrloste Locke Nudelauflauf in der fettverklebten Muschelform.

»Wenigstens hast du was gegessen.«

Sie dreht den Ohrensessel zum Bett herum und lässt ihre Umhängetasche zu Boden gleiten. Sie untersucht die Sitzfläche. Ihrem Gesicht kann er ablesen, dass sie sich fragt, ob sie die Sitzfläche mit etwas Ätzendem oder Antibakteriellem aus ihrer Zaubertasche bearbeiten soll. Schließlich lässt sie sich in den Ohrensessel sinken, ganz vorsichtig. Bina trägt einen grauen Hosenanzug aus einem glänzenden Material mit einem schillernden schwarzen Schimmer. Unter dem Blazer hat sie ein Seidentop in Blassgrün. Ihr Gesicht ist nackt, abgesehen von zwei Lippenstiftstrichen. Zu dieser Stunde lässt Binas allmorgendliche Übung, ihr wirres Haar mit Nadeln und Clips unter Kontrolle zu bringen, sie noch nicht im Stich. Wenn sie gut geschlafen haben sollte in der letzten Nacht, in ihrem schmalen Bett im alten Kinderzimmer im obersten Stockwerk eines Zweifamilienhauses auf Japonski Island, wo unten der alte Mr. Oysher mit seiner Beinprothese herumpoltert, so sieht man nichts davon in ihrem eingefallenen, überschatteten Gesicht. Ihre Augenbrauen sind wieder sehr aneinander interessiert. Ihre geschminkten Lippen sind zu einem ziegelroten, zwei Millimeter breiten Schlitz gespannt.

»Und, wie läuft’s heute Morgen, Inspector?«

»Ich warte nicht gerne, Meyer«, sagt sie. »Schon gar nicht auf dich.«

»Vielleicht hast du mich nicht gehört«, sagt Landsman. »Ich kündige.«

»Das ist lustig, weil die Wiederholung dieses speziellen Schwachsinns erstaunlich wenig dazu beiträgt, meine Laune zu heben.«

»Ich kann nicht für dich arbeiten, Bina. Komm! Das ist einfach Wahnsinn! Genau der Wahnsinn, den man im Moment von der Abteilung erwartet. Wenn es so schlimm ist, wenn es schon so weit ist, dann vergiss es! Ich habe dieses ganze Gelaber von ›jeden mal drankommen lassen‹ so was von satt. Also, nu, ich hör auf. Wozu brauchst du mich überhaupt? Kleb doch schwarze Etiketten auf all deine Fälle. Geöffnet, geschlossen. Wen interessiert das? Ist eh nur ein Haufen toter Juden.«

»Ich habe mir den Stapel noch mal angesehen«, sagt sie. Landsman merkt, dass sie sich nach all den Jahren die aufregende Kraft bewahrt hat, ihn und seine schwarzen Schübe zu ignorieren. »Ich hab in keiner Akte irgendwas gesehen, das irgendwie den Anschein hätte, als hätte es mit den Verbovern zu tun.« Bina greift in ihre Tasche und holt eine Packung Broadways hervor, schüttelt eine heraus und schiebt sie sich zwischen die Lippen. Die nächsten neun Worte sagt sie so beiläufig, dass Landsman sofort argwöhnisch wird. »Außer vielleicht der Junkie, den du unten gefunden hast.«

»Da hast du auch einen schwarzen Reiter draufgeklebt«, erwidert Landsman mit der perfektionierten Unaufrichtigkeit eines Polizisten. »Bina, rauchst du wieder?«

»Tabak, Quecksilber.« Sie streift eine Locke zurück und zündet ihre Papiros an, bläst den Rauch aus. »Mal dies, mal das.«

»Gib mir auch eine.«

Sie reicht ihm die Broadway, und er setzt sich auf, wickelt sich sorgfältig in eine Toga aus Bettwäsche. Bina mustert ihn in seiner Pracht und zündet die zweite Papiros an. Sie registriert das graue Haar um seine Brustwarzen, die nachlassende Spannkraft in seiner Taille, seine knubbeligen Knie.

»Mit Socken und Unterwäsche im Bett«, sagt sie. »Immer schon ein schlechtes Zeichen bei dir.«

»Ich schätze, ich habe den Cafard«, sagt er. »Ich schätze, es hat mich letzte Nacht irgendwie überfallen.«

»Letzte Nacht?«

»Letztes Jahr?«

Sie schaut sich nach etwas um, das sie als Aschenbecher benutzen kann.

