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An Deck zu stehen, das Gesicht im Wind, hatte für Katya nichts an Faszination verloren. Über die Wellen zu reiten, auf einem Schiff, das in der Weite des Ozeans zu einer Nussschale schrumpfte, so ausladend, so wuchtig es im Hafen auch gewirkt hatte. Nie schien das Wasser eine Grenze zu kennen, nie ein Ufer, und doch trug es einen an ferne Küsten, unter einen anderen Himmel. Wäre sie als Junge zur Welt gekommen, wäre Katya genauso zur See gefahren wie ihr Bruder Grischa. Dass sie auch als Frau Tausende von Meilen auf den Meeren zurückgelegt hatte, bewies, dass es immer einen Weg gab, war der Wille nur stark genug.
Diese Fahrt in den Norden hinauf war jedoch eine besondere, sogar für Katya. Keine Flucht, wie sie sich selbst fortwährend versicherte. Auch keine Nostalgie, dafür war sie mit zweiundzwanzig Jahren zu jung.
Katya sehnte sich danach, die Hand wieder zum Polarkreis auszustrecken, nach der Klarheit der Tage und nach den scharfen Böen, die Nebel auflösten und Wolken vertrieben. Nach schweigenden Nächten, in denen die Sterne zum Greifen nahe rückten. Hoch im Norden, so hoffte Katya, würde ihre trudelnde Kompassnadel zur Ruhe kommen.
Jede Stunde an der Reling kostete sie aus. Auge in Auge mit der Küste, die von der Zeit und den Elementen gezeichnet war wie ein altgedienter Krieger. Eine baldige Rückkehr hatte sie den schneebedeckten Gipfeln und Graten im Norden Norwegens versprochen. Den Fjorden, deren Eis der Frühling gerade sprengte und schmolz. Sieben Jahre waren seitdem vergangen, doch dieses Land konnte genauso geduldig sein wie Katya.
Der Frachter mit Tuch und Getreide aus Hamburg fädelte sich in ruhigere Wasserwege ein. Zwischen Inseln hindurch, die von Wind und Wetter abgehärtet waren, halb noch im eisigen Griff des Winters, halb schon in zartes Grün getaucht und von den ersten Wildblumen getupft. Katyas Herz schlug schneller, als die Schiffe in Sicht kamen, die sich am Ufer des Sunds tummelten. Der Kirchturm, der die Holzhäuschen in Rot, Weiß und Braun um sich versammelte.
Ihr Gepäck fest in der Hand, ging sie mit langen Schritten die Mole von Tromsø entlang. Ungleich sicherer und zielstrebiger als damals an der Hand ihres Bruders, ein kleines Mädchen mit kurz geschorenen Haaren, barfuß und in Jungenkleidern, schmutzig und ausgehungert. Ausgesetzt an dieser fremden Küste, zur Strafe für ihren Ungehorsam. Nicht ahnend, dass sie hier zum ersten Mal ein Zuhause finden würde, das diesen Namen verdiente.
Geschäftig ging es im Hafen zu. Fässer wurden an Katya vorbeigerollt, Kisten und Säcke herangekarrt und auf die an ihren Leinen zerrenden Schiffe verladen. Die Walfänger machten sich zum Auslaufen bereit; den Sommer würden sie mit ihrer blutigen Jagd verbringen und im Herbst mit reicher Fracht aus den Meeren des Nordens heimkehren. Wie Grischa früher. Seine Heuer und der Erlös seiner kleinen Geschäfte mit grönländischen Pelzen, dazu das Geld, das Katya mit dem Schrubben von Böden im Gästehaus verdient hatte, waren der Grundstock all dessen gewesen, was sie seither erreicht hatten.
Wachsame Blicke streiften sie, fragend und abschätzend, manch ein Seemann starrte sie gar unverhohlen an, sein Gesicht von Wind und Sonne und Salz gebeizt. Fremde weckten Neugierde. Besonders eine Frau wie Katya, hochgewachsen und schlank wie eine Fichte.
Eisjungfer , schwirrte es von irgendwoher und pflanzte sich über die Mole fort.
