14



Im oberen Lagerraum lenkte zwischen den massiven Regalen nichts von den Farben und Mustern der Stoffe ab. Sogar das Aroma der Gewürze und Blütenblätter in einem Porzellanschälchen war kaum wahrzunehmen, gerade stark genug, um einen Hauch von Luxus zu verbreiten.

Eine erneute Krise Maries, die dazu noch kränkelte, hielt Christian zu Hause fest. Thilo hatte auf der Bank zu tun, ein Gespräch über das Umschichten ihres Darlehens, während Grischa im Trockendock die Reparaturen an der Aurora überwachte, die beschädigt aus Indien zurückgekehrt war.

In diesem Jahr war das Pech ihr treuer Begleiter.

Also blieb es Katya überlassen, mit Mr Desombre die Regalwände mit Seide und Musselin und Kattun abzuschreiten und Muster von Leinen und unterschiedlicher Baumwolle auf dem großflächigen Tisch auszubreiten. Sie hatte früher oft genug Fritz Bergmann mit seiner Kundschaft beobachtet, wenn sie ihre Näharbeiten dort abgab und darauf wartete, ein neues Paket mitzunehmen. Was ihr dennoch an Ausbildung oder kaufmännischem Geschick fehlen mochte, würde sie mit ihrem ureigenen Spürsinn wettmachen.

Mr Desombre, grau meliert und in einem gut geschnittenen Anzug, schien von den Stoffen sehr angetan, die er zwischen den Fingern rieb und prüfend in das Licht hielt, das durch die großzügigen Fenster hereinflutete.

»Selten schöne Farbgebungen«, äußerte er schließlich. »Ich habe nur Bedenken, dass sie schnell verblassen und die Muster unansehnlich werden.«

»Diese Sorge kann ich Ihnen nehmen, Mr Desombre.« Dass Katyas Englisch über die Jahre flüssiger geworden war, gab ihr zusätzliche Sicherheit. »Unsere Lieferanten in Indien verstehen sich nicht nur aufs Weben und Färben. Sie sind auch Meister darin, die Farben so zu fixieren, dass sie sowohl lichtecht sind als auch unzählige Wäschen überstehen.«

Mr Desombres bärtiger Mund kräuselte sich amüsiert.

»Ich merke schon, ich spreche mit einer erfahrenen Hausfrau, Miss Petersen.«

»Mrs Petersen«, erwiderte Katya leichthin. »Und weil ich eine Frau bin, weiß ich, was Frauen wollen. Die wenigsten wollen oder können es sich leisten, ein besonders schönes Kleid nur ein einziges Mal zu tragen, weil ein unaufmerksamer Kellner einen Tropfen Wein verschüttet. Die meisten haben Kinder zu Hause, denen im unpassendsten Moment schlecht wird. Und selbst der sorgfältigsten Kinderfrau kann eine Marmeladenspur im Gesicht oder an den Händen ihrer Schützlinge entgehen. Ganz gleich, wem Sie unsere Stoffe später weiterverkaufen, am Ende werden es immer die Frauen sein, die die Wahl treffen. Zwar mit dem Geld ihres Mannes, aber trotzdem nach ganz und gar weiblichen Gesichtspunkten. Nicht nur bei ihren eigenen Kleidern und denjenigen der Kinder, bei Vorhängen und Kissen und Bettwäsche. Sondern auch bei den Hemden und Anzügen ihrer Ehemänner. Bei denen ihrer verwitweten Väter und unverheirateten Brüder.«

Aufmerksam hatte Mr Desombre Katyas leidenschaftlich vorgebrachte Ausführungen verfolgt.

»Nun, Mrs Petersen, ich bin sicher, Ihre Leute in Indien haben ihre Ware in den höchsten Tönen angepriesen. Wie es jeder tut, wenn es ums Geschäft geht.«

Seinen ironisch hochgezogenen Brauen begegnete Katya mit einem Lächeln.

»Ich war dort, Mr Desombre. Mehr als ein Mal. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie diese Stoffe entstehen, und mir genau die einzelnen Schritte erklären lassen. Eine Tradition, die sich über Jahrhunderte in einem Klima zwischen greller Sonne und Monsunregen entwickelt und bewährt hat. Schließlich verkaufen wir hier nichts, was nicht gut genug für mich selbst wäre.«

Beiläufig drehte Katya sich zum Fenster hin, sodass die glatte Baumwolle ihres Kleides in Grün, Violett und Blau aufschimmerte wie Seide. Im Kontor trug Katya immer bunte indische Stoffe, wohl wissend, dass ihre Garderobe die beste Werbung für Petersen & Voronin war.

In Mr Desombres blassen Augen funkelte es auf.

»Ich wünschte, ich hätte ein solch überzeugendes Aushängeschild auch für meine Firma.«

»Bedaure. Ich bin hier leider unabkömmlich.«

»Das glaube ich gern.«

Schmunzelnd widmete er sich wieder den Mustern, bündelte diejenigen, für die er sich bereits entschieden hatte, verwarf stirnrunzelnd andere. Bei einer tabakbraunen Seide mit gefiederten roten Blättern zögerte er.

»Das hier gefällt mir sehr. Aber vielleicht wäre es doch zu grell für einen Gentleman.«

»Nicht als Weste zu einem schlichten braunen Anzug.« Katya durchstöberte die Stoffstücke nach einem Vergleichsmuster. »Sehen Sie? Dieses Muster hier würde sich auch gut machen.«

Den Kopf schräg gelegt, begutachtete Mr Desombre die zartgelbe Seide mit lavendelfarbenem Streumuster und nickte dann andächtig, als Katya ein Karomuster in Mango und Cognac danebenlegte.

Fast zwei Stunden lang gingen sie die Muster durch, bis Mr Desombre einen Schritt zurücktrat und zufrieden seine Auswahl begutachtete.

»Sehr schön. Doch sosehr ich Ihre Gesellschaft und Ihre Fachkenntnis genossen habe, Mrs Petersen … Was das Geschäftliche angeht, hätte ich gern einen der Inhaber gesprochen.«

Katya hatte sich an die fließenden Übergänge zwischen Verhandeln und Flirten gewöhnt, zwischen Galanterie und freundlicher Herablassung. Ein Spannungsfeld, in dem sie gelernt hatte, mal ihre Weiblichkeit zum Vorteil zu nutzen und mal klare Grenzen zu ziehen.

»Natürlich. Folgen Sie mir bitte.«

Sie war sich der Blicke Mr Desombres in ihrem Rücken bewusst, während sie durch den Vorraum zum Salon hinübergingen. Umso aufrechter hielt sie sich und ließ bei jedem Schritt selbstbewusst ihre Röcke rascheln.

»Herr Bremer, würden Sie uns bitte einen Kaffee bringen?«

Eilfertig sprang der Schreiber, der an eine emsige Ameise erinnerte, von seinem Platz auf.

»Sofort, gnädige Frau.«

Am runden Tisch plauderte Katya mit Mr Desombre über London und das Wetter in Hamburg, bis Lewin Bremer den Kaffee serviert und die Tür leise hinter sich geschlossen hatte.

»Kommen wir also zum Geschäftlichen«, wechselte Katya dann beim ersten Schluck aus ihrer Tasse nahtlos das Thema.

Ihr Gegenüber lächelte milde. »Ihr rührendes Engagement in allen Ehren, Madam, aber …«

»Sie wollten mit einem der Inhaber sprechen«, fiel Katya ihm ins Wort, »und einem der Inhaber sitzen Sie nun gegenüber. Ich habe Petersen & Voronin mitbegründet und halte ein Viertel der Anteile. Mit allen Rechten und Pflichten, Befugnissen und Vollmachten. Übrigens nicht erst seit meiner Heirat.«

Vielleicht der Augenblick, in den Katyas Stolz auf sich und das, was sie erreicht hatte, am größten gewesen war. Als die vier Eisbarone in Anwesenheit eines Notars die Firmendokumente unterschrieben, die ein für alle Mal festlegten, wie sie innerhalb der Firma zueinander standen. Ein unerschütterliches Bollwerk gegen die Stürme, Springfluten und Feuersbrünste, die sie vielleicht eines Tages untereinander heraufbeschworen. Eine wie in Stein gemeißelte Vereinbarung, die sie überdauern würde, bis weit in die kommenden Generationen hinein, solange auch nur ein Pfennig des Firmenvermögens entweder auf der Seite von Soll oder Haben stand. Ein Echo dieses Hochgefühls empfand sie immer noch, sobald sie ihren Namen unter ein Schriftstück setzte.

Mr Desombres Blick verhärtete sich wie Wasser, das in plötzlicher Kälte rasch gefriert; Katya konnte es förmlich knistern hören.

»Wie Sie meinen, Madam. Ich schätze zwar die Qualität Ihrer Ware, trotzdem erscheinen mir die Preise, die Sie mir vorhin nannten, reichlich hoch. Besonders in diesem Jahr.«

Katya senkte den Blick auf ihre Tasse. Natürlich hatte auch ein Mr Desombre aus London vom Untergang der Maiden of the Seas gehört, man informierte sich über seine Geschäftspartner. Jeder konnte sich ausrechnen, was ein solcher Verlust für ein zwar ertragreiches, aber doch kleines Unternehmen bedeutete, das noch kein Jahrzehnt bestand.

Mit einer Kühle, die sich mit der Mr Desombres messen konnte, hob Katya den Blick wieder an.

»Ich freue mich, dass Ihnen die ausgesuchte Qualität der Stoffe aufgefallen ist. Besonders in diesem Jahr sind wir mit unserem Einkauf sehr zufrieden. Nur hat eine solche Qualität eben auch ihren Preis.«

Mr Desombre sträubte sich sichtlich dagegen, dass Katya ihm das Wort im Mund umdrehte.

»Aber wir bieten Ihnen gern einen Mengenrabatt an«, sprach sie ungerührt weiter. »Bei Abnahme von zehn Ballen Seide jeweils drei Pfund Sterling, bei jeden weiteren fünf Ballen noch einmal drei Pfund pro Ballen. Ab zwanzig Ballen Baumwolle oder Leinen können wir Ihnen mit jeweils zwei Pfund Sterling entgegenkommen, da haben wir bereits knapp kalkuliert.«

Ein symbolischer Nachlass, mehr konnten sie ihm nicht zugestehen. Selbst nach den ordentlichen Verkäufen an ihre englischen und deutschen Stammkunden brauchten sie jede Mark, jedes Pfund in der Kasse. Und Desombre & Co. konnte es sich leisten; auch die vier Eisbarone hatten sich vorab erkundigt.

»Das ist nicht ganz das, was ich im Sinn hatte«, entgegnete Mr Desombre säuerlich.

Zwischen den Schulterblättern brach Katya der Schweiß aus, noch befeuert durch den Kaffee. Ein weiteres Mal auf die Qualität und Schönheit der Stoffe hinzuweisen würde hilflos wirken, das ahnte sie.

»Ein mehr als großzügiges Angebot unsererseits«, erwiderte sie mit dem Hochmut der Verzweiflung.

Mr Desombre lachte kopfschüttelnd.

»Ich sehe schon, die Herren Petersen und Voronin haben Sie hervorragend instruiert. Aber da wir beide ganz unter uns sind … Sie haben es doch bestimmt in der Hand, mir ein klein wenig mehr entgegenzukommen. Mit Ihrem Charme könnten Sie das sicher den Gentlemen im Hause schmackhaft machen. Ganz besonders Mr Petersen. Die holde Weiblichkeit verfügt ja immer über besondere Mittel und Wege.«

Sein Lächeln war anzüglich geworden, unverschämt geradezu.

Katyas Blick wanderte zum Fenster hinaus. In aller Seelenruhe zogen die Wolken über den Himmel, vollkommen gleichgültig, was unter ihnen vorgehen mochte, und Katya beneidete sie darum.

Es hatte sich nichts geändert, seit sie als kleines Mädchen in Russland die Magd des Vaters und der großen Brüder gewesen war. Seit ihrer ersten Fahrt in das Nordmeer, als Junge verkleidet und allzu bald enttarnt. Immer noch waren es die Männer, die sie auf ihren seit jeher angestammten Platz verwiesen. Die ihr vorschreiben wollten, wie weit sie gehen durfte.

Eine lähmende Müdigkeit machte sich in ihr breit. Sie wollte nicht hier sein, im Kontor mit Mr Desombre. Sie sehnte sich danach, in warmen Männersachen und schweren Stiefeln auf ihrem zugefrorenen See zu stehen, wo niemand infrage stellte, was sie entschied. Nach der tröstlichen Ruhe aufgeschichteter Eisblöcke, die unter dem Torfmantel ihren kalten Atem verströmten, trotz aller Vergänglichkeit etwas Ewiges hatten. Doch der Lagerraum unten im Speicher war leer, der nächste norwegische Winter noch Monate entfernt.

Einige Herzschläge lang beobachtete Katya den Flug der Vögel draußen am Himmel. Sie wussten, wann sie sich vom Wind tragen lassen konnten und wann sie energisch mit den Flügeln schlagen mussten. Dann richtete sie die Augen wieder auf ihr Gegenüber.

»Wir verkaufen unsere Ware nicht unter Wert, Mr Desombre. Danke, dass Sie sich trotzdem die Zeit genommen haben.«

Was immer Mr Desombre über Frauen, die starrköpfig die Zügel an sich rissen, auf der Zunge liegen mochte, spülte er mit einem großen Schluck seines Kaffees hinunter.

Ohne als Geschäftsfrau auch nur einen Zoll zurückzuweichen, schlüpfte Katya mühelos in die Rolle der guten Gastgeberin, wie sie es sich bei Silja abgeschaut hatte.

»Werden Sie denn ein paar Tage länger in Hamburg bleiben? Kommen Sie, ich schenke Ihnen nach. Wir können in Ruhe noch eine Tasse trinken, der nächste Interessent wird erst in einer guten halben Stunde hier sein.«

Was gelogen war. Doch der Unwille, der Mr Desombre ins Gesicht geschrieben stand, war diese Finte allemal wert.

In fast schon unhöflichem Schweigen brütete der Engländer über seinem Kaffee vor sich hin, während das steigende Wasser des Dovenfleets an den Grundmauern des Speichers gluckste und vor den Fenstern die Möwen lockend riefen.

»Also schön. Wir sind im Geschäft.«

Über den Rand seiner Tasse hinweg sah er Katya tief in die Augen.

»Aber nur, weil Sie es sind, Mrs Petersen. Welcher Gentleman könnte Ihnen schon etwas abschlagen?«

Загрузка...