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Betje schwitzte.

Nicht wie früher in Ostfriesland, wenn sie vor Clas und seinen Spießgesellen weggerannt war. Oder wenn die Tante sie im Sommer mittags zum Krämer geschickt hatte und Betje den ganzen Weg hin und zurück unter einem knallblauen Himmel über die Wiesen gestapft war. Es war auch anders als zu Hause in Hamburg, wenn sie mit roten Backen zwischen dem Essen auf dem Herd und dem Kuchen im Ofen hin und her wirbelte.

Hier in Indien schwitzte Betje aus allen Poren. Auch nachts unter dem Moskitonetz, obwohl durch das kleine flache Haus, das Bungalow hieß, ständig ein leises Lüftchen wehte und die Böden kühl waren. Sogar wenn sie sich gar nicht bewegte, schwitzte sie noch.

So wie jetzt, in dem simplen zweirädrigen Pferdewagen, der über eine staubige Straße holperte, von der Küste aus ins Hinterland, um eine der Werkstätten zu besuchen, aus denen die Eisbarone ihre Tuchballen bezogen.

Das luftige Kleid aus hauchdünnem Musselin klebte überall auf Betjes Haut, in ihren leichten Stoffschuhen schien das Wasser zu stehen, und unter dem Rand ihres Sonnenhuts sammelten sich kleine Bäche. Selbst der Wind, der vom Meer her kam und die Palmen durchkämmte, brachte keine Abkühlung, feuchtheiß wie ihr eigener Atem.

Endlich hatte Betje das Meer gesehen. Gleich so viel davon, dass es sie krank gemacht hatte. In ihrem Kopf hatte sich alles gedreht, während das Schiff auf und ab schaukelte, speiübel war ihr geworden. In der Kabine hatte Katya ihr den Eimer gehalten, Betje Suppe eingeflößt und Stückchen von Ingwerwurzel zum Kauen gegeben. An Deck hatte Katya sie geschleppt, obwohl Betje gar nicht wollte, damit sie frische Luft schnappen und dabei den Horizont fixieren konnte, bis es ihr besser ging.

Verzeihen konnte sie Katya trotzdem nicht, dass sie sie von Henny und Christian fortgeholt hatte, wo sie noch einmal ein bisschen Kind hatte sein können, eine große Schwester für Jette und Marie. Wie einen vergessenen Koffer hatte Katya sie gepackt und mit sich geschleift, drei endlose Monate lang über das Meer, bis ans Ende der Welt.

Finster musterte sie Katya, die ihr im Wagen gegenübersaß, neben Benjamin Witte, dem Einkäufer von Petersen & Voronin . Ein kleiner schmaler Mann mit dem freundlichen Gesicht eines Igels, der trotz der Hitze einen steifen Kragen und Jackett trug. Nur wenn er abends zum Essen blieb und danach noch mit Katya auf der Veranda etwas trank, legte er die Jacke ab und löste den obersten Hemdknopf.

Viel zu viel Zeit verbrachten die beiden damit, den diesjährigen Einkauf zu besprechen, fand Betje.

»Warum ist Thilo nicht mitgekommen?«, fragte sie und stieß erneut die Diskussion an, die sie in den vergangenen Wochen zur Genüge geführt hatten.

»Weil er in Hamburg zu tun hat«, erwiderte Katya ungerührt. Abgesehen von ein paar Schweißperlen auf der Nase, schien ihr in ihrem dünnen blauen Kleid die Hitze nichts auszumachen.

»Konntest du mich nicht bei ihm lassen?«

Betje wusste, dass sie sich kindisch verhielt und gemein noch dazu, und suhlte sich dennoch genüsslich in ihrem Selbstmitleid.

»Das ging nicht«, erklärte Katya einmal mehr, eine Spur von Ermüdung in ihrem Tonfall.

»Du hast mit ihm gestritten, nicht wahr?«, bohrte Betje nach. »Und anstatt es wieder in Ordnung zu bringen, flüchtest du einfach. Um uns allen zu zeigen, dass du die Oberhand hast und uns wie die Puppen tanzen lassen kannst.«

Benjamin Witte hüstelte verlegen und zog den hellen Hut tiefer in die tropengebräunte Stirn, bevor er angelegentlich seine Fingernägel betrachtete.

Katyas Blick glitt durch die Fensteröffnung in die vorbeiruckelnde Landschaft hinaus, ein Flickenteppich aus üppigen Feldern, trockenem Grasland und tropischen Laubwäldern, dazwischen das eine oder andere Bauernhaus.

Das Gespräch mit Thilo war kurz ausgefallen, im Kontor hinter verschlossenen Türen. Katya hatte keinerlei Bedürfnis nach Fragen und Antworten verspürt, nicht nach Anschuldigungen und Rechtfertigungen, und hatte Thilo schlicht über ihren Entschluss informiert. Die Wohnung überließ sie ihm ohne Bedingungen oder Einschränkungen, bis sie herausgefunden hätte, wie es für sie weitergehen sollte; vorher würde sie nicht zurückkehren.