Katya lächelte in sich hinein. So hatten sie sie hier im Hafen gerufen. Das Mädchen mit den Augen wie der Winterhimmel und die Polarlichter, das bei jedem schelmischen Zwinkern, jeder Neckerei kühl blieb, weil es nichts als Eis und Schnee im Sinn hatte.
Ihrer norwegischen Mädchentracht war sie längst entwachsen und auch keine Jungfer mehr. Sie trug die ersten Schrammen unglücklicher Liebe und zerbrochenen Vertrauens auf dem Herzen und einen kleinen dunklen Fleck, wo sie selbst untreu geworden war, unter dem Sternenhimmel einer Tropennacht.
Der Wind blähte ihre Röcke und trieb sie eilig vorwärts, plötzlich voller Ungeduld. Wie von selbst schlugen ihre Füße den Weg ein, den all ihre Briefe in den letzten sieben Jahren genommen hatten.
Das Gästehaus strahlte unter einer Schicht neuer Farbe, die Fensterscheiben blitzten im Sonnenlicht, auf der gespannten Leine flatterten frisch gewaschene Leintücher. Ein Junge kauerte darunter, ganz darin vertieft, Holzschiffchen durch das Meer aus Grashalmen zu steuern.
Sein ungebärdiges Haar war ungewöhnlich dunkel für diesen Landstrich. Das noch kindlich weiche Gesicht ließ schon die kräftigen Züge erahnen, die sich in nur ein paar Jahren herausprägen würden. Ein biegsamer Schössling, der es kaum abwarten konnte, sich zu einem mächtigen Baum zu strecken.
Die konzentrierte Miene, mit der dieser Junge sich seinem Spiel widmete, war Katya auf merkwürdige Weise zutiefst vertraut. Ihre Schritte gerieten aus dem Takt.
Mit einem Mal war sie wieder ein kleines Mädchen in Russland und rannte auf kurzen Beinen Grischa hinterher. Ihrem großen Bruder, der alles konnte, alles wusste und wie Wind und Regen war. Der den viel größeren, viel stärkeren Brüdern in den Arm fiel, wenn sie Katya schlugen, und sie nachts auf dem Strohsack beschützend an sich drückte, sie wärmte, wenn sie fror.
Ihren Bruder in diesem Jungen wiederzuerkennen ließ sie das besondere Band zu Grischa spüren, am Tag von Katyas Geburt geknüpft, als ihrer beider Mutter starb. Eine Nabelschnur zwischen Bruder und Schwester, die noch immer so stark, so lebendig war, dass es ihr für einen Augenblick den Atem nahm.
Als der Junge den Kopf hob und sie mit seinen hellen nordischen Augen ansah, schmal und schräggestellt wie die eines Fuchses, wusste Katya, wessen Kind er war, noch bevor er nach seiner Mutter rief.
Silja Guðmundsdóttir erschien in der Tür und blieb wie eingefroren stehen.
Das flächige Gesicht mit den breiten Wangenknochen war weicher geworden, voller. Feine Linien zeichneten sich mittlerweile unter ihren blauen Fuchsaugen ab, Mitte vierzig musste sie jetzt sein. Falls sich das erste Grau in ihr Haar eingeschlichen hatte, ging es völlig im Silberblond ihres Flechtkranzes auf.
Eine feine Röte kroch über ihr Gesicht, während sie einige Herzschläge lang schwieg, vielleicht vorwurfsvoll, vielleicht schuldbewusst.
»Du kommst früh«, stellte sie schmallippig fest.
»Wir hatten guten Wind«, erwiderte Katya, die dänische Mundart fremd und heimisch zugleich.
Silja wischte sich die Hände an der Schürze über ihrer Witwentracht ab.
»Sag Katya Guten Tag, Magnus.«
»Guten Tag«, echote die Jungenstimme mit freundlicher Gleichgültigkeit, an Gäste gewohnt, die beständig kamen und wieder gingen.