»Bist du gestern mit Berko auf Verbov Island gewesen«, sagt sie, »um in der Lasker-Sache rumzuschnüffeln?«

Es ist sinnlos, sie zu belügen. Aber Landsman hat sich viel zu lange Anordnungen widersetzt, um jetzt auf einmal die Wahrheit zu sagen.

»Hast du keinen Anruf bekommen?«, fragt er.

»Einen Anruf? Von Verbov Island? An einem Samstagmorgen? Wer soll mich von da an einem Samstagmorgen anrufen?« Ihr Blick wird argwöhnisch, die Augen werden schmaler in den Winkeln. »Was hätte man mir denn sagen sollen?«

»Tut mir leid«, sagt Landsman. »Entschuldige mich. Ich muss mal dringend.«

Er erhebt sich, steht in Unterwäsche da, das Laken um sich geschlungen. Er tappt um das Bett herum zu dem kleinen Badezimmer mit dem Waschbecken, dem Stahlspiegel und dem Duschkopf. Es gibt keinen Duschvorhang, nur den Abfluss in der Mitte des Raumes. Landsman schließt die Tür und uriniert lange mit aufrichtigem Vergnügen. Er legt die brennende Papiros auf den Rand der Toilettenspülung und bearbeitet sein Gesicht rasch mit Seife und Waschlappen. An einem Haken hinter der Tür hängt ein wollener Bademantel mit einem Indianermuster aus roten, grünen, gelben und schwarzen Streifen. Er zieht ihn an. Er steckt die Papiros wieder zwischen die Lippen und schaut sich in dem zerkratzten Rechteck polierten Stahls über dem Waschbecken an. Was er sieht, kann ihn unmöglich überraschen oder ihm unbekannte Tiefen offenbaren. Er zieht die Toilette ab und geht zurück ins Zimmer.

»Bina«, sagt er. »Ich kannte diesen Mann nicht. Er wurde mir in den Weg gelegt. Wahrscheinlich hätte ich ihn kennenlernen können, aber ich hatte kein Interesse. Wenn dieser Mann und ich uns kennengelernt hätten, wären wir vielleicht Freunde geworden. Vielleicht auch nicht. Er hatte es mit Heroin, und das reichte ihm wohl. Tut es meistens. Aber ob ich ihn nun kannte oder nicht, ob wir händchenhaltend unten auf dem Sofa in der Lobby zusammen alt geworden wären, darum geht es nicht. Jemand kam in dieses Hotel, in mein Hotel, und schoss dem Mann in den Hinterkopf, als er im Land der Träume war. Das ärgert mich. Vergiss mal die generellen Einwände, die ich vielleicht im Laufe der Jahre gegen das zugrunde liegende Konzept von Mord erhoben habe. Vergiss richtig und falsch, Gesetz und Ordnung, polizeiliche Verfahrensweisen, Dezernatspolitik, Reversion, Juden und Indianer. Dieses Rattenloch ist meine Heimat. Die nächsten zwei Monate, oder wie lange es noch dauern wird, wohne ich hier. Die ganzen Pechvögel, die für ein Schrankbett und eine Stahlscheibe an der Badezimmerwand Miete zahlen, sind jetzt meine Leute, in guten wie in schlechten Zeiten. Ich kann nicht mal behaupten, dass ich sie besonders mögen würde. Manche sind ganz in Ordnung. Die meisten sind echt schlimm. Aber ich lasse auf keinen Fall zu, dass hier einfach jemand reinspaziert und einem eine Kugel in den Kopf jagt.«

Bina hat zwei Tassen Instantkaffee gemacht. Eine reicht sie Landsman.

»Schwarz und süß«, sagt sie. »Richtig?«

»Bina!«

»Du bist auf dich allein gestellt, Meyer. Der schwarze Aktenreiter bleibt dran. Wenn du erwischt wirst, wenn du Ärger bekommst, wenn die Rudashevskys dir die Knie brechen, dann weiß ich nichts davon.«

Sie geht zu ihrer Tasche und holt einen mit Mappen gefüllten Akkordeonordner heraus. Sie legt ihn auf den Furniertisch.

