20



Betje kauerte auf der Treppe, die hinunter zum Fleet führte. Im Wasser dümpelten Boote und Kähne leer und verlassen an ihren Tauen, die Seilwinden der Kräne standen still. Die Schiffer und Arbeiter hatten ihr Tagwerk beendet, ein paar davon verweilten noch in einiger Entfernung und rauchten zusammen ihre Feierabendpfeife, aus einem geöffneten Fenster rief eine Mutter nach ihren Kindern. Der erste fahle Hauch der Dämmerung kroch in die Häuserschlucht, der beizende Geruch von brackigem Wasser und Jauche, von Ruß und aufziehendem Nebel. Der Winter war nicht mehr fern.

Feuchte Kälte zog von den Steinstufen in Betjes Rock und machte ihr die Beine klamm, das Hinterteil taub. Es war ihr egal, alles war ihr gerade egal.

»Betje?«

Sie schluckte das nächste Schluchzen hinunter und hob vorsichtig den Kopf. Die Hände in den Hosentaschen, stand Zacharias oben auf der Mauer, eine Mischung aus Verwunderung und unerwarteter Freude auf dem Gesicht, und eilte dann in langen Schritten die Treppe hinunter. Hastig wischte Betje sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Lang nicht mehr gesehen«, sagte Zacharias, als er sich neben ihr niederließ.

Betje nickte. Die letzten Monate waren prall angefüllt gewesen mit Rechenstunden und den Grundlagen der Buchhaltung, der Plackerei des Lesens und Schreibens. Mit Ausflügen auf dem Wasser und aus der Stadt hinaus, Sonntagsessen mit Hanno und den Abenden, an denen Katya vorlas, bis Betje auf dem Sofa die Augen zufielen.

»Was machst du hier?«

Betje sank weiter in sich zusammen.

»Ich bin ausgerissen«, murmelte sie schließlich.

Zacharias’ Miene verdüsterte sich. »Ich hab gewusst, dass die nicht gut zu dir sein würden.«

Betje schwieg, unsicher, was sie dazu sagen sollte.

Die meiste Zeit über war sie gern bei den Petersens. Wenn sie Arno Petersen im Laden half und mit Thilo über den Geschäftsbüchern Soll und Haben ausbalancierte, sie nach einem Familienkaffee mit Jette und Marie spielte und Grischa Voronin ihr etwas von einer seiner Reisen mitbrachte und von der großen weiten Welt erzählte. Während sie mit Katya in der Küche tätig war, sie gemeinsam an einem Kleidungsstück nähten oder aus bunten Stoffquadraten einen Überwurf für Betjes Bett, dreieinhalb Hände, die einen harmonischen Rhythmus zueinander gefunden hatten. Sogar den Tag, an dem sie einander ein Jahr kannten, hatten sie gefeiert, mit einer Torte und Kerzen und Blümchen, und in buntes Papier eingewickelt hatte sie den Abakus bekommen, den sie sich schon so lange gewünscht hatte, und Thilo hatte ihr gezeigt, wie man mit den Glasperlen dieses Geräts rechnete.

Und doch kam sie immer wieder an den Punkt, an dem sie sich fühlte wie ein Möbelstück in Pawels Werkstatt, zusammengeleimt und in eine Schraubzwinge geklemmt, die sich fester und fester zuzog. Bis Betje nicht mehr anders konnte, als zu wüten und zu toben. Was immer sie gerade in der Hand hielt, flog in die Ecke, Gemeinheiten purzelten ihr aus dem Mund, und dann rannte sie nur noch so weit weg, wie es ging.

Ein hohles und zittriges Gefühl im Bauch, das Hunger sein mochte oder schlechtes Gewissen oder beides, hatte sie bisher immer zurück an den Kehrwieder getrieben. Die erwartungsvolle Hoffnung darauf, dass Katya sie auch dieses Mal wieder fest in die Arme schließen würde. Das Sehnen danach, wie ein kleines Kind in ein heißes Bad gesteckt zu werden, mit einem Teller Suppe auf das Sofa gepackt oder mit einer Gewürzmilch ins Bett. Zu fühlen, dass es einen Unterschied machte, ob es sie im Leben der Petersens gab, und dass sie sich um sie sorgten.

Für ein paar Tage war dann alles gut. Bis erneut die Furcht in ihr heraufkroch, sie könnte nicht gut genug sein. Dass Katya sie morgens nicht weckte, damit sie sich wusch und anzog und zum Frühstück kam, dass sie sie nicht in die Küche rief, um zusammen zu backen und zu kochen, sondern um Betje dorthin zu schicken, wo sie hergekommen war. Eine zittrige, Übelkeit erregende Furcht, die wieder und wieder diesen blindwütigen Zorn in Betje entzündete, vor dem sie nur davonlaufen konnte.