Eine befangene Stille entspann sich, beschwert von unausgesprochenen Fragen, verweigerten Antworten. Dann ging ein Ruck durch Silja, und sie schloss Katya in die Arme. Hüllte sie ein in ihren Duft nach Wacholder und sahniger Butter, nach Kaffee und noch warmem Zuckergebäck. Die einzige Mutter, die Katya je gekannt hatte.
Erst am Abend kehrte im Haus Ruhe ein, nachdem die Gäste verköstigt worden waren und sich in ihre Zimmer zurückzogen oder noch auf ein Bier ausgingen. Line, die in der Küche mithalf, hatte die letzten Teller gespült und warf sich ihr Schultertuch über, um sich auf den Weg zu ihrem Witwenhäuschen zu machen. Und Jorunn, ein Mädchen wie eine Sprotte, aber tüchtig mit Wäschekorb und Schrubber, stieg zu der Kammer unter dem Dach hinauf, die früher einmal Katyas Reich gewesen war.
Das Feuer im Kamin prasselte behaglich, so früh im Jahr waren die Nächte noch kalt. Im Lampenlicht flickte Silja eine von Magnus’ Hosen, während Katya sich den ausgefransten Saum eines Tischtuchs vornahm. Die Maschen zwischen den beiden Frauen, die sich trotz all der Briefe gelockert hatten, hatten sie den Tag über zusammengezogen, das eine oder andere Löchlein aus sieben langen Jahren gestopft. Jetzt war es Zeit, die losen Fäden aufzugreifen.
»Du hast nie von ihm geschrieben.«
In Katyas Stimme lag kein Vorwurf. Nur ein zärtliches Staunen über diesen Jungen, der mit Zahnlückengrinsen und leuchtenden Augen immer noch mehr über die Elefanten und Tiger Indiens hatte wissen wollen und über die Schiffe, mit denen Katya über die Meere gesegelt war. Mehrmals hatten sie ihm versprechen müssen, dass Katya morgen auch noch da sein würde, dann erst konnte Silja ihn dazu bewegen, schlafen zu gehen, lange nach seiner gewohnten Bettzeit.
»Du hattest genug eigene Sorgen«, erwiderte Silja sanft.
Als Katya vor sieben Jahren oben in der Kammer ihre Segeltuchtasche gepackt hatte, den Blick nach vorn gerichtet, in ihr neues Leben, war dieser Junge bereits in Siljas Bauch geschwommen, gut versteckt unter weiten Röcken. Während Katya in Hamburg Fuß fasste und sich die Finger wund nähte, um mit Grischa und den Brüdern Petersen ihren Traum von einem Handel mit Eis wahr werden zu lassen, reifte der Sohn ihres Bruders in Silja heran und beschwerte deren Schritte. Und um jene Zeit herum, als Katya mit den Scherben einer ersten scheuen Liebe dasaß, weil Christian Petersen eine andere geheiratet hatte, hatte sich hier in Tromsø Magnus auf den Weg in die Welt gemacht. Genährt und umsorgt von seiner Mutter, die so lange schon verwitwet war.
»Das war sicher nicht leicht für dich«, sagte Katya leise.
Die vertrauliche Anrede hatte sich ganz selbstverständlich eingeschlichen, von einer erwachsenen Frau zur anderen. Sicher lag es auch an Magnus, dass eine neue Nähe zwischen ihnen entstanden war.
Stich um Stich schob Silja die Nadel durch den festen Stoff, zog das Garn nach.
Für viele in Tromsø war ihr wachsender Bauch der Beweis dafür gewesen, dass die Händler, die bei Silja Guðmundsdóttir abstiegen, zu einem Bett, frischer Wäsche und warmen Mahlzeiten noch andere Dienstleistungen erwarten konnten. Wie man es bei der Isländerin immer schon vermutet hatte. Warum sonst sollte das Gästehaus von den ersten Frühlingstagen bis spät im Herbst immer voll sein, sogar im Winter war stets das eine oder andere Zimmer für ein paar Tage vermietet. Eine noch junge Witwe, die gegen Geld fremde Männer beherbergte, konnte nichts anderes sein als ein liederliches Frauenzimmer.
Silja hatte das Kinn umso höher gereckt, wenn sie durch die Stadt ging, hatte sonntags umso aufrechter in der Kirchenbank gesessen. Sie hatte nichts zu verbergen, nichts zu entschuldigen. Solange die Händler und Jäger und Durchreisenden ihr Haus nicht mieden, war es ihr gleichgültig, was über sie geredet wurde.
Ihre Gäste, an Siljas Fürsorge zu einem guten Preis gewöhnt, waren weiterhin gekommen. So verlässlich, dass es ihr Kopfzerbrechen bereitete, wie sie sich zwischen Wehen und Wochenbett um sie kümmern sollte. Später mit einem Neugeborenen, das ständig nach Milch und einer frischen Windel schrie oder einfach nur danach, im Arm gehalten zu werden.
»Oddveig war mir eine große Stütze.«
»Oddveig Halvorsdotter?«
Katya hatte im Haus gerade Hut und Jacke abgelegt gehabt, noch nicht einmal an ihrem Kaffee genippt, als auch schon die Nachbarin an der Tür geklopft hatte, um sich Zucker zu borgen und dabei eingehend zu begutachten, was aus der kleinen Russin geworden war, die früher hier Fenster geputzt und Betten gemacht hatte.
»Manchmal gehen Neugierde und Hilfsbereitschaft Hand in Hand«, sagte Silja.
Wissend lächelten sie einander zu.
»Warum hast du es Grischa nie gesagt?«
Silja runzelte die Stirn und zupfte an dem Faden, der nicht geschmeidig durch den Stoff gleiten wollte.
»Um ihm die Ketten von Frau und Kind anzulegen? Einem halben Jungen noch, hungrig auf das Leben und die weite Welt? Dabei wäre wohl kaum etwas Gutes herausgekommen.«
Katya strich das Tischtuch auf ihrem Schoß glatt und begutachtete ihr Werk. »Wolltest du nie wieder heiraten?«
Über die Jahre hatte es Gäste gegeben, die Silja Guðmundsdóttir den Hof machten. Mit roten Ohren und inbrünstigen Blicken; charmant, geschäftsmäßig nüchtern oder geradezu anzüglich. Manch einer hielt sich selbst gar für ein Gottesgeschenk, das nur eine Närrin ausschlagen würde.
Keinen Gedanken hatte Silja je daran verschwendet. Nicht einmal bei denen, die das Herz am rechten Fleck hatten und mit Magnus gut konnten, ihm Spielzeug mitbrachten und versteinerte Krabbeltiere, den Splitter eines Walrosszahns und Geschichten von unterwegs.
Sie hatte alles, was sie brauchte, was sie wollte. Und nichts wollte sie weniger, als wieder unter den Schutzmantel eines Mannes zu schlüpfen, nachdem sie so lange schon fest auf eigenen Füßen stand.
Mit der Zeit würden sich auch die eifrigsten Zungen Tromsøs beruhigen, das war doch immer so.
»Manche Frauen entscheiden sich nie für den einfachsten Weg.«
Katya spürte den fragenden Blick, noch bevor Silja erneut das Wort ergriff.
»Du hast lange nichts mehr von dir und Thilo Petersen geschrieben. Oder von dir und Christian.«
Das munter tanzende Kaminfeuer erinnerte Katya an die Flammen der Öllämpchen im Gästehaus von Madras, fast zwei Jahre war es her. Als ihr dämmerte, dass das Versprechen, das sie und Thilo einander gegeben hatten, gerade in Rauch aufging, weil Thilo nur ein paar nackte Lehmwände von ihr entfernt den Weg zurück in Grischas Arme gefunden hatte.
Ihr Verlobter und ihr Bruder. Es hatte wehgetan, natürlich hatte es das. Für großen Kummer war allerdings nicht viel Raum geblieben, in der Nähe zu Christian. Im Rausch des Triumphs, nicht nur ihr Eis mit sattem Gewinn verkauft zu haben, sondern dazu noch mit den Schätzen Indiens beladen heimzukehren. Gefühlstrunken vor neu gewonnenem Glück, jegliche Katerstimmung noch weit entfernt.
Drei Monate verbrachten sie auf See, im Rückblick eigentümlich zusammengeschmolzen auf einzelne Stunden, besondere Momente. Es musste raue Winde gegeben haben, Sturmwolken und schweren Regen, denn der Monsun war finster und polternd über sie hinweggerollt. In Katyas Erinnerung waren nur die heiteren Tage übrig geblieben, die stillen Nächte. In einem vergessenen Winkel des Schiffs, in den nächtlichen Schatten an Deck hielten Christian und sie sich bei den Händen. Lachten und flüsterten miteinander, ließen den anderen tief in die eigene Seele blicken und spannen Träume von morgen.
Behutsam und fast schüchtern waren ihre Küsse gewesen, salzig vom Meer und dem Schweiß harter Arbeit an Bord, jeder davon eine Wiedergutmachung, ein kleines Versprechen. Mehr hatten sie nicht gewagt, mehr hatten sie nicht gebraucht, sie hatten doch alle Zeit der Welt. Jetzt, da sich die Zukunft sonnenflimmernd und sternenfunkelnd vor ihnen ausdehnte wie der weite Ozean.
Katya musste an das Insekt denken, eingeschlossen in einem Stück Bernstein, das Magnus ihr am Nachmittag stolz gezeigt hatte. Sein größter Schatz, den ihm ein Händler aus dem Baltikum bei seinem alljährlichen Besuch geschenkt hatte.
So war es gewesen, an Bord der Maiden of the Seas . Eine Welt für sich, aus Farbe und Licht. Ein Tropfen Ewigkeit. Mit aller Wucht zerschmettert von der Wirklichkeit, kaum dass sie in Hamburg eingelaufen waren.
Was mit Christian hätte sein können, war zu einem dumpfen Weh abgeklungen. Ein tief liegender Bluterguss, der noch immer leise pochte. Es war leichter geworden, seit sie nicht mehr unter einem Dach wohnten.
Gegen die machtvollen Strömungen und Brecher des Lebens kam man nicht an, mit allem Willen und Widerstand nicht. Man konnte nur versuchen, sich über Wasser zu halten, und hoffen, irgendwann eine sichere Küste zu erreichen.
»Thilo hat mich noch einmal gefragt, ob ich seine Frau werden will.«
Silja warf ihr einen aufmerksamen Blick zu. »Willst du?«
Katyas Antwort war ein vorsichtiger Schritt auf brüchigem Eis.
»Ich weiß es nicht mehr.«
Silja hörte Zerwürfnisse und Enttäuschungen heraus. Irrwege durch ein Dickicht aus Gefühlen und ein Herzensleid, das sie Katya gern erspart hätte.
Einmal mehr fühlte sie sich bei Katyas Anblick an ihre Heimat erinnert. Das Eisland , dem ersten Augenschein nach so still und sich selbst genug. Geradezu in sich zurückgezogen, am Rand des tiefen und kühlen Nordmeers. Und doch war es kein zahmes Land. Verwerfungen und Brüche setzten den Erdboden unter Spannung und entluden sich in Erschütterungen, und fortwährend dampfte und brodelte es aus dem heißen Herzen der Insel.
Silja vernähte das letzte Fadenende. Lange brauchte der Stoff ohnehin nicht mehr zu halten, bis zum Sommer würde Magnus schon wieder aus seinen Hosen herausgewachsen sein. Sie stand auf, um das Kleidungsstück auf den Stuhl neben seinem Bett zu legen und einige Herzschläge lang über seinen Schlaf zu wachen.
Das unruhige Wechselspiel von Feuerschein und Schatten auf Katyas Gesicht schien wiederzugeben, was in ihr vorgehen mochte. Als Frau, weit gereist und weltgewandt, war sie unter das Dach zurückgekehrt, unter dem sie zu einem jungen Mädchen herangewachsen war. Dieses Menschenkind, das ein unbarmherziger Wind damals an Siljas Türschwelle geweht hatte wie ein zu früh vom Baum gefallenes Blatt.
Silja drückte einen Kuss auf Katyas Haar, schwarz glänzend wie die Nacht.
»Lass dir hier alle Zeit, die du brauchst.«