»Die Rechtsmedizin ist nicht vollständig. Shpringer hat sich nicht richtig dahintergeklemmt. Blut und Haare. Latente Fingerspuren. Ist nicht viel. Ballistik ist noch nicht zurück.«

»Danke, Bina. Hör mal, Bina, dieser Typ. Der hieß nicht Lasker. Er —«

Sie legt ihm die Hand auf den Mund. Seit drei Jahren hat Bina ihn nicht berührt. Wahrscheinlich wäre es übertrieben zu sagen, dass er spürt, wie die Dunkelheit sich ein wenig hebt, als ihre Fingerspitzen seine Lippen streifen. Aber das Dunkel erzittert, und Licht sickert zwischen den Rissen hindurch.

»Ich weiß nichts davon«, sagt sie. Sie nimmt ihre Hand fort. Trinkt einen Schluck Instantkaffee und verzieht das Gesicht. »Feh!«

Bina stellt den Becher ab, nimmt ihre Tasche und geht zur Tür. Sie hält inne und dreht sich zu Landsman in dem Bademantel um, den sie ihm zum fünfunddreißigsten Geburtstag geschenkt hat.

»Du hast Nerven, Landsman«, sagt sie. »Nicht zu fassen, dass du mit Berko dahin gefahren bist.«

»Ich musste ihm sagen, dass sein Sohn tot ist.«

»Sein Sohn.«

»Mendel Shpilman. Der einzige Sohn vom Rebbe.«

Bina öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Nicht erstaunt, sondern vielmehr engagiert schlägt sie ihre Terrierzähne in diese Information, nagt an dem blutigen Knorpel. Landsman sieht, dass ihr gefällt, wie er dem kräftigen Zugriff ihres Kiefers nachgibt. Doch plötzlich bekommt ihr Blick eine Müdigkeit, die Landsman kennt. Nie wird Bina ihren Ermittlerappetit auf die Geschichten anderer Leute verlieren, denkt Landsman, auf das Rekonstruieren, wie alles sich vom letzten Gewaltausbruch zurück zum ersten Fehler entwickelte. Aber manchmal wird ein Schammes dieses Hungers ein wenig überdrüssig.

»Und was meinte der Rebbe?«, fragt sie und lässt den Türknauf mit aufrichtigem Bedauern los.

»Er wirkte etwas verbittert.«

»Auch überrascht?«

»Nicht besonders, aber ich weiß nicht, was das zu sagen hat. Ich gehe davon aus, dass der Junge schon lange auf dem Weg nach unten war. Ob ich mir vorstellen kann, dass Shpilman seinem eigenen Sohn eine Kugel verpassen lässt? Theoretisch auf jeden Fall. Und für Baronshteyn gilt das doppelt.«

Wie eine Leiche fällt die Tasche zu Boden. Bina bewegt ihre Schultern in kleinen schmerzenden Kreisen. Landsman könnte ihr anbieten, sie zu massieren, nimmt aber weise davon Abstand.

»Ich schätze, ich darf einen Anruf erwarten«, sagt sie. »Von Baronshteyn. Sobald drei Sterne am Himmel stehen.«

»Tja, ich würde nicht zu genau hinhören, wenn er dir versucht vorzumachen, wie fertig er ist, weil Mendel Shpilman raus ist aus dem Spiel. Alle freuen sich, wenn der verlorene Sohn zurückkehrt, nur nicht der Junge, der in seinem Bett geschlafen hat.«

Landsman trinkt einen Schluck Kaffee, scheußlich bitter und süß.

»Der verlorene Sohn.«

»Er war so eine Art Wunderkind. Im Schach, im Thorastudium, in Sprachen. Ich habe eine Geschichte über ihn gehört, er hätte eine krebskranke Frau geheilt, nicht dass ich so was glaube, aber trotzdem. Ich glaube, bei den Schwarzhüten gab es eine Menge Geschichten über ihn. Dass er der Tzaddik ha-Dor sein könnte. Weißt du, was das ist?«

»Ungefähr. Ja. Jedenfalls weiß ich, was das Wort bedeutet«, sagt Bina. Ihr Vater, Guryeh Gelbfish, ist ein Gelehrter im traditionellen Sinn. Einen gewissen Teil dieser Gelehrtheit vergeudete er an sein einziges Kind, ein Mädchen. »Der Gerechte seiner Generation.«

»Die Geschichte besagt, dass diese Typen, diese Tzaddiks, in den letzten zigtausend Jahren regelmäßig zur Arbeit erschienen sind, in jeder Generation einer, ja? Sie sind in Lauerstellung. Sie warten darauf, dass die Zeit stimmt, dass die Welt stimmt, aber manche behaupten auch, dass die Zeit falsch sein muss und die Welt so falsch, wie es nur geht. Einige von ihnen kennen wir. Die meisten halten sich aber ziemlich bedeckt. Ich glaube, dahinter steckt die Vorstellung, dass jeder der Tzaddik sein könnte.«

»Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden«, sagt Bina oder zitiert vielmehr. »Ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut.«

»Das meine ich ja«, sagt Landsman. »Es kann jeder sein. Ein Penner. Ein Gelehrter. Ein Junkie. Sogar ein Schammes.«

»Kann wohl sein«, sagt Bina. Sie geht ihn im Kopf durch, den Weg vom wohltätigen Wunderkind der Verbover zum ermordeten Junkie in einem Rattenloch auf der Max Nordau Street. Die Geschichte passt auf eine Art zusammen, die Bina zu betrüben scheint. »Egal, ich bin froh, dass ich es nicht bin.«

»Willst du nicht mehr die Welt erlösen, Bina?«

»Wollte ich das mal?«

»Ich glaub schon, doch.«

Sie denkt darüber nach, reibt sich mit dem Finger die Nase, versucht, sich zu erinnern.

»Ich glaube, ich bin darüber weg«, sagt sie, aber Landsman kauft es ihr nicht ab. Bina hat ihr Vorhaben nie aufgegeben, die Welt erlösen zu wollen. Sie hat nur die Welt, die sie zu erlösen versucht, immer weiter verkleinert, bis sie irgendwann in den Hut eines hoffnungslosen Polizisten passte. »Jetzt sind das alles sprechende Hühner für mich.«

Mit diesem Satz sollte sie eigentlich abgehen, aber sie bleibt noch fünfzehn Sekunden unerlöst gegen die Tür gelehnt stehen und beobachtet, wie Landsman an den ausgefransten Enden seines Bademantelgürtels herumnestelt.

»Was willst du Baronshteyn sagen, wenn er anruft?«, fragt Landsman.

»Dass du komplett auf eigene Faust gehandelt hast und ich dafür sorge, dass du dich dafür verantworten musst. Eventuell muss ich dir deine Dienstmarke abnehmen, Meyer. Ich versuche, das zu verhindern, aber da sich dieser Schomer von der Beerdigungsgesellschaft angesagt hat, dieser Mr. Spade, einen Fluch auf ihn, habe ich nicht viel Spielraum. Und du auch nicht.«

»Gut, du hast mich gewarnt«, sagt Landsman. »Ich wurde gewarnt.«

»Und was hast du nun vor?«

»Jetzt? Jetzt werde ich der Mutter auf den Zahn fühlen. Shpilman behauptet, niemand hätte mehr von Mendel gehört oder mit ihm gesprochen. Aber aus irgendeinem Grund nehme ich ihm das nicht ab.«

»Batsheva Shpilman. Das wird ein harter Zahn«, sagt Bina. »Besonders für einen Mann.«

»Stimmt«, sagt Landsman mit sehnsüchtiger Miene.

»Nein«, sagt Bina. »Nein, Meyer. Vergiss es. Du bist auf dich allein gestellt.«

»Sie wird bei der Beerdigung sein, Bina. Du musst nur —«

»Ich muss nur«, sagt Bina, »jedem Schomer aus dem Weg gehen, auf meinen Arsch aufpassen und die nächsten zwei Monate überstehen, ohne ihn mir in Brand zu stecken.«

»Ich würde herzlich gerne auf deinen Arsch aufpassen«, sagt Landsman, den alten Zeiten zuliebe.

»Zieh dich an«, sagt Bina. »Und tu dir einen Gefallen. Räum hier mal auf. Guck dir diesen Saustall an! Ich kann nicht glauben, dass du so lebst. Gütiger Gott, Meyer, schämst du dich nicht?«

Früher einmal glaubte Bina Gelbfish an Meyer Landsman. Oder vielmehr glaubte sie von dem Moment an, als sie ihn kennenlernte, dass ihr Treffen einen Sinn habe, dass hinter ihrer Eheschließung eine eruierbare Absicht liege. Sie waren fardrejt, sicher waren sie das, doch während Landsman in dem Gewirr nur ein Kuddelmuddel sah, zufällig verhedderte Fäden, erkannte Bina darin die Hand des großen Knotenmachers. Und ihren Glauben vergilt Landsman Bina mit dem Glauben an das Nichts.

»Nur wenn ich dein Gesicht sehe«, sagt Landsman.

Загрузка...