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Hanno verstaute den Nachttopf mit der rissigen Glasur zwischen den alten Büchern, den Zeitungsstapeln und Kleiderbündeln, bevor er sich die staubigen Hände an seiner Hose abklopfte und sich zu Pawel auf den Rand des Karrens setzte.

Wortlos reichte ihm Pawel eines der beiden fett gebutterten und dick belegten Brote, die ihnen die Hausherrin mit auf den Weg gegeben hatte. Es erstaunte Hanno immer wieder, dass die Leute ihnen sogar noch etwas zu essen schenkten, als Dankeschön, ihren alten Plunder los zu sein; hier in Hamburg war wirklich die Großzügigkeit zu Hause.

Obwohl es hohl in Hannos Magen rumpelte, teilte er das Brot sorgsam und schlug eine Hälfte davon in Papier ein.

»Für Betje«, erklärte er, auf Pawels fragenden Blick hin, und schob das Päckchen in seine Jackentasche.

Pawel kaute ungerührt weiter, zupfte aber seinerseits einen Schinkenfetzen vom Brot und hielt ihn Pies hin, der gierig danach schnappte und sich dann die Schnauze leckte, das Verlangen nach mehr in seinen Hundeaugen.

»Kommt ihr zurecht?«, fragte Pawel nach dem nächsten Bissen.

Hanno nickte, wenn auch zögerlich.

Was Pawel dabei im Gesicht des Jungen lesen konnte, überraschte ihn nicht. Träume welkten schnell hier in der Stadt. Besser, man hegte gar nicht erst welche, das wusste Pawel aus eigener Erfahrung.

»Wollt ihr nicht lieber wieder nach Hause?«, schlug er nach einer längeren Pause vor.

Entschlossen schüttelte Hanno den Kopf. »Auf keinen Fall.«

Das Leben in Hamburg war härter, als er es sich vorgestellt hatte, doch je mehr er sich an diesen Härten rieb, umso stärker fühlte er sich.

Hanno mochte die Arbeit bei Pawel, obwohl es eine Schmutzarbeit war und manchmal eklig, wenn sie auf Spuren von Kotze oder Kot stießen, auf tote Mäuse, skelettierte Vögel oder grässliches Krabbelgetier. Es gefiel ihm zu sehen, wie andere Leute lebten, und unter all dem Unrat den einen oder anderen Schatz zu entdecken. An den Tagen, an denen Pawel in der Werkstatt blieb, ging Hanno ihm beim Hämmern und Sägen und Leimen zur Hand und lernte dabei eine Menge über die unterschiedlichen Werkstoffe, über den Wert von Dingen und wie man sie am besten reparierte. Sicher konnte er das alles irgendwann einmal brauchen.

Seine Zukunft sah er ebenso wenig als Altwarenhändler wie früher als Knecht. Aber bis er wusste, was er wirklich wollte, war er glücklich damit.

Pawel warf Pies den letzten Brotbrocken hin, bevor er aus seiner Hosentasche ein paar Münzen für Hanno abzählte.

»Für gestern.«

Hanno starrte auf das Geld in seiner Hand. Pawel vermochte nicht zu deuten, ob die gerunzelte Stirn des Jungen Zweifel oder Unzufriedenheit ausdrückte.

»Ein Drittel«, setzte Pawel schroff hinzu. »Wie abgemacht.«

»Natürlich. Danke«, beeilte sich Hanno zu versichern; trotzdem hing ein Zögern in seiner Stimme. »Du hast doch gesagt, ich kann von dir alles bekommen, was ich brauche.«

Pawel ruckte mit dem Kopf, um den Jungen zum Weitersprechen aufzufordern.

»Und wenn es nun etwas ist, das ich nicht brauche, sondern einfach haben will?«

»Was willst du denn so unbedingt?«

Hanno griff hinter sich in den Karren und fischte ein weiches Knäuel von verstaubtem Rostbraun heraus. Behutsam entwirrte er das fleckige Samtband.

»Betjes Haare sind so lang geworden«, erklärte er. »Das stört sie. Sie hat mich schon ein paarmal gefragt, ob ich sie ihr abschneide. Aber es sind doch so schöne Haare.«

Glühende Flecken erschienen auf seinen Wangen.

»Kann sie sich überhaupt einen Zopf machen, mit ihrem Arm?«

Grüblerisch kratzte Hanno an einer verkrusteten Stelle im Samt herum.

»Meine Schwester und meine Mutter haben sich immer gegenseitig die Haare geflochten. Das kriege ich doch bestimmt auch hin.«

Hanno erkundigte sich immer noch nach seiner Schwester, in jeder Straße, jeder Gasse, die er mit Pawel betrat. Auch wenn seine Hoffnung langsam fadenscheinig zu werden begann.

Hamburg war eine verblüffend kleine Stadt, voll von bekannten Gesichtern und kurzen Wegen. Doch gerade in der Neustadt und auf dem Grasbrook waren die Häuserblöcke von Gängen durchlöchert wie ein Sieb; vermutlich konnten Menschen Jahre hier verbringen, ohne sich auch nur ein einziges Mal über den Weg zu laufen. Und Hanno konnte nicht sicher sagen, ob Frauke überhaupt noch hier war. Nicht auszuschließen, dass sie jenseits der Stadttore nach etwas Besserem gesucht hatte.

Die Ungewissheit nagte an dem Jungen, und umso enger schien er sich an Betje zu binden. Pawel machte sich Gedanken, wie es für ihn sein würde, sollte das Mädchen es tatsächlich schaffen, nach Amerika aufzubrechen.

Er nahm Hanno das Band aus den Händen und rieb es prüfend zwischen den Fingern. »Den Samt da kannst du nicht waschen. Das musst du ausbürsten. Siehst du, so.«

Aufmerksam beobachtete Hanno, wie Pawel eine kleine Bürste aus der Jackentasche zog und erstaunlich zartfühlend das Band von Staub und Schmutz befreite, das Rostbraun nach und nach zum Leuchten brachte. Kirchenglocken ganz in der Nähe ließen ihn aufhorchen, dieses Geläut kannte er noch nicht.

»Sankt Katharinen«, erklärte Pawel, ohne aufzublicken. »Die Kirche der Seemänner und Fleetschiffer, der Bootsbauer und Segelmacher und der ganzen anderen Leute auf dem Grasbrook. Das Gold oben auf dem Turmdach ist aus Störtebekers Schatz geschmiedet.«

Hanno riss die Augen auf. »Du nimmst mich auf den Arm!«

»Sehe ich aus wie jemand, der zu Scherzen aufgelegt ist?«, rüffelte Pawel ihn, ohne eine Miene zu verziehen.

»Würde dir ab und zu gut stehen.«

Unter Hannos keckem Grinsen hielt Pawel inne. Dann stieß er ein Lachen aus, trocken und rau, das erste, das Hanno je von ihm gehört hatte.

Eine Hochzeit bedeutete Glück und Segen, Hoffnung und Zuversicht. Nicht nur für Braut und Bräutigam, deren Anverwandte, die Freunde und Gäste. Zeuge einer Hochzeit zu sein, war, wie mit dem Finger über die rußige Schulter eines Schornsteinfegers zu streichen, ein vierblättriges Kleeblatt am Wegesrand zu finden oder ein Hufeisen, das auf der Straße lag.

Darauf hoffte die Menschentraube, die sich unter Orgelchoral und Glockenläuten vor dem Portal von Sankt Katharinen versammelte. Vor allem aber wollten alle Anteil nehmen an diesem Freudentag für die Petersens. Wie man es immer tat auf dem Grasbrook, in Freud und Leid, bei Geburt und Taufe, Todesfall und Begräbnis, die Grenze zwischen neugierigem Tratsch und aufrichtigem Mitgefühl fließend.

Man kannte sich in der Gegend, war Stammkunde bei Arno Petersen oder hatte zumindest schon einmal bei ihm eingekauft, im Wirtshaus ein Bier oder einen Klaren mit ihm gehoben. Die Geschwister Voronin kannte man nicht annähernd so gut, aber nach all den Jahren waren auch sie keine Fremden mehr. Aus Moskau gekommen oder Sankt Petersburg oder Sibirien, verarmter Landadel, hatte jemand erzählt, vielleicht sogar mit dem Zarenhaus verwandt. Vorstellen konnte man sich das bei Grischa Voronin, dem die Frauen reihenweise nachliefen. Bei Fräulein Katya, die bislang jedem Junggesellen, der seine Fühler nach ihr ausstreckte, mit einem entschuldigenden Lächeln ausgewichen war und nun also die Schwiegertochter von Arno Petersen wurde.

Sieben Jahre nachdem Christian Petersen die Tochter von Schiffsmakler Pohl geehelicht hatte, wagte nun auch endlich der spröde Thilo den Gang vor den Altar, mit dreißig; man hatte ja schon gemunkelt.

Dass es vier junge Leute aus ihrer Mitte waren, die es mit Einfallsreichtum, Fleiß und vor allem aus eigener Kraft zu etwas gebracht hatten, machte stolz. Und gerade, weil so viele Familien hier unter der französischen Besatzung ebenso gelitten hatten wie die Petersens, freute man sich doppelt darüber, dass jene düsteren Zeiten nun ein für alle Mal der Vergangenheit angehörten.

»Kiek mal, da.« Zacharias wies in Richtung der Kirche. »Da heiratet Geld wieder mal noch mehr Geld.«

Die Kirchenglocken und das Stimmengewirr, schon etliche Ecken vorher zu hören, hatten ihn und Betje angelockt.

Betje reckte sich, ein halb herrliches, halb scheußliches Gefühl im Bauch, der voll war mit den süßen Teilchen, die Zacharias an einem Bäckerstand für sie beide gestohlen hatte. Zu sehen bekam sie jedoch rein gar nichts, zu viele Köpfe waren ihr im Weg.

»Woher weißt du, dass da jemand mit Geld heiratet?«, fragte sie.

»Weil die Reichen wissen, dass sie wer sind, und genau so geben sie sich auch. Da, sieh selbst.«

Zacharias zog Betje in eine Lücke zwischen den Schaulustigen hinein.

Betje hatte noch nie so schöne Menschen gesehen. Die Braut erinnerte an einen der Schillerfalter auf den Wiesen zu Hause, der Bräutigam wirkte zwar steif wie ein Silberreiher in seinem grauen Anzug, war aber trotzdem ein sehr gut aussehender Mann. Das Schönste aber war das Glück, das aus den Augen der beiden sprühte und sie wie mit einem Goldschimmer umgab.

Zacharias flüsterte ihr mit heißem Atem etwas ins Ohr, aber Betje hörte ihm nicht mehr zu.

Hemmungslos starrte sie die Braut an. Ungewöhnlich groß für eine Frau, hielt sie sich vollkommen aufrecht, als würde ihr gar nicht einfallen, den Kopf einzuziehen und sich kleiner zu machen. Und genauso wenig schien sie sich darum zu scheren, dass eine Braut immer ihr bestes Kleid trug. Ihre Tracht war zwar hübsch und reich bestickt, ja, aber eben nur eine Tracht, und der Brautstrauß aus ganz gewöhnlichen Wiesenblumen und Gräsern, die man überall finden konnte.

Wie das wohl ist, fragte sich Betje, durch die Welt zu gehen, wie es einem gefällt, und den Blicken der Leute sogar noch mit einem Lachen zu begegnen? Ob Schönheit wohl noch mehr Schönheit anzog und vollkommenes Glück dazu? Das musste er sein, der Unterschied zwischen reichen Leuten und bettelarmen wie Betje, von dem Zacharias gesprochen hatte.

Ihr wurde schlecht. Mit einem hässlichen Geschmack im Mund und brennenden Augen schob sie sich durch die Menge und lief davon, so laut Zacharias auch nach ihr rief.

Betje fühlte sich sonderbar, als Hanno ihr an diesem Abend im Holzverschlag die Locken mit einem zahnlückigen Kamm entwirrte. Viel zu nahe war er ihr, und doch mochte sie die Berührung seiner Finger, die ihr Haar teilten. Vielleicht war es so für Pies, wenn man ihn streichelte. Betje war kurz davor, genauso selig die Augen zusammenzudrücken, und war trotzdem dankbar für jedes Härchen, das ziepte und sie davon abhielt.

»Fertig«, sagte Hanno endlich und doch viel zu schnell.

Neugierig betastete Betje den geflochtenen Strang in ihrem Nacken. Nicht besonders lang, aber dick und fest. Einen solchen Zopf hatte sie sich immer gewünscht.

Sichtlich stolz auf sein Werk, hielt Hanno ihr den Kupfertopf hin.

Betje hatte ihr Spiegelbild stets gemieden, wenn sie Wasser geschöpft hatte oder an einer Pfütze vorbeigekommen war. Umso größer war der Schock über das breite Gesicht, das der Boden des Topfs ihr zeigte. Ein platt gedrückter Teigklumpen, dicht mit den verhassten Schietsprenkeln übersät.

Einmal mehr dachte sie an die Braut heute, die so schön gewesen war, so elegant und so glücklich, neben ihrem genauso schönen Bräutigam. Welcher Mann würde Betje jemals haben wollen, die nicht gleichzeitig einen Brautstrauß und die Hand ihres Bräutigams halten und sich noch nicht einmal selbst einen Zopf flechten konnte?

Sie würde immer ein hässlicher Krüppel bleiben. Auch in Amerika.

»Danke«, presste sie hervor.

Unnötig heftig stellte sie den Topf auf den Tisch und sprang auf. Dass sie nicht daran gedacht hatte, wenigstens eines der süßen Teilchen für Hanno aufzuheben wie er das halbe belegte Brot für sie, machte alles noch schlimmer.

»Habe ich es falsch gemacht?«, fragte Hanno beklommen.

Betje schüttelte den Kopf, der sich ganz leicht und luftig anfühlte, das Ende des Zopfes und die Samtschleife kitzelten sie im Nacken. Am liebsten hätte sie den Zopf auf der Stelle abgerissen oder mit einem Messer abgehackt. Mit zornigen Fingern zerrte sie ihren Rock herunter und schlüpfte in der übergroßen Bluse unter die Decke.

Hanno schielte zu Betjes zusammengerollter Gestalt, ihr Gesicht der Wand zugedreht. Hätte er wirklich etwas falsch gemacht, hätte sie es ihm gesagt, ruppig, aber ehrlich, so gut kannte er sie inzwischen. Also musste es etwas anderes sein.

»Betje?«

Sie schlief nicht, gab ihm aber keine Antwort. Was auch immer sie auf dem Herzen hatte, behielt sie störrisch für sich und ließ Hanno keine Möglichkeit, etwas daran besser zu machen.

Mit einem unhörbaren Seufzen stieg er aus Stiefeln und Hose, löschte das Licht und bettete sich auf seinen Strohsack.

Manchmal war er versucht, heimlich einige der Münzen abzuzweigen, die Betje unter ihrem Nachtlager hortete. Nicht viel, nur ein paar Pfennige hier und da, damit es länger dauerte, bis sie das Geld für Amerika zusammenhatte. Aber man stahl nicht, schon gar nicht von jemandem, den man gernhatte, und Betje wäre ihm sowieso sofort auf die Schliche gekommen, so fix, wie sie im Zählen und Rechnen war.

Lange starrte Hanno ins Dunkel, während draußen auf der Gasse ein paar Betrunkene krakeelten und zwei Katzen einen dämonischen Kampf ausfochten.

Bei der Vorstellung, Betje würde irgendwann nicht mehr hier sein, morgen oder in ein paar Wochen oder nächstes Jahr, wurde ihm kalt ums Herz.

Noch in Hemd und Anzughose, streckte Thilo sich quer auf dem breiten Bett aus. Trunken fühlte er sich, obwohl er bei der Feier vorhin bei einem Glas Wein geblieben war und kaum an dem Champagner genippt hatte, den sie sich danach ins Schlafzimmer mitgenommen hatten. Passend war es ihnen vorgekommen, sich eine Flasche davon zu gönnen, wo sie jetzt doch vermögend waren und verheiratet noch dazu. Allerdings schien der Champagner Katya genauso wenig zu schmecken wie ihm.

Vielleicht war auch sie genauso aufgeregt, ähnlich gehemmt.

Neben ihm lag der Pyjama, den Katya ihm zur Hochzeit geschenkt hatte. Eine neue Mode, die sie in Indien entdeckt und aus heller Seide nachgenäht hatte. Es rührte ihn an, dass sie denselben Gedanken gehabt hatte wie er. Über ihrem Nachthemd trug sie den Morgenrock, den er für sie aus China hatte kommen lassen.

Eigentlich war alles wie immer, und doch war nichts mehr wie zuvor. Es war noch dieselbe Wohnung, in der sie sich jahrelang eine Küche, das Badezimmer und die gute Stube geteilt hatten, und doch eine ganze andere Art von Zuhause. Nicht nur, weil bis in den letzten Winkel Katyas Geschmack Einzug gehalten hatte, licht und luftig und von schlichter Eleganz.

Ein seltsamer Schwebezustand war es, zwischen Gestern und Morgen. Zwischen zwei Leben.

Immer wieder richtete sich sein Blick auf Katya, fassungslos, dass sie nun wirklich und wahrhaftig zu ihm gehörte. Dieses schöne Geschöpf mit einer ebenso schönen Seele, das ihm alle seine Sünden vergeben hatte. Seinetwegen hatte sie sogar auf ihren Traum von einem Garten verzichtet und sich mit begrünten Ecken und Fensterbrettern begnügt, damit er weiterhin ein Auge auf Arno Petersen und seinen Beinstumpf haben konnte.

Katya Jakovlewna Petersen, seit heute Bürgerin der Hansestadt Hamburg. Auf einem namenlosen Gehöft zur Welt gekommen und an den Zitzen einer Ziege gesäugt. In Russlands weitem und leerem Norden, wo sich niemand die Mühe gemacht hatte, den Tag ihrer Geburt zu notieren und später zu feiern; den ganzen Sommer hatten sie damit verbracht, die notwendigen Dokumente zu beschaffen.

Katya hatte ein Bein unter sich gezogen, das andere ausgestreckt. Ihre Zehen wippten vergnügt im Takt ihrer Worte, ihres Lachens, während sie aus einer Schachtel Lübecker Marzipan naschte. Einmal, vor mehr als zwei Jahren, hatte Thilo sich gefragt, wie sich dieser Fuß in seiner Hand wohl anfühlen mochte. Jetzt erst traute er sich, über den Spann zu streichen, mit der Hand ihren Knöchel hinaufzuwandern.

»Du willst dir nur das Marzipan holen«, neckte sie ihn, ein Funkeln in den Augen.

Thilo schüttelte den Kopf, gefangen in der seltsamen Scheu, die ihn immer davon abgehalten hatte, mit Katya mehr als Küsse zu wagen. Schwer entflammbar, wie er war. Der nie verliebt gewesen war, nie berührt, bis er Grischa traf.

Er hatte nicht gewusst, dass man es sehen konnte, wenn jemandem das Herz bis zum Hals schlug. Doch bei Katya tat es das, ein heftiges Pochen in der Kuhle zwischen den Schlüsselbeinen. Das war es, was er brauchte. Das Zeichen, auf das er gewartet hatte, um Katya an sich zu ziehen, in aller Entschlossenheit.

Wie kostbare Seide hielt er Katya danach im Arm, schlafschwer und halb mit ihm verschlungen. Eine neue Nähe hatten sie miteinander entdeckt, Haut an Haut. Von zärtlicher Verspieltheit, und doch mit dem gebotenen Ernst.

Seltsam erleichtert fühlte er sich. Wie geläutert.

Sanft legte er seine Hand auf Katyas flachen Bauch. Vielleicht war es jetzt, in diesem Moment, dass sein Samen in ihr aufging und den Keim legte für das Kind, das sie sich beide ersehnten.

Ich will dich nicht unter Druck setzen, Junge , hatte Arno Petersen gesagt, als er ihn nach ein paar Bier im Wirtshaus beiseitegenommen hatte. Du weißt, wie vernarrt ich in die beiden Mädelchen bin. Aber ein Stammhalter … Ein Stammhalter, Junge. Nichts würde mich alten Mann seliger machen.

Um Thilos Mund zuckte es. Natürlich würden sie einen Jungen bekommen, mindestens. Anders konnte es nicht sein mit Katya. Dieses betörende Mischwesen, das trotz ihres mädchenhaften Äußeren manchmal an einen überschlanken Burschen erinnerte. Nicht nur, wenn sie in Hosen und schweren Stiefeln auf das Eis ihres norwegischen Sees trat oder mit bloßen Füßen in die Takelage kletterte. Von anmutiger Weiblichkeit war sie, aber ganz selbstverständlich stand sie dabei ihren Mann.

Der Herbstmond schob sich über die Dächer von Hamburg. Katyas Atem auf seiner Haut, lächelte Thilo in das Silberlicht hinein.

Diese Frau. Dieses Leben. Das ist es, das Glück.

Was für ein unglaubliches, unwahrscheinliches Glück.

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