31



Zäher Nebel hing vor dem Fenster und widersetzte sich beharrlich dem Wind, die Sonne ließ sich nicht einmal erahnen. Eine Dämmerung von herrlicher Zeitlosigkeit, in der sich Thilo umso wohliger auf den teuren Laken ausstreckte, der Stoff schmeichelnd auf seiner nackten Haut. Den Kopf aufgestützt, sah er zu, wie Zacharias sich nach Bad und Rasur ankleidete. Immer noch in der Hoffnung, er würde es sich anders überlegen und wieder ins Bett kommen.

Riesig war dieses Bett, viel zu wuchtig für den Raum und genauso überladen verziert wie der Rest des Mobiliars. Aber Zacharias hatte es so haben wollen, und Thilo hatte schulterzuckend bezahlt. Auch die Miete für die kleine Wohnung hoch oben über dem Hopfenmarkt, gleich ein halbes Jahr im Voraus. Eine gute Adresse für einen Geschäftsmann, darin waren sie sich einig gewesen. Vor allem in einem Haus, in dem man sich mehr um die eigenen Umsätze und Renditen kümmerte als um neue Nachbarn.

Nur dass dieses Liebesnest praktisch genau unter dem Turm von Sankt Nikolai lag, der die Zimmer nicht nur mit seinem Stundenschlag füllte, sondern auch eindringlich zum Gottesdienst rief, daran hatte Thilo sich anfangs gestört.

Sei doch keine Betschwester , hatte Zacharias ihn ausgelacht.

Die Fiebrigkeit, mit der er sich dann auf Thilo gestürzt hatte, hatte diesen jeglichen Einwand vergessen lassen.

Inzwischen verbrachte Thilo mehr Zeit hier als am Kehrwieder, der größte Teil seiner Hemden und Anzüge neben denen von Zacharias im Schrank; sie stammten auch vom selben Schneider. Sobald Katya wieder da war, würde er ganz hierherziehen. Ihr letzter Brief war in London abgeschickt worden, kaum mehr als eine Handvoll Zeilen. Mit den ersten bunten Herbstblättern, die durch die Straßen trieben, würden auch Katya und Betje nach Hamburg zurückkehren, nach eineinhalb Jahren.

Beide hatte er schmerzlich vermisst, vor allem Katya. Als Mensch. Als Freundin. Manchmal auch als seine Frau.

Ein Zurück gab es jedoch nicht mehr. Thilo, der sich von Kindesbeinen an um alles gekümmert, für alle um sich herum gesorgt hatte, immer pflichtbewusst, immer geradlinig, genoss dieses neue Leben in vollen Zügen, seine eigene Rücksichtslosigkeit und Selbstsucht wie eine mächtige Droge im Blut.

Zacharias schloss die Manschettenknöpfe und drehte sich mit großer Geste um.

»Wie sehe ich aus?«

Regelmäßig ließ Zacharias sich jetzt beim Friseur sein dunkles Haar in eine gefällige Form bringen und den neuen schmalen Bart trimmen.

Eine aalglatte und ein bisschen schmalzige Version von Grischa, ging es Thilo durch den Kopf. Unwillkürlich ruckte er mit der Schulter, um diese unangenehmen Gedanken zu verscheuchen.

»Atemberaubend«, sagte er stattdessen und streckte verlangend die Hand aus.

»Sonst komme ich zu spät«, wehrte Zacharias lachend ab und wandte sich wieder dem Spiegel zu, um den Hemdkragen in perfekte Form zu bringen.

Thilo stopfte sich eines der Kissen unter die Brust, um bequemer zu liegen.

»Was ist das für ein Termin?«

»Ein wichtiger.«

Etwas an der Art, wie Zacharias nur Augen für sein eigenes Spiegelbild hatte, versetzte Thilo einen Stich.

»Am Sonntag?«

»Dass wirklich große Geschäfte keine Ruhetage kennen, müsstest du doch am besten wissen«, erwiderte Zacharias leichthin.

Aus einer unbestimmten Unruhe heraus setzte Thilo sich auf und zog sich eines der Laken über den Schoß.

»Und wann erzählst du mir endlich mehr über deine Geschäfte?«

»Wenn es so weit ist. Soll eine Überraschung sein.« Zacharias griff nach seiner Anzugjacke und schlüpfte ebenso nachlässig wie geschmeidig hinein. »Lässt du mir noch ein bisschen Geld da? Nicht viel. Nur so hundert, hundertfünfzig.«

Thilos Brauen hoben sich. »Schon wieder?«

Mit einer ungeduldigen Geste schüttelte Zacharias diesen Einwand ab.

»Ich habe jede Menge Ausgaben. Spesen und all so was, du weißt ja, wie das ist. Und ein guter Freund von mir ist in Not, nachdem er sich von den falschen Leuten Geld geliehen hat.«

Thilo schwieg, ein ungutes Gefühl in der Magengrube.