Eines Tages würde sie den Bogen überspannen, das wusste sie. Dann würden die Petersens sie auf die Straße setzen, weil sie so ungezogen war. Betje kam nur nicht dagegen an.

»Ist schon gut«, raunte Zacharias und fing mit dem Daumen die Träne auf, die über Betjes Wange kullerte. »Du musst nicht dorthin zurück, weißt du.«

Betjes ganzes Elend schlug über ihr zusammen.

»Aber wo soll ich denn hin?«

Ein paarmal hatte sie sich zu Hanno geflüchtet, einige Male auch zu Pawel. Inzwischen traute sie sich nicht mehr zu den beiden.

Irgendwann musst du dich entscheiden, Betje, hatte Pawel sie beim letzten Mal ernst ins Gebet genommen. Hü oder hott.

Betje hatte einen roten Kopf bekommen und brav genickt. Geändert hatte sich nichts. Sie schämte sich nur noch mehr dafür, dass sie wie eine Stubenfliege war, die unaufhörlich gegen die Scheibe krachte, weil sie zu blind, zu dumm, zu halsstarrig dafür war, einen anderen Weg zu finden.

Wie selbstverständlich legte sich Zacharias’ Arm um Betjes Schultern.

»Du kannst bei mir bleiben, wenn du willst.«

Zacharias wohnte in einem der Hinterhöfe der Neustadt. Keinen Augenblick ließ er Betjes Hand los, während sie die enge Stiege erklommen, an einer Nachbarin vorbei, die gerade vor ihrer Wohnungstür kehrte. Das Gesicht säuerlich, der Blick vorwurfsvoll, musterte die Frau Betje von Kopf bis Fuß.

»Einen schönen Abend, Frau Wilms«, warf Zacharias ihr im Vorbeigehen zu.

Überaus selbstbewusst klang er hinter seiner ausgesuchten Höflichkeit, fast schon frech. Ein Kichern kitzelte Betje in der Kehle; verwegen kam sie sich vor und wie triumphierend.

»Mach’s dir gemütlich«, sagte Zacharias, als er die Tür hinter ihnen zuzog.

Die Kammer unter der Dachschräge war nicht besonders groß, aber hübsch eingerichtet, wenn auch nur leidlich sauber. Ein bisschen stolz war Betje, dass sie jetzt einen Blick dafür hatte, eine richtige kleine Hausfrau schon mit ihren vierzehn Jahren.

Das Schönste jedoch war der Blick aus dem Fenster, hoch oben über der Neustadt. Im dicken Abendnebel ein Platz wie aus einer der Geschichten, die Katya abends vorlas. Eine Burg mitten in den Wolken, umschwirrt von Irrlichtern, als nach und nach in den Häusern die Lampen entzündet wurden. Eine Höhle auf dem Gipfel eines Berges, der übrigen Welt meilenweit entrückt und wie traumverloren.

Während der Nebel die Stadt unter ihnen verschluckte und jedes Geräusch watteweich abfederte, erzählte Zacharias flüsternd, welchen Kirchturm, welche Dächer man bei klarer Sicht von hier aus sehen konnte und was er seit ihrem letzten Treffen alles erlebt hatte. Mal eine haarsträubende Gruselmär, mal ein herzhafter Schwank, sodass Betje sich mehr noch wie in ihrem ganz eigenen Märchen vorkam, Schulter an Schulter mit Zacharias, sein Flüsteratem auf ihrer Wange.

Er war erwachsen geworden in den vergangenen Monaten. Ein junger Mann, bei dem man sich unweigerlich vorstellte, dass er nicht nur nach den Sternen griff, sondern auch die Sonne zähmte und den Mond betörte.

»Es ist schon spät«, raunte Zacharias irgendwann.

Etwas Unausgesprochenes hing in der Luft, als Zacharias zurücktrat und Licht machte.

»Hast du Hunger?«

Betje schüttelte hastig den Kopf, obwohl ihr flau im Bauch war, sie wollte keine Umstände machen. Suchend wanderte ihr Blick durch die Kammer und kehrte immer wieder zu dem schmalen Bett in der Ecke zurück. Vom Fenster her zog es kalt herein, unwillkürlich schlang sie den gesunden Arm um sich.