Das Schlimmste war die Erleichterung gewesen, die sich auf seinem Gesicht abzeichnete.

»Du wolltest nur nicht, dass ich Zacharias wiedersehe«, setzte Betje noch eins drauf.

Katya blinzelte. Darin waren sie und Thilo sich einig gewesen, Betje sollte erst einmal nichts von der Liebschaft zwischen Thilo und Zacharias erfahren. Damit es ihr nicht womöglich ihr Mädchenherz brach und sie wenigstens einem von ihnen beiden weiterhin Vertrauen und Zuneigung entgegenbringen konnte.

»Nicht einmal von Hanno konnte ich mich verabschieden«, brachte Betje ihre nächste Beschwerde vor.

»Er stand oft genug vor unserer Tür«, entgegnete Katya kühl. »Du hast dich immer geweigert, ihn zu sehen.«

Betje stieg das Blut ins Gesicht, ihr blau funkelnder Blick spießte Katya förmlich auf.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Betje nach Indien mitzunehmen. Jeder Tag mit ihr kostete Kraft, aber noch war Katya nicht bereit aufzugeben.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich hier soll«, maulte Betje mit allem Trotz ihrer mittlerweile fünfzehn Jahre.

Katya atmete tief durch. »Dann mach die Augen auf.«

»Immer muss es nach dir gehen«, schoss Betje heftig zurück.

Katya hatte genug. Mit einem scharfen Ausruf klopfte sie gegen die Rückwand, und ruckelnd kam der Wagen zum Stehen.

»Steig aus«, forderte sie Betje auf.

Misstrauisch lugte Betje aus dem Fenster. »Warum? Hier ist doch nichts.«

»Steig aus. Ein drittes Mal sage ich es nicht.«

Murrend kletterte Betje an Benjamin Wittes galant dargebotener Hand aus dem Wagen, und nach ein paar leisen Worten, mit denen sie ihn bat vorauszufahren, tat Katya es ihr gleich. Der Wagen rollte an und entfernte sich in aufgewirbeltem Staub.

Verdrießlich sah Betje sich um, weit und breit nichts als Reisfelder und ein palmengesäumter Himmel.

»Und was machen wir jetzt hier?«

Katya rückte ihren breitkrempigen Strohhut zurecht, dessen Bänder im Wind flatterten.

»Wir gehen das letzte Stück zu Fuß. Tut dir sicher gut.«

Betje verzog den Mund. »Auf keinen Fall! Das ist viel zu heiß.«

»Genau deshalb. Nur so gewöhnst du dich an die Hitze. Los, komm!«

Munter schritt Katya aus, während Betje wie angewurzelt stehen blieb. In ihr fühlte es sich an wie in einem Kochtopf, in dem das Wasser seinen Siedepunkt erreicht hatte und zischend und dampfend am Deckel zu rütteln begann.

»Warum konnte ich nicht einfach zu Hause bleiben?«, rief sie Katya nach. »Ich will nicht hier sein! Ich hasse es hier!«

Betje hasste die Sonne, die ihr die Haut trotz Hut und langer Flatterärmel mit noch mehr Sommersprossen übersäte, und die Fliegen, die sich ständig surrend und krabbelnd auf ihr niederließen, als wäre ihr Schweiß klebriger Sirup, sooft sie auch nach ihnen schlug. Sie hasste es, in einem fremden Land zu sein, unendlich weit von allem entfernt, was ihr vertraut war. Wo die Menschen fremd aussahen und fremd rochen und sie die Sprache nicht verstand. Sie hasste es, wenn Katya sich in den Raum zurückzog, in dem sie auf Eisblöcken die eigenartigen Früchte dieses Landes lagerte, und Betje ihren Büchern und Übungsaufgaben überließ. Noch mehr hasste sie es, dass niemand ihr sagte, was zwischen Katya und Thilo vorgefallen war. Ob sie ihn überhaupt jemals wiedersehen würde, auch wenn er ihr das zum Abschied versprochen hatte, mit traurigem Blick.

Am meisten hasste sie, dass Katya sie, ohne mit der Wimper zu zucken, hier stehen ließ, mitten im Nirgendwo. Als wäre es ihr egal, ob ein Tiger aus den Feldern hervorbrach und Betje zerfleischte. Ob sie hier auf der Stelle einen Hitzschlag erlitt oder ein fremder Mann sie mitnahm, um eklige Dinge mit ihr zu tun wie damals Joost, der Hausierer. In Betje kochte es über.

»Ich hasse dich!«, brüllte sie über die sattgrüne und fruchtbare Ebene hinweg. Inmitten der Reisefelder hob ein Ochse verwundert den Kopf.

Endlich blieb Katya stehen und drehte sich um.

Sie nickte. »Ich weiß.«

Mehr sagte sie nicht, und noch immer brodelte es in Betje.

»Hör auf, an mir rumzuzerren«, schleuderte sie Katya entgegen. »Ich werde doch niemals so sein wie du!«

Erstaunen glitt über Katyas Gesicht, das sah Betje auch auf die Entfernung.

»Du sollst gar nicht so sein wie ich, Betje. Das habe ich nie erwartet. Du sollst einfach du selbst sein. Niemand anders. Aber dafür musst du doch wissen, was du willst. Herausfinden, wozu du fähig bist und was du gern magst und was dir liegt. Und wie sollst du das können, wenn du tagein, tagaus in denselben vier Wänden verbringst, zwischen den gleichen fünf Straßen? Wenn du diese Zeit in Indien so sehr hasst, ist das zwar hart. Aber es geht vorbei. Du wirst trotzdem etwas daraus für dich mitnehmen und ein tüchtiges Stück daran wachsen. Deshalb bist du mit mir hier.«

Ohne ein weiteres Wort, eine Geste der Versöhnung setzte Katya ihren Weg fort. Unter Betje geriet der Boden ins Schwanken, keinen Fuß konnte sie bewegen, um ihr nachzulaufen. Wie ein kleines Kind wollte sie nach ihr rufen, damit sie bei ihr bliebe oder wenigstens auf sie wartete, und schaffte es nicht.

Ihr Atem ging stoßweise, während sie sich um sich selbst drehte und hilflos nach allen Seiten Ausschau hielt, ohne zu wissen, wonach sie suchte.

Jäh traf es sie mit ganzer Wucht. Das Grün der Reisfelder, das so intensiv war, dass es im Bauch kitzelte. Die Kleider der Frauen auf diesen Feldern, leuchtendes Gelb, Orange und Rot, und wie das Lied, das sie bei der Arbeit sangen, zu den Vögeln hinaufflog. An den Himmel hinauf, der so viel höher und weiter war als zu Hause. Als ob Betje zu ihm emporwachsen könnte, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, auf ihrer Zunge noch den Geschmack der safttriefenden Frucht, die Katya ihr gestern geschält hatte und die Mango hieß.

Ich bin in Indien. Ich, Betje.

Das Mädchen aus Ostfriesland, das mit einem lahmen Arm zur Welt gekommen war. Das niemand hatte haben wollen und das immer kämpfen musste.

Die Krüppeltrine. Die Missgeburt. Der Nichtsnutz.

Nichts davon war mehr ungeschehen zu machen, und der Zorn und das Herzweh, das sie aus Ostfriesland mitgebracht hatte, schlugen über ihr zusammen, heulten haltlos aus ihr heraus.

Vielleicht würde sie es nie nach Amerika schaffen, das längst zu einem verblassten Traum geworden war. Ausgehöhlt von der Erkenntnis, dass ihre Eltern sie bei Onkel und Tante abgegeben hatten wie einen löchrigen Eimer. Vor so langer Zeit, dass Betje keine Gesichter im Gedächtnis behalten hatte, keine Stimmen und noch nicht einmal die Namen all ihrer Geschwister.

Aber sie war in Indien. Katya hatte sie in diese fremde Welt gebracht, um ihr ein neues Leben zu schenken.

Wie eine Mutter.

Durch die Tränen, die beständig nachflossen, sooft sie sie auch wegwischte, konnte sie Katya nur noch verschwommen erkennen. Aber sie war da. Sie stand einfach nur da, abwartend und geduldig, und wachte aus der Entfernung über Betje.

Ein Lächeln zitterte um Betjes Mund.

Wie ein Spatzenjunges hatte sie sich aufgeführt, das sich aufplusterte und mitleidheischend mit den Flügeln schlug und anklagend schrie, damit es gefüttert wurde und die Altvögel nicht von seiner Seite wichen. Obwohl es doch schon flügge war und selbst Körnchen aufpicken konnte.

Sie konnte aufhören, Katya auf die Probe zu stellen, indem sie trotzte und wütete und gemeine Dinge sagte. Denn Katya würde immer da sein. Wenn auch in einigem Abstand, damit Betje lernte, auf eigenen Füßen zu stehen und ihren eigenen Weg zu gehen. Und sollte Betje dabei stolpern und taumeln und hinfallen, wäre Katya sofort zur Stelle, um ihr aufzuhelfen und auf das aufgeschlagene Knie zu pusten, bevor sie ihr einen liebevollen Schubs gab, damit sie weiterlief.

Als hätte Katya ihre Gedanken gelesen, streckte sie die Hand nach Betje aus. Eine Geste, in der alle Zärtlichkeit der Welt steckte, alle Gewissheit.

Betje raffte mit der Rechten ihren Rock und lief los. Ihren lahmen Arm ließ sie baumeln, wie es ihm gefiel, während ihre Schritte ein eigenes Tempo fanden, einen eigenen Takt auf dem sonnenverbrannten Gras und dem Staub Indiens.

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