Leisten konnte er es sich. Die Stoffe und Pelze und Federn, die Katya und Benjamin Witte mit gleich zwei Schiffen geschickt hatten, hatten die Kunden in einen Freudentaumel versetzt; ein dickes Umsatzplus war das Ergebnis gewesen.

Aber das war nicht der Punkt.

»Das geht so nicht, Zacharias. Du musst lernen, mit Geld hauszuhalten. Sonst fliegt dir dein Geschäft um die Ohren, bevor das erste Mal Steuern fällig sind.«

In Zacharias’ Augen funkelte es angriffslustig. »Glaubst du, das weiß ich nicht? Mir ist es selbst peinlich, dich immer um Geld bitten zu müssen. Aber was soll ich machen? Bis die Geschäfte anlaufen, braucht es eben seine Zeit. Und ich kann doch Menschen in Not nicht einfach im Regen stehen lassen!«

Thilo seufzte. »Du kannst aber auch nicht die ganze Welt retten. Niemand kann das.«

»Heißt das, du gibst mir das Geld nicht?«

Zacharias war blass geworden, vielleicht vor Enttäuschung, vielleicht vor Wut. Thilo raffte das Laken enger um sich.

»Dieses Mal nicht, nein.«

Schweigend starrte Zacharias vor sich hin.

»Vor dir hat mich noch kein Mann angefasst«, sagte er schließlich rau. »Allein die Vorstellung fand ich eklig und pervers. Du warst der Erste. Du hast genau gespürt, wie sehr ich mich nach einem Vater sehne. Nach einem Zuhause. Du hast meine Freundschaft gesucht und mich mit deinem Geld gelockt, bis du mich im Bett hattest. Ich bin gerade zwanzig, nicht einmal volljährig, und du hast mich zu deiner Hure gemacht.«

Thilos Mund war ausgedörrt, seine Zunge morsches Holz. »Wovon redest du?«

In Zacharias’ Augen lag kein Begehren mehr, keine Zärtlichkeit. Kalt und hart wie polierter Stein waren sie.

»Was glaubst du, wie deine feinen hanseatischen Kunden das finden würden, dass du dir einen Lustknaben hältst? Die prüden Engländer, in London wie in Madras?«

Thilo schluckte, wie scharfkantige Splitter fühlte es sich in seiner Kehle an. »Was willst du?«

»Fünftausend Mark. Bar auf die Hand.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Kannst du gern darauf ankommen lassen«, entgegnete Zacharias lässig. »Wird für dich und deine Sippschaft bestimmt nicht angenehm, wenn jeder auf der Straße weiß, dass der feine Thilo Petersen ein Knabenschänder ist. So was geht ja immer wie ein Lauffeuer herum. Bis später, mein schöner Unhold!«

Thilo nahm nur halb wahr, wie Zacharias ihm eine Kusshand zuwarf und die Wohnungstür ins Schloss fiel. Sein Pulsschlag war zu einem angstvollen Dröhnen angeschwollen.

Von blinder Verliebtheit hatte er sich in schwindelerregende Höhen tragen lassen und die Flügel an der Sonne versengt. Im Sturz würde er nicht nur Federn lassen müssen, der Aufprall würde ihm auch das Genick brechen.

Durch die Nebelschwaden vor dem Fenster konnte Grischa unten auf dem Kai nur Schemen ausmachen. Er blinzelte, doch die Umrisse von Masten und Schiffsrümpfen blieben verschwommen, die Silhouetten der Seeleute und Arbeiter, die dort unten kreuz und quer umhereilten, nichts als unscharfe Schatten. Als hätte er einen blinden Fleck auf der Netzhaut.

Nicht der Kalender gab vor, wann eine Fracht ankam, das lag allein in der Macht von Meer und Wind. Und weil in einem Hafen Zeit immer Geld bedeutete, mussten alle Hände mit anpacken, sobald ein Segler einlief. Auch am Sonntag. Mit jeder Faser sehnte sich Grischa danach, sich dort unten eine Kiste zu schnappen, einen Sack und gleich darauf den nächsten. Sich körperlich völlig zu verausgaben anstelle hier oben zu stehen, für den Moment zur Untätigkeit verdammt. Stattdessen stemmte er sich so fest gegen das Fensterbrett, als könnte er damit die Welle des Unheils aufhalten, die er auf die Firma und seine Familie zurollen sah. Denn Familie, das waren die Petersens immer schon für ihn gewesen.

»Dafür gehörst du nach Strich und Faden verprügelt«, sagte er in die drückende Stille seines engen und spärlich möblierten Wohnzimmers hinein.

»Ich weiß«, erwiderte Thilo tonlos aus dem Sessel.

»Nur hilft uns das auch nicht weiter.«

Mit gesenktem Kopf stellte Grischa fest, dass er sein Hemd schief zugeknöpft hatte. In aller Eile war er in seine Kleidung gesprungen, nachdem Thilos Klopfen und Rufen ihn aus dem Bett geworfen hatten; mit einem verständnisvollen Kuss und einem mitleidigen Blick auf Thilo hatte Albrecht sich verabschiedet.

Es stand ihm nicht zu, Thilo Vorwürfe zu machen. Er hätte genauso gut in eine solche Falle tappen können. Durchatmend drehte er sich um.

»Weiß Katya von diesem Kerl?«

Thilo nickte verschämt.

Jetzt verstand Grischa, warum seine Schwester im vergangenen Jahr überstürzt abgereist war und so lange nicht mehr den Weg nach Hause gefunden hatte. An ihrer Stelle hätte er genauso gehandelt. Einige Herzschläge lang schloss er die Augen und überließ sich Katyas Schmerz, als wäre es sein eigener.

Thilo rieb sich so heftig über das Gesicht, als wollte er sich selbst die Haut abziehen.

»Was soll ich denn jetzt machen?«

»Auf keinen Fall gibst du ihm das Geld. Wenn du einmal damit anfängst, saugt er dich aus wie eine Bettwanze und lässt erst von dir ab, bis du nichts mehr hast als einen Berg Schulden.«

»Er wird mich so oder so ruinieren«, murmelte Thilo.

»Nicht nur dich.«

Der blanke Zorn packte Grischa bei dem Gedanken, dass dieser schmutzige kleine Gassenjunge mit seiner Lügenmär irgendwo tatsächlich Gehör finden könnte. Wo der Erfolg war, drängten sich auch Neider zusammen, dafür musste man kein Hellseher sein. Und es brauchte nur sehr wenig, um mit ein paar Zungenschlägen Kunden aufzuschrecken und zu verscheuchen, und schon geriet eine Firma wie Petersen & Voronin ins Wanken.

Katya würde es am härtesten treffen, sie war von Anfang an die Seele dieses Geschäfts gewesen. Doch nicht nur sie würde alles verlieren, wofür sie jahrelang so hart gearbeitet und so viel gewagt hatten. Von vorn würden sie noch einmal beginnen müssen, nicht länger die Eisbarone von Hamburg, sondern in Ungnade gefallene, arme Schlucker. Sofern sie überhaupt jemals wieder einen Fuß auf den Boden bekämen, ob hier oder anderswo.

Das Einfachste und vielleicht Klügste wäre es, Thilo aus der Firma zu werfen, sich womöglich öffentlich von ihm loszusagen. Doch selbst wenn Grischa aus dem Stand gewusst hätte, ob das rechtlich möglich war, würde er es nicht übers Herz bringen.

Unter Grischas eindringlichem Blick vergrub Thilo das Gesicht in den Händen.

Als kleiner Junge war Thilo immer gern am Binnenhafen herumgestromert. Vor allem den Fischern hatte er stundenlang zugesehen, wie sie ihren Fang an Land brachten und ihre Netze zum Trocknen aufhängten. Einmal, er war noch sehr klein gewesen, hatte ein lautes Flattern seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Eine opalgrau schillernde Taube war es, die sich mit einem Bein in den Maschen verfangen hatte. Je heftiger sie sich wand und mit den Flügeln schlug, umso tiefer verhedderte sie sich darin. Thilo war noch nicht stark genug gewesen, um eines der Fässer, eine Kiste oder auch nur einen Sack heranzuziehen und hinaufzuklettern. Lauthals hatte er um Hilfe geschrien und vorbeikommende Männer und Frauen angebettelt, den gefangenen Vogel zu befreien. Alle hatten sie ihn nur ausgelacht, den Kopf geschüttelt, ihn gar weggestoßen.

Es war doch nur eine Taube.

Mit einem Stock hatte er schließlich versucht, ein Schlupfloch in das Maschenwerk zu reißen, das Netz zu sich herunterzuzerren, um die Taube herauszuholen, aber es war ihm nicht gelungen. Mit zitternden Armen und Beinen und Tränen auf den Wangen musste er zusehen, wie der Vogel in seinem Kampf schwächer und schwächer wurde, bis er reglos und schlaff im Netz hing. Und die ganze Zeit über hatte Thilo in den Augen der Taube gelesen, dass sie um ihr Todesurteil wusste.

Lange hatte ihn dieser Blick verfolgt, mit seinem stummen Vorwurf, seiner nackten und doch schicksalsergebenen Angst. Dieses Gefühl der absoluten Ohnmacht.

Er hob den Kopf und sah Grischa aus brennenden Augen an.

»Hilf mir, Grischa. Bitte.«

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