»Wo soll ich denn schlafen?«

Zacharias zerrte sich die Stiefel von den Füßen. »Wird schon gehen, zu zweit.«

Betje zögerte, knöpfte dann aber auch ihre Stiefeletten auf, fahrig vor lauter Eile, um ja nicht wie ein Spielverderber dazustehen. Lustig und peinlich zugleich war es, sich zu zweit in diesem Bett zurechtzulegen, Betje noch dazu gehemmt durch ihren lahmen Arm. Trotzdem musste sie immer wieder lachen, während sie und Zacharias ihre Arme und Beine sortierten, mit den Köpfen zusammenstießen, dem anderen unabsichtlich einen Knuff, einen Rempler verpassten.

»Gut so?«, erkundigte sich Zacharias fürsorglich, als sie endlich gemeinsam Platz gefunden hatten.

Betje nickte. Merkwürdig fühlte es sich an, in Zacharias’ Armbeuge zu liegen, der Länge nach an ihn geschmiegt, zwischen dem Bettzeug, das seltsam sauer und salzig roch, ein bisschen wie auf dem Fischmarkt. Merkwürdig und wunderschön. Noch schöner dadurch, dass niemand da war, der sie zum Zähneputzen und Haarebürsten ermahnte, was sie nervtötend fand, und mit Nachdruck auf einer festen Schlafenszeit und einem Nachtgebet bestand.

Hier bei Zacharias war sie wirklich ganz und gar frei. Selig seufzte sie aus tiefstem Herzen auf.

»Ganz kalt bist du«, murmelte er und zog sie fester an sich.

Zacharias’ Wärme drang durch ihre Bluse bis weit unter ihre Haut. Seine Jacke hatte er abgestreift, die obersten Hemdknöpfe geöffnet, einzelne dunkle Haare lugten hervor. Ein Anblick, der Betje genauso verlegen machte wie Zacharias’ Augen, die im Lampenschein unaufhörlich über ihr Gesicht wanderten.

»Darf ich dich küssen?«, fragte er flüsternd.

Betjes Gesicht wurde heiß. Sie wusste nicht, ob sie das wollte, sie hatte keine Vorstellung davon, wie sich das anfühlen würde. Aber sie war neugierig, vor allem schien sie ihm etwas schuldig zu sein, und schließlich rang sie sich zu einem Nicken durch.

Sanft legte Zacharias seinen Mund auf ihren, wie frisch gebrühter Kaffee schmeckte er. Betje fragte sich, nach was sie wohl schmeckte, hoffentlich nach nichts Schlechtem; jetzt wünschte sie sich doch, die Zähne geputzt zu haben. Eigenartig fühlte es sich an, Mund an Mund, und herrlich zugleich, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie jetzt atmen sollte, ob überhaupt. Zacharias machte es ihr leicht, mit kleinen Pausen zwischen den Küssen, und irgendwann mochte sie es sehr, dieses Kribbeln überall, bis ganz weit unten. Dieses Gefühl, ein normales Mädchen zu sein. Mehr noch. Ein Mädchen, das ein junger Mann wie Zacharias gernhatte und küssen wollte. Schwindelig wurde ihr davon, von einem Augenblick zum nächsten in ein Erwachsenenleben hineinkatapultiert, von dem sie immer geträumt hatte.

Zacharias’ Mund blieb nicht weich und zärtlich. Bestimmend wurde er, die Zunge ein hartnäckiger Eindringling, während seine Hand nach den neuen Rundungen unter Betjes Bluse tastete, an die sie sich noch gar nicht gewöhnt hatte. Ihr Körper schien ihr immer ein paar Schritte voraus, vollkommen aus dem Lot geraten, weil manche Stellen jetzt eigenmächtig hüpften und wogten. Als müsste sie jeden Tag aufs Neue mit ihrem lahmen und eigenwilligen Arm auf einem Holzbalken über ein Fleet balancieren, so kam es ihr vor. Besonders jetzt, während Zacharias’ Knie sich zwischen ihre Beine schob, sich unter den Röcken unnachgiebig nach oben zwängte.

Das war nicht das, was Betje wollte. Betje wollte, dass Katya sie fest in die Arme schloss und niemals mehr losließ. Thilo sollte sie an sich ziehen, ihr den Rücken streicheln und versprechen, dass sie sie lieb hatten, auch wenn sie manchmal böse war. Dass sie sie trotzdem nicht wegschickten und nie und nimmer im Stich ließen. So lange, bis Betje es wirklich glauben konnte.

Mit einem unwilligen Laut wandte sie das Gesicht ab, strampelte gegen Zacharias’ Knie.

»Entschuldige.« Atemlos lachte er an ihrer Wange. »Aber was soll ich machen? Du hast mir vollkommen den Kopf verdreht.«

Zu ihrem eigenen Entsetzen spürte Betje, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.

»Nicht doch, Betje.« Bestürzt streichelte Zacharias über ihre zerrauften Locken. »Ich tu dir doch nichts. Bestimmt nicht. Das glaubst du mir doch?«

Betje versuchte sich an einem Nicken und konnte doch nicht verhindern, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen.

»Ich will nach Hause«, schluchzte sie.

Zacharias erstarrte neben ihr. »Ist das dein Ernst?«

»Ich will nach Hause«, wiederholte sie kläglich. »Zu Katya und Thilo.«

Elendig war ihr zumute, weil sie Zacharias nun genauso enttäuschte, wie sie die Petersens ein ums andere Mal enttäuschte. Wie ein kleines Kind lag sie heulend da, dabei hatte sie sich eben noch so erwachsen geglaubt.

Alle Wärme nahm Zacharias mit sich, als er aufstand und in seine Stiefel stieg.

»Also schön. Dann bringe ich dich eben nach Hause.«

Das Lampenlicht in der guten Stube verschärfte den Kontrast zwischen den Figuren aus Elfenbein und Ebenholz. Normalerweise waren es Thilo und Betje, die sich beim Schach gegenübersaßen. Er hatte gutes Gespür bewiesen, als er das Spiel mit nach Hause brachte, Betje schien daran genauso großes Vergnügen zu haben wie er. Voller Eifer ging sie darin auf, ihren Verstand mit seinem zu messen, ihren Sinn für Logik. Nicht selten dehnten sich diese Partien über mehrere Tage hinweg aus, weil sich daraus ein Gedankenspiel zwischen ihnen entspann oder eine Zahlenknobelei.

Katya spielte nicht annähernd so gut, so vorausschauend wie Betje, aber auch Thilo war heute Abend nicht ganz bei der Sache.

»Soll ich nicht doch noch losziehen und sie suchen?«, fragte er und verschob seinen Turm.

Katya schüttelte den Kopf. »Sonst lernt sie nie, dass sie aus freien Stücken zurückkommen muss, wenn sie bei uns bleiben will. Sie soll begreifen, dass unsere Tür ihr immer offen steht, egal, wie widerspenstig sie sich gibt.«

Thilo störte sich an der Härte, mit der sie das sagte. Aber womöglich war es wirklich besser, bei Betje konsequent zu bleiben. Soweit er sich noch daran erinnerte, war auch seine Mutter streng zu ihm und Christian gewesen, während Arno Petersen häufiger mal ein Auge oder sogar beide zudrückte. Er wünschte nur, die ständigen Kämpfe mit Betje würden Katya weniger zermürben.

»Du bist dran«, erinnerte er sie liebevoll.

Doch Katya hatte ihm nicht zugehört. Angespannt lauschte sie nach draußen und war schon aufgesprungen, bevor es klopfte.

Wie ein Häufchen Elend stand Betje vor der Tür, verweint und ihren linken Arm umklammernd wie den letzten dürren Strohhalm. Ein junger Mann war bei ihr, den Kragen seiner Jacke zum Schutz gegen den Abendnebel hochgeschlagen, so etwas wie eine mitfühlende Fürbitte für das Mädchen auf seinem wildschönen Gesicht.

Einige Herzschläge lang war es totenstill, auf eine verkrampfte und unschlüssige Art, bei jedem von ihnen. Nur wenige Augenblicke, in denen Katya eine heftige Abneigung gegen diesen jungen Mann erfasste. Begutachtet fühlte sie sich, hinter seiner augenscheinlich bescheidenen Miene, ihre Vorzüge und Schwächen genauso abgeschätzt wie den Wert des Teppichs im Flur, den der Vase auf der Kommode.

Die vielfach eingeübten, aber immer von Herzen kommenden Worte, mit denen sie bisher Betje wieder aufgenommen hatte, brachte sie dieses Mal nicht heraus, nicht einmal für eine Umarmung nahm sie sich Zeit. Sie schoss einen warnenden Blick in Richtung des jungen Mannes und packte Betje, um sie in die Küche zu ziehen; eine Gänsemutter, deren umherirrendes Junges ahnungslos den Fuchs zum Nest geführt hat.

Thilo atmete tief durch; geradezu schuldig fühlte er sich, in diesem Moment von der Erinnerung an Grischa heimgesucht zu werden, damals, vor mehr als einem Jahrzehnt.

»Danke, dass Sie Betje heil nach Hause gebracht haben. Darf ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken anbieten?«, sagte er zu dem Fremden.

Der junge Mann schien zu zögern, kurz nachzudenken. Dann erhellte sich seine Miene, und lächelnd ergriff er Thilos einladend ausgestreckte Rechte.

»Sehr gern, Herr Petersen.«

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