17



Betjes Herz schlug schnell und leicht, als sie durch die Gassen lief, in denen es sogar an einem Maitag wie diesem dämmrig war. Umso heller leuchtete das Grün des Kleides, das sie zusammen mit Katya in den letzten Wochen genäht hatte. Ihr erstes richtiges Kleid, vorn geknöpft, sodass sie allein damit zurechtkam, genau wie mit den leichten Knopfstiefelchen.

An der übernächsten Ecke blieb sie jäh stehen, Sankt Michaelis hatte gerade die volle Stunde geschlagen. Zacharias war da, wie verabredet, aber nicht allein. Ein Mädchen war bei ihm.

Höchstens ein oder zwