7.

Siebenundzwanzig Jahre lang war die Dienststelle Sitka Central provisorisch in elf Fertigbaumodulen auf einem leer stehenden Grundstück hinter dem alten russischen Waisenhaus untergebracht. Man munkelt, dass die Module in Slidell, Louisiana, ihr Leben als Bibelschule begannen. Sie haben keine Fenster, niedrige Decken, sind zugig und eng. Im Modul der Mordkommission findet der Besucher einen Empfangsbereich, jeweils ein Büro für die zwei Detective Inspectors, einen Duschraum mit Toilette und Waschbecken, ein Großraumbüro (vier Arbeitsplätze, vier Stühle, vier Telefone, eine Tafel und eine Reihe Postfächer), eine Vernehmungskammer mit heißem Stuhl und einen Pausenraum. Der Pausenraum ist ausgestattet mit einer Kaffeemaschine und einem kleinen Kühlschrank. Außerdem beherbergte das Zimmer lange Zeit eine blühende Sporenkolonie, die irgendwann in grauer Vorzeit spontan Form und Erscheinungsbild eines Sofas angenommen hatte. Doch als Landsman und Berko auf den Schotterparkplatz der Mordkommission einbiegen, schleppen zwei philippinische Wächter den monströsen Pilz gerade nach draußen.

»Er bewegt sich«, sagt Berko.

Seit Jahren wird damit gedroht, den Zweisitzer rauszuwerfen, und doch ist es ein Schock für Landsman, ihn nun letztlich ausgemustert zu sehen. Der Schock ist so groß, dass er ein, zwei Sekunden braucht, um die Frau wahrzunehmen, die neben der Treppe steht. Sie hält einen schwarzen Regenschirm in der Hand und trägt einen Parka in grellem Orange mit einem leuchtend grün gefärbten Kunstpelzbesatz. Ihr rechter Arm ist erhoben, ihr Zeigefinger weist auf die Müllcontainer, das Ganze gleicht einem Gemälde vom Erzengel Michael, der Adam und Eva aus dem Paradies vertreibt. Eine Korkenzieherlocke roten Haares hat sich aus dem grünen Pelz befreit und hängt der Frau ins Gesicht. Das ist für sie ein ständiges Problem. Wenn sie sich hinkniet, um am Tatort einen suspekten Fleck auf dem Boden zu untersuchen, oder wenn sie ein Foto mit einer Lupe studiert, muss sie diese Locke mit einem gereizten, scharfen Atemstoß zur Seite pusten.

Jetzt blickt sie finster zum Super Sport hinüber, während Landsman den Motor ausstellt. Sie lässt die alles verbannende Hand sinken. Aus der Entfernung hat Landsman den Eindruck, als könnte die Lady drei oder vier Tassen starken Kaffees vertragen und als wäre ihr heute Morgen schon eine Laus über die Leber gelaufen, vielleicht sogar zwei. Landsman war zwölf Jahre mit dieser Dame verheiratet und hat fünf Jahre mit ihr in derselben Mordkommission gearbeitet. Er kennt ihre kleinen Launen nur zu gut.

»Sag mir, dass du nichts davon gewusst hast«, sagt er zu Berko.

»Ich weiß noch immer nichts davon«, sagt Berko. »Ich hoffe, wenn ich kurz die Augen zu- und dann wieder aufmache, ist sie verschwunden.«

Landsman versucht es.

»Keine Chance«, sagt er mit Bedauern und steigt aus dem Wagen. »Gib mir eine Minute.«

»Bitte, so lange du willst.«

Landsman braucht zehn Sekunden, um den Schotterparkplatz zu überqueren. In den ersten drei Sekunden wirkt Bina froh, ihn zu sehen, dann folgen zwei, in denen sie ängstlich und liebenswürdig aussieht. In den letzten fünf Sekunden setzt sie eine Miene auf, als sei sie bereit, sich mit Landsman anzulegen, wenn er es so haben will.

»Was soll der Scheiß?«, sagt Landsman; er enttäuscht sie nur ungern.

»Zwei Monate Exfrau«, sagt Bina. »Was dann kommt, weiß keiner.«

Direkt nach dem Scheidungsurteil ging Bina für ein Jahr in den Süden, wo sie ein Ausbildungsprogramm für weibliche Polizeibeamte zur Führungskraft absolvierte. Bei ihrer Rückkehr trat sie den stolzen Posten eines Detective Inspectors bei der Mordkommission von Yakovy an. Dort als leitende Ermittlerin die Todesfälle arbeitsloser Lachsfischer zu untersuchen, die in den Abwasserkanälen im Venedig von Northwest Chichagof Island an Unterkühlung gestorben waren, fand sie stimulierend und erfüllend. Seit der Beerdigung seiner Schwester hat Landsman Bina nicht mehr gesehen, und ihrem mitleidigen Blick auf sein altes Fahrgestell entnimmt er, dass es in den Monaten danach mit ihm noch weiter abwärtsgegangen ist.

»Freust du dich nicht, mich zu sehen, Meyer?«, fragt sie. »Was sagst du zu meinem neuen Parka?«

»Er ist unglaublich orange«, sagt Landsman.

»Hier oben muss man gut sichtbar sein«, sagt sie. »In den Wäldern. Sonst denken sie, du bist ein Bär, und erschießen dich.«

»Die Farbe steht dir«, hört Landsman sich herausbringen. »Passt zu deinen Augen.«

Bina nimmt das Kompliment an wie eine Limonadendose, von der sie glaubt, dass er sie vorher geschüttelt hat.

»Du bist also überrascht«, sagt sie.

»Ich bin überrascht.«

»Hast du nichts von Felsenfeld gehört?«

»Typisch Felsenfeld. Was sollte ich von ihm hören?« Landsman fällt ein, dass Shpringer ihm in der Nacht dieselbe Frage gestellt hat, und jetzt überfällt ihn die Erkenntnis mit einem Scharfsinn, die des Mannes würdig ist, der den Krankenhauskiller Podolsky fasste. »Felsenfeld hat die Biege gemacht.«

»Hat vor zwei Tagen seine Marke abgegeben. Gestern Abend nach Melbourne geflogen. Die Schwester seiner Frau wohnt da.«

»Und jetzt muss ich für dich arbeiten?« Er weiß, dass das nicht Binas Idee gewesen sein kann. Die neue Stelle ist zweifellos ein Aufstieg für sie, wenn auch nur für zwei Monate. Aber irgendwie kann er nicht glauben, dass sie so etwas zulassen konnte — dass sie glaubt, es aushalten zu können. »Das ist unmöglich.«

»Heutzutage ist alles möglich«, sagt Bina. »Hab ich in der Zeitung gelesen.«

Und auf einmal sind die Konturen ihres Gesichts geglättet, und er sieht, wie anstrengend es für sie immer noch ist, in seiner Nähe zu sein, wie erleichtert sie ist, als Berko Shemets näher kommt.

»Da sind wir ja alle!«, sagt sie.

Als Landsman sich umdreht, steht sein Kollege direkt hinter ihm. Berko besitzt ein bemerkenswertes Talent für Tarnung, das er natürlich auf seine indianischen Ahnen zurückführt. Landsman schreibt es gerne den mächtigen Kräften der Oberflächenspannung zu, wenn Berkos gewaltige Schneeschuhfüße den Boden eindrücken.

»So, so, so«, sagt Berko herzlich. Seitdem Landsman Bina das erste Mal mit nach Hause gebracht hat, teilt sie mit Berko ein Wissen über, einen Blick auf, ein Lächeln für Landsman, den lustigen kleinen Giftzwerg auf dem letzten Bild des Comicstrips, in dessen Visage die schwarze Lilie einer explodierten Zigarre welkt. Bina hält ihm die Hand hin, sie begrüßen sich.

»Herzlich willkommen, Detective Landsman«, sagt Berko, ein wenig verlegen.

»Inspector«, sagt sie, »und jetzt wieder Gelbfish.«

Gewissenhaft sortiert Berko das Blatt von Tatsachen, das sie ihm gerade ausgeteilt hat.

»Mein Fehler«, sagt er. »Wie war’s in Yakovy?«

»Ganz in Ordnung.«

»Nette Stadt?«

»Kann ich nicht sagen.«

»Niemanden kennengelernt?«

Bina schüttelt den Kopf, wird rot und bei der Erkenntnis, rot geworden zu sein, noch roter.

»Ich habe nur gearbeitet«, sagt sie. »Du kennst mich ja.«

Die klebrige rosa Masse des alten Sofas verschwindet um die Ecke des Moduls, und Landsman widerfährt ein zweiter Moment der Erkenntnis.

»Die Beerdigungsgesellschaft ist im Anmarsch«, sagt er. Er meint die Spezialeinheit des amerikanischen Innenministeriums für den Übergangszeitraum, die Vorhut der Reversion, die die Leiche bewacht und sie zur Beisetzung im Grab der Geschichte vorbereitet. Seit ungefähr einem Jahr murmelt sie ihr bürokratisches Kaddisch über jedes Detail der Distriktbürokratie, erstellt Register und gibt Empfehlungen ab. Sie legt den Grundstock dafür, so nimmt Landsman an, dass man die Schuld, wenn später irgendetwas schief- oder in die Brüche geht, glaubhaft den Juden anlasten kann.

»Ein Herr namens Spade«, sagt sie. »Kommt irgendwann am Montag, spätestens Dienstag.«

»Felsenfeld« y sagt Landsman voller Verachtung. Typisch, dass sich der Mann verdrückt, drei Tage bevor ein Schomer von der Beerdigungsgesellschaft kommen soll. »Ein schwarzes Jahr auf ihn!«

Zwei weitere Wächter poltern jetzt aus dem Wohncontainer, sie tragen die Pornosammlung der Abteilung und ein lebensgroßes Pappstandbild des amerikanischen Präsidenten mit seiner Kinnspalte, seiner Golferbräune, seiner überstrapazierten, selbstgefälligen Quarterback-Attitüde nach draußen. Die Polizisten haben dem Papppräsidenten gerne Spitzenunterwäsche angezogen oder ihn mit Klumpen nassen Toilettenpapiers beworfen.

»Wird Zeit, die Maße fürs Totenhemd von Sitka Central zu nehmen«, sagt Berko und schaut der Pappfigur nach.

»Ihr kapiert das nicht mal ansatzweise«, sagt Bina, und sofort erkennt Landsman an dem düsteren Unterton in ihrer Stimme, dass sie mühsam versucht, eine Vielzahl sehr schlechter Nachrichten im Zaum zu halten. Dann sagt Bina: »Ab ins Haus, Jungs«, und klingt wie jeder Vorgesetzte, dem Landsman je zu gehorchen verpflichtet war. Vor einem Moment noch schien die Vorstellung, auch nur für zwei Monate unter seiner Exfrau zu arbeiten, absolut undenkbar, aber so, wie sie jetzt mit dem Kinn Richtung Modul weist und die Männer hineinbeordert, besteht für Landsman Anlass zur Hoffnung, dass seine Gefühle für sie — nicht dass er überhaupt noch welche hätte — sich ins universelle Grau der Disziplin umfärben könnten.

In klassischer Flüchtlingsmanier sieht das Büro so aus, wie Felsenfeld es verlassen hat: Fotos, halbtote Topfpflanzen, auf dem Aktenschrank Wasserflaschen neben der Familienpackung Kautabletten gegen Sodbrennen.

»Setzt euch«, sagt Bina, geht um den Tisch herum zum gummierten Metallschreibtischstuhl und nimmt mit achtloser Entschlossenheit Platz. Sie legt den orangefarbenen Parka ab, und ein staubbrauner Hosenanzug mit einer weißen Oxfordbluse kommt zum Vorschein, ein Outfit, das sich viel eher mit Landsmans Vorstellung deckt, wie Bina über Kleidung denkt. Vergeblich versucht er zu übersehen, wie ihre schweren Brüste, deren Leberflecke und Sommersprossen er noch immer wie Sternbilder im Planetarium seiner Phantasie projizieren kann, die Taschen und Laschen ihrer Bluse spannen. Landsman und Berko hängen ihre Mäntel an die Haken hinter der Tür und behalten die Hüte in der Hand. Jeder nimmt einen freien Stuhl in Beschlag. Felsenfelds Frau auf dem einen Foto und seine Kinder auf dem anderen sind seit dem letzten Mal, als Landsman sie betrachtete, nicht reizvoller geworden. Der Lachs und der Heilbutt staunen immer noch, tot an Felsenfelds Angel zu hängen.

»Gut, hört zu, Jungs«, sagt Bina. Sie ist eine Frau, die der Katze die Schelle umhängt und den Stier bei den Hörnern packt. »Wir alle sind uns dieser unangenehmen Situation bewusst. Es wäre schon seltsam genug, wenn ich einfach nur eure Kollegin wäre. Dass ich mit einem von euch verheiratet war und der andere mein, ähm, Cousin war, hm, Shit.« Das letzte Wort sagt sie in tadellosem Englisch, wie auch die nächsten vier. »Know what I’m saying?«

Sie hält inne, scheint auf eine Reaktion zu warten. Landsman sieht Berko an.

»Der Cousin, das warst du, oder?«

Bina lächelt, um Landsman zu zeigen, dass sie ihn nicht für besonders witzig hält. Sie greift hinter sich und zieht einen Stapel hellblauer Mappen vom Aktenschrank, jede mindestens anderthalb Zentimeter dick, alle markiert mit einem Reiter aus hustensaftrotem Plastik. Der Anblick lässt Landsmans Herz tiefer rutschen, so wie jedes Mal, wenn er durch einen unglücklichen Zufall auf sein Ebenbild im Spiegel trifft.

»Seht ihr die hier?«

»Ja, Inspector Gelbfish«, sagt Berko, und es klingt sonderbar unehrlich. »Ich sehe sie.«

»Wisst ihr, was das ist?«

»Das können nicht unsere offenen Fälle sein«, sagt Landsman. »Die können nicht aufgestapelt auf deinem Schreibtisch liegen.«

»Wisst ihr, was gut war an Yakovy?«, fragt Bina.

Die beiden warten auf den Reisebericht ihrer Vorgesetzten. Sie sagt: »Der Regen. Fünfhundert Zentimeter pro Jahr. Da vergehen einem die flotten Sprüche. Selbst einem Jid.«

»Das ist ’ne Menge«, sagt Berko.

»Jetzt hört mir zu. Und hört bitte gut zu, weil ich nämlich Schwachsinn erzähle. In zwei Monaten wird ein US-Marshall im Billiganzug mit seinem Sonntagsschulgelaber in diesen gottverlassenen Container schreiten und verlangen, dass ich ihm die Schlüssel zu dem Abnormitätenkabinett aushändige, das hier unter der Bezeichnung ›Aktenschrank der B-Mannschaft‹ firmiert, die zu leiten ich seit heute Morgen die Ehre habe.« Es sind Schwätzer, die Gelbfishs, Redner und Neunmalkluge und Könige im Schmeicheln. Beinahe hätte Binas Vater Landsman überzeugt, seine eigene Tochter nicht zu heiraten. Am Abend vor der Hochzeit. »Und ehrlich, ich meine das ganz ernst: Ihr beiden wisst, dass ich mir den Arsch aufgerissen habe, solange ich hier gearbeitet habe, weil ich gehofft hatte, irgendwann das Glück zu haben, ihn mir auf diesem Stuhl breitsitzen zu können, hinter diesem Schreibtisch, und die große Tradition von Sitka Central aufrechtzuerhalten, dass wir hin und wieder mal einen Mörder erwischen und ins Gefängnis bringen. Und jetzt sitze ich hier. Bis zum ersten Januar.«

»Uns geht es genauso, Bina«, sagt Berko, und diesmal klingt er ehrlicher. »Abnormitätenkabinett und so.«

Landsman sagt, für ihn gelte das doppelt.

»Das weiß ich zu schätzen«, sagt Bina. »Und ich weiß, wie sehr euch das hier … zu schaffen macht.«

Und sie legt ihre lange, sommersprossige Hand auf den Aktenstapel. Korrekt erfasst müssten es elf Mappen sein, die älteste über zwei Jahre alt. In der Mordkommission arbeiten noch drei weitere Kollegenpaare, doch keines kann mit einem so hübschen hohen Stapel ungelöster Fälle aufwarten.

»Beim Feytel sind wir nah dran«, sagt Berko. »Da warten wir nur noch auf den Bezirksstaatsanwalt. Und bei Pinsky. Und bei der Sache mit Zilberblat. Zilberblats Mutter —«

Bina hebt die Hand, unterbricht Berko. Landsman sagt nichts. Er schämt sich zu sehr. Was ihn betrifft, ist der Aktenstapel ein Denkmal seines jüngsten Niedergangs. Dass er nicht noch zwanzig Zentimeter höher ist, zeugt lediglich von der Standhaftigkeit, mit der sein kleiner großer Cousin Berko ihn stützt.

»Hör auf«, sagt Bina. »Hör auf damit. Und pass gut auf, denn jetzt kommt der Teil, wo meine schnelle Auffassungsgabe für Schwachsinn aufblitzt.«

Sie greift hinter sich und zieht ein Blatt Papier aus ihrem Eingangskörbchen, dann noch eine deutlich dünnere blaue Akte, die Landsman sofort erkennt, da er sie selbst um halb fünf am Morgen angelegt hat. Bina greift in die Brusttasche ihres Hosenanzugs und zieht eine Halbbrille hervor, die Landsman noch nie zuvor gesehen hat. Sie wird alt, und er wird alt, ganz nach Plan, und doch sind sie, während der Zahn der Zeit an ihnen nagt, sonderbarerweise nicht mehr miteinander verheiratet.

»Die weisen Juden, die unser Schicksal als Polizeibeamte des Distrikts Sitka verfolgen, haben eine Richtlinie erlassen«, beginnt Bina. Sie überfliegt das Blatt Papier mit einer gewissen Unruhe, ja mit Entsetzen. »Diese Richtlinie basiert auf der großartigen Annahme, dass es schön für alle wäre — ganz zu schweigen von der anschließenden adäquaten Berichterstattung —, wenn es bei der Übergabe der Befehlsgewalt an den US-Marshall von Sitka keine offenen Fälle mehr gäbe.«

»Give me a fucking break, Bina«, sagt Berko. Er hat sofort begriffen, worauf Inspector Gelbfish hinauswill. Landsman braucht eine Minute länger.

»Keine offenen Fälle«, wiederholt er mit idiotischer Ruhe.

»Diese Richtlinie«, sagt Bina, »hat den eingängigen Namen ›effektive Lösung‹ bekommen. Im Grunde genommen bedeutet es, dass ihr genauso viel Zeit in die Lösung eurer offenen Fälle investieren müsst, wie noch Arbeitstage übrig sind als Beamte der Mordkommission mit der Marke dieses Distrikts. Also ungefähr neun Wochen. Ihr habt elf offene Fälle. Ihr könnt sie aufteilen, wie ihr wollt, schon klar. Wie auch immer ihr’s machen wollt, ich bin einverstanden.«

»Einfach abwickeln?«, sagt Berko. »Du meinst —«

»Du weißt, was ich meine, Detective«, sagt Bina. Jetzt ist keinerlei Gefühl in ihrer Stimme und kein erkennbarer Ausdruck in ihrem Gesicht. »Hängt sie irgendwelchen Leuten an, die ihr finden könnt. Wenn ihr sie keinem anhängen könnt, nehmt ein bisschen Klebstoff. Den Rest« — ihre Stimme stockt ganz leicht — »steckt ihr einfach mit einem schwarzen Reiter versehen in Schrank 9.«

In Schrank 9 werden die unaufgeklärten Fälle verwahrt. Einen Fall in Schrank 9 abzulegen, spart Platz, aber ist so, als würde man die Akte in Brand setzen und mit der Asche bei stürmischem Wind spazieren gehen.

»Wir sollen sie versenken«, sagt Berko und kurbelt den Satz am Ende zu einer Frage hoch.

»Bemüht euch redlich innerhalb der Grenzen dieser neuen Richtlinie mit dem klangvollen Namen, und wenn das nicht hilft, bemüht euch unredlich.« Bina starrt auf den kuppelförmigen Briefbeschwerer auf Felsenfelds Tisch. Die Kuppel enthält ein winziges Modell der Silhouette von Sitka, eine Karikatur aus billigem Plastik. Ein Wirrwarr von Hochhäusern in einer Traube um den Safety Pin, jenen einsamen Finger, der wie anklagend gen Himmel weist. »Und dann pappt einen schwarzen Reiter drauf.«

»Du sprachst von elf«, sagt Landsman.

»Das ist dir aufgefallen.«

»Aber nach gestern Abend haben wir, bei allem Respekt, Inspector, und so peinlich das auch ist … ähm, es sind zwölf. Nicht elf. Zwölf offene Fälle bei Shemets und Landsman.«

Bina greift zu dem schmalen blauen Ordner, den Landsman in der letzten Nacht zur Welt gebracht hat.

»Der hier?« Sie schlägt ihn auf und studiert vorgeblich oder tatsächlich Landsmans Bericht über die augenscheinlich aus kürzester Entfernung erfolgte Hinrichtung des Mannes, der sich Emanuel Lasker nannte. »Ja. Gut. So, jetzt möchte ich, dass ihr zuguckt, wie das geht.«

Sie zieht die oberste Schublade von Felsenfelds Schreibtisch auf, der, zumindest in den nächsten zwei Monaten, ihr gehören wird. Sie wühlt darin herum und zieht eine Grimasse, als wären darin ganz viele benutzte Schaumstoffohrstöpsel, was beim letzten Mal, als Landsman hineinschaute, tatsächlich der Fall war. Bina holt einen Plastikreiter zur Kennzeichnung von Akten hervor. Einen schwarzen. Sie fummelt den roten Reiter ab, den Landsman früh am Morgen auf die Lasker-Akte gedrückt hat, und tauscht ihn gegen den schwarzen aus, dabei atmet sie durch die Nase, so als würde man eine schwärende Wunde säubern oder etwas Ekelerregendes vom Teppich wischen. In den zehn Sekunden, die sie für den Wechsel braucht, altert sie um zehn Jahre, findet Landsman. Dann hält sie den jüngsten ungeklärten Fall von sich weg, zwischen zwei Fingern wie mit einer Pinzette.

»Effektive Lösung«, sagt sie.

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