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Hanno wurde nicht schlau aus dem fremden Mädchen, das wortlos mal hinter, mal neben ihm über die Wiesen stapfte, auf denen die Reiher standen wie aus dem Winter übrig gebliebene Eiszapfen. Immer hielt es sich in gehörigem Abstand zu ihm, sosehr er seine Schritte auch anzupassen versuchte. Als ob es darauf beharrte, nichts mit ihm zu schaffen zu haben.

Nur dass ihr Name Betje war, das hatte er ihr irgendwann aus der Nase ziehen können, bevor sie sich wieder in ihrem Schweigen verkroch. Ob verdrossen oder gedankenvoll, abweisend oder nur befangen, war schwer zu sagen für Hanno.

Normalerweise plapperten Mädchen doch in einem fort. Die ganz Kleinen ebenso wie die, bei denen sich schon Knöpfchen durch den Blusenstoff drückten und die von Hanno wissen wollten, welche von ihnen die Hübscheste war und ob er ein Herzblatt hatte. Hanno schoss dann jedes Mal das Blut ins Gesicht. Besonders seit Mantje vom Noordhof hinter dem Holunderbusch ihren Mund auf seinen gedrückt hatte. Ein ganz merkwürdiges Gefühl war das gewesen, im Kopf wie im Bauch, zumal Mantje gleich darauf kichernd davongestoben war und danach keinen Blick mehr für ihn übrig gehabt hatte.

Selbst die Schüchternen unter den Mädchen hatten irgendwann Zutrauen zu Hanno gefasst und ihn gefragt, wo das Salz herkam oder warum Küken so flaumig waren wie Pusteblumen, aber nicht fliegen konnten. Und woher Hanno all das wusste. Da hatte er immer nur mit den Schultern gezuckt, er wusste es einfach.

Das rothaarige Mädchen jedoch nahm gleichgültig hin, was er von den Milanen erzählte, die er bei ihrer Jagd auf Karnickel und sogar Krähen beobachtet hatte, und von dem Lämmchen, das er einmal von Hand aufgezogen hatte. Erst als er nicht ohne Stolz berichtete, dass seine große Schwester in Hamburg in Diensten stand, in einem feinen Haushalt, wo es auch für ihn gute Arbeit geben würde, glomm etwas in ihren Augen auf.

Betje warf einen Seitenblick auf Hanno, der schwungvoll und mit heiterer Miene vorwärtsmarschierte. Nicht selbstherrlich, als würde die Welt ganz selbstverständlich ihm gehören, sondern mit einer freundlichen Gelassenheit. Als wäre ihm alles willkommen, was seinen Weg kreuzte.

Zaghaft überwand sie ihre Vorsicht, die Neugierde war stärker.

»Und deine Eltern … Haben die dich einfach so ziehen lassen?«

Ein wohliges Weh, an dem Betje rütteln musste wie an einem losen Milchzahn.

Hanno schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter.

»Meine Mutter ist gerade gestorben.«

Der Zweifel, der sich in ihr Gesicht prägte, ärgerte ihn. Als ob sich irgendjemand so etwas ausdenken würde.

»Ein bösartiges Gewächs hatte sie im Leib«, warf er ihr angriffslustig zu und lauter als nötig. »War nicht schön, das mit anzusehen.«

Betje schlug die Augen nieder, und auch Hanno wandte den Kopf ab. Seine Wut war so schnell verraucht, wie sie aufgeflammt war, sie hatte auch gar nicht so sehr diesem Mädchen gegolten.

Niemand war warmherziger gewesen als seine Mutter. Immer fröhlich, so hart der Bauer und die Bäuerin sie auch schuften ließen, immer ein Lied auf den Lippen, ein liebes Wort für jeden, bis fast zu ihrer letzten Stunde.

Bi de Reintje is weer wat unnerwegens , hatten die Leute über ihren anschwellenden Bauch getuschelt. Se let even nix anbrannen. Oft hatten sie sich die Mäuler über Reintje zerrissen, weil unter ihrer Haube die bunten Bänder hervorblitzten, die sie sich ins weizenhelle Haar flocht. Weil sie ihre funkelnden Augen nie demütig senkte, wie es sich für eine Magd gehörte, sofort lostanzte, wenn irgendwo aufgespielt wurde, und die Tändeleien der Burschen und Männer genoss. ’N Fliertje , da waren sich alle kopfschüttelnd einig. Aber tüchtig war sie, das musste man ihr lassen, rackerte fast für zwei. Bauer Dierksen hatte mit seiner Magd einen guten Griff getan.

Die bösen Zungen waren erst verstummt, als sich ihr Gesicht aschgrau verfärbte und zu schrumpfen begann. Sobald das Gewicht eines einzigen Melkeimers sie aus der Puste brachte, die zuvor robusten Arme nur mehr Stöckchen; ab da war es ganz schnell gegangen.

Warum hat der Herrgott sie schon zu sich geholt? , hatte Hanno den Pastor gefragt. Der Pastor hatte nur scharf die Luft eingesogen und Hanno flüchtig die Hand geschüttelt, bevor er mit wehendem Talar zum nächsten Begräbnis geeilt war.

»Und dein Vater?«

Anstatt nach Worten des Bedauerns zu suchen, wie es vermutlich jeder andere getan hätte, bohrte Betje weiter nach. Sie war wirklich ein seltsames Mädchen.

»Gibt keinen.«

Hanno wusste nicht einmal, ob er denselben Vater hatte wie Frauke, die sich an ihren nur noch dunkel erinnerte, obwohl sie fast sechs Jahre älter war als er.

Die paar Male, die er seine Mutter nach seinem Vater gelöchert hatte, hatte sie ihn nur kräftig in die Arme geschlossen, sein Jungengesicht mit Küssen bedeckt und gesagt, er und Frauke seien die größten Geschenke, die sie je in ihrem Leben bekommen habe. Wie hätte er da auch bockig bleiben können, und irgendwann war es ihm egal geworden. Wer brauchte schon einen Vater, wenn er eine solche Mutter hatte, das hatte er oft gedacht, so stark und doch so weich, hübsch und lustig und lieb.

Verstohlen wischte sich Hanno über die Augen und spähte dann zu Betje.

Ihre brandroten Haare faszinierten ihn. In Kringeln und Schnörkeln züngelten sie im Wind, als führten sie ein eigenes Leben. Obwohl Hanno wusste, dass Haare einfach Haare waren und niemand etwas dafür konnte, fragte er sich trotzdem, ob es in ihrem Kopf genauso lebhaft zuging. Was auch an der grüblerischen Falte liegen mochte, die zwischen ihren Brauen aufgetaucht war, oder an ihren Augen, von demselben durchdringenden Blau wie der Kern einer Kerzenflamme.

Mit ihrem Arm stimmte was nicht, das hatte er schnell entdeckt. Verkümmert baumelte er von der Schulter herab, die höher stand als die andere, irgendwie verdreht aussah, sogar noch unter der viel zu großen Bluse. Einmal war ein Puppenspieler ins Dorf gekommen, und die Figuren des Hanswurst und seiner Gretje hatten genauso umherschlenkernde Arme gehabt.

Wenn dieses rothaarige Mädchen sich herausnahm, ihm ein Loch in den Bauch zu fragen, stand ihm das genauso zu, befand Hanno.

»Was ist mit deinem Arm?«

»Siehst du doch.«

»Ich meine, wie ist das passiert? Hast du ihn dir einmal gebrochen?«

»Der war schon immer so.«

Darüber sann Hanno eine Weile nach. Eines der Schafe auf dem Hof hatte letzte Ostern ein Lamm mit abgeknickten Vorderbeinen geworfen. Und einmal war ein Kälbchen falsch herum gelegen und bei der Geburt stecken geblieben. Der Bauer und sein Großknecht hatten sich zwar aus Leibeskräften bemüht, es heil auf die Welt zu holen, gelahmt hatte es hinterher trotzdem. Beim Lammen und Kalben konnte eine Menge schiefgehen, vermutlich war das bei Menschen nicht anders.

»Tut das weh?«

Unter zusammengezogenen Brauen starrte Betje ihn an, gewappnet für die Gemeinheit, die sicher gleich folgen würde. Doch in Hannos Augen stand keine Häme, noch nicht einmal ein Anflug von Spott. Offen war sein Blick.

Sie schüttelte den Kopf. »Der ist wie taub.«

Niemand hatte sie je gefragt, wie es mit einem solchen Arm war. Was Betje fühlte oder wie es ihr ging. Sie musste erst eine Sprache dafür finden.

»Nur hier tut’s manchmal weh.« Sie fasste sich an die linke Schulter. »Wenn ich mich zu sehr anstrenge, den Arm doch irgendwie zu gebrauchen.«

Hanno dachte daran, wie er auf dem Hof mit der Forke den Stall ausgemistet und Wassereimer geschleppt hatte. Wie seine Mutter die Kühe gemolken, Wäsche gewaschen und seine Hemden und Hosen geflickt hatte. Wie die Bäuerin Brotteig knetete und in den Ofen schob und den Eintopf aus klein geschnittenem Gemüse und Kartoffeln auf den Tisch stellte.

Ihm fiel nichts ein, wofür man nicht zwei zupackende Hände gebraucht hätte.

»Das ist ganz schön blöd«, stellte er schließlich fest.

Nüchtern hatte er es gesagt, wenn auch nicht ohne Wärme.

»Weiß ich.«

Es kam weniger spröde heraus, als es sich eben noch auf Betjes Zunge angefühlt hatte.

Die Spur eines Lächelns schimmerte zwischen ihnen auf. Und obwohl ihre Blicke gleich darauf unterschiedliche Richtungen einschlugen, pendelten sich ihre Schritte in einem einträchtigen Gleichmaß nebeneinander ein, auf der Landstraße gen Osten.

Hanno streckte sich im Heu aus, der warme Duft noch behaglicher im Dunkeln. Um Betjes willen hatte er nach einem Gehöft Ausschau gehalten, in dessen Scheune sie die Nacht verbringen konnten, doch auch er war lieber hier als auf dem offenen Feld. Seine Beine waren schwer nach den vielen Meilen dieses Tages, und die Arme nicht minder, nachdem er im Stall mit angepackt hatte, um sich für die Unterkunft und eine Mahlzeit erkenntlich zu zeigen.

So gastlich man ihm hier auf dem Hof begegnet war, so sehr hatte er sich daran gestört, wie die Bauersleute starrten, als Betje auf der Tischplatte die Gabel mit ihrer schlaffen Linken beschwerte, um mit der anderen Hand die aufgespießte Kartoffel abzupellen. Wie sich die Kinder gegenseitig anstießen und tuschelten. Die Vorstellung, dass es Betje womöglich nie anders erging, schmeckte gallenbitter.

Er musste an Tinne denken. Dusseltrine , hatten die Jungen im Dorf sie gerufen, Slaapmütz oder Waterkopp . Manchmal war Hanno dazwischengegangen, wenn sie es allzu toll trieben, und trotzdem hatte eine gewisse Scheu ihn davon abgehalten, sich näher mit Tinne zu befassen. Er wusste nicht einmal, ob sie deshalb immer schrill gekichert hatte, weil sie selbst keine Boshaftigkeit kannte und deshalb die Aufmerksamkeit der Jungen missverstand, oder ob das schlicht ihr Weg war, Hänseleien an sich abprallen zu lassen. Im Nachhinein wünschte er sich, er hätte mehr getan, als ihr nur jedes Mal einen freundlichen Gruß zuzurufen.

Hanno drehte sich auf die andere Seite. Betje schlief ebenso wenig wie er, das spürte er. Stocksteif lag sie dort drüben im Heu und atmete flach, fast angestrengt.

Bockbeinig wie ein alter Widder war sie vorhin am Tor der Scheune stehen geblieben. Erst als Hanno sich ins Heu gebettet hatte, hatte auch sie sich einen Platz gesucht. Zunächst zögerlich und mit vorsichtigen Bewegungen, dann mit fliegender Hast und möglichst weit von ihm entfernt.

Was auch immer ihr an Üblem widerfahren war, es hatte mit einer Scheune wie dieser zu tun.

»Betje?«

Er konnte hören, wie sie den Atem anhielt, ihre Stacheln aufstellte wie ein Igel.

»Ich weiß nicht, was du alles durchgemacht hast«, flüsterte Hanno. »Aber von mir hast du nichts zu befürchten. Ich bin ein feiner Kerl. Und ich pass auch gut auf dich auf.«

Wie ein Regenguss spülte seine Stimme über sie hinweg. Sagen konnte man viel. Wie man handelte, das war doch das Entscheidende.

Als seine Schwester hatte Hanno sie ausgegeben, was die argwöhnischen Blicke des Bauern und der Bäuerin auf Betjes Arm und die ungekämmten Haare besänftigt hatte, und am Tisch hatte er dicke Scheiben vom Brotlaib abgeschnitten und ihr gebuttert hingelegt. Nebensächliche Gesten, von denen Betje nicht wusste, ob sie freundlich oder herablassend gemeint waren.

Sie zählte bis dreißig, erst dann fühlte sie sich mutig genug.

»Wie kann ich mir da sicher sein?«

Darüber dachte Hanno einige Zeit nach.

»Kannst du nicht«, stellte er schließlich fest. »Ich will trotzdem, dass du es weißt. Und ich werd’s dir zeigen, solange wir zusammen unterwegs sind.«

Obwohl sie sich dagegen sperrte, war sie versucht, seinen Worten Glauben zu schenken. Noch einmal zählte sie bis dreißig.

»Hanno?«

Er gab einen bejahenden Laut von sich.

»Wie weit ist es nach Hamburg?«

»Noch vier oder fünf Tage. Schätze ich.«

Die beiden Schäfer, denen sie an diesem Tag begegnet waren, hatten ebenso wenig von Betjes Updorp und Niendorp gehört wie die Leute im Krämerladen des Dörfchens, durch das sie gekommen waren. Auch der Fuhrwerker, der Säcke mit Korn auf seinem Ochsengespann durch die Gegend karrte, hatte nur den Kopf geschüttelt, und hier auf dem Hof hatte man ebenfalls nur mit den Schultern gezuckt. Hanno dämmerte, dass die beiden Dörfer inzwischen schon weit hinter ihnen liegen mussten, jeder Schritt in Richtung Hamburg Betje noch weiter davon wegtrug. Dennoch blieb er zuversichtlich.

»Auch wenn es gerade nicht danach aussieht … Wir finden schon einen Weg, wie du wieder nach Hause kommst.«

Betjes Schweigen war drückend. Hanno hob den Kopf und blickte zu ihr hinüber, als könnte er im Dunkeln sehen, was sich auf ihrem Gesicht abzeichnete.

»Willst du denn nicht mehr nach Hause?«

Seine Frage hallte in Betje nach, während ihre Augen durch die Finsternis wanderten.

Zu Hause würde nichts Gutes sie erwarten. Das hatte sich für sie herausgeschält wie das Innere einer Zwiebel, während sie an diesem Tag neben Hanno über die Landstraßen gewandert war, zwischen Weiden und Feldern hindurch. Als ob sich ihr Blick auf ihr Zuhause schärfte, mit jedem Schritt, den sie sich davon entfernte.

Der Onkel würde nicht aufatmen, die Tante sich keine Träne aus dem Augenwinkel wischen und die Kinder nicht vor Freude in die Luft springen, nur weil Betje wieder da war. Höchstens Schimpfe würde es geben, weil sie sich so lange herumgetrieben und allen Sorgen bereitet hatte. Und danach wäre alles wieder wie zuvor, sogar schlimmer noch, zur Strafe und als Mahnung, nie wieder davonzulaufen.

Vielleicht lag es an Hanno, dass es so viel leichter schien, weiter ins Unbekannte hinauszumarschieren. Wenn er sein Leben in die eigenen Hände nahm, konnte sie das genauso gut, auch mit einem lahmen Arm.

»Ich will auf ein Schiff, das nach Amerika fährt.«

Hanno blieb die Spucke weg. Nach Hamburg war es schon weit, aber Amerika schien so fern zu sein wie der Mond. Entweder wusste Betje nicht, wovon sie redete, oder sie war ein besonders tollkühnes Mädchen.

»Was willst du in Amerika?«

Bork Diedrichsen, einer der Torfstecher aus der Nachbarschaft, hatte im vergangenen Jahr seine Siebensachen für Amerika gepackt, gleichermaßen für seinen Wagemut beneidet wie für diesen irrwitzigen Plan bespöttelt. Hanno war unschlüssig geblieben, was er davon halten sollte. Er konnte sich nicht vorstellen, was es in Amerika geben könnte, das man nicht auch in hiesigen Landstrichen fand. Sicherlich konnte man es überall zu etwas bringen, wenn man nicht ganz auf den Kopf gefallen war und sich nicht scheute, kräftig anzupacken.

Das Heu raschelte, als Betje sich regte. Ihre Stimme war jetzt leiser als zuvor, und doch klang sie näher.

»Ich will meine Mutter finden. Und meinen Vater. Meine Geschwister sind auch dort.«

Selbst wenn Hanno weniger fix im Denken gewesen wäre, hätte er eins und eins zusammenzählen können. Was waren das für Menschen, die auf der anderen Seite der Welt ein besseres Leben suchten und alle Kinder mitnahmen bis auf eines, lahmer Arm hin oder her?

Eine merkwürdige Art von Zorn stieg in ihm auf. Brennend und bissig, doch darunter verbarg sich etwas Zartes, Daunenweiches. Wie ein Ganter, der fauchend die frisch geschlüpften Küken unter seinen ausgebreiteten Flügeln im Nest beschützt.

Hanno dachte an Fraukes Briefe in seinem Tornister. Sie hatte nicht oft geschrieben und immer nur kurz, bei ihrer Herrschaft gab es viel zu tun. Dass es in Hamburg überhaupt mehr und bessere Arbeit gab als zu Hause im Moormerland, in der Stadt genauso wie im Hafen. Nach einem Versprechen hatte es geklungen, geradewegs an Hanno gerichtet.

In Hamburg, so schien es, war alles möglich.

»Wir bitten meine Schwester um Hilfe, wenn wir dort sind. Frauke weiß bestimmt was oder kennt jemanden, der dir helfen kann. Wir finden ein Schiff, das dich nach Amerika bringt.«

Hanno hatte nicht gewusst, dass man ein Lächeln hören konnte. Wie sehr es die Dunkelheit erhellte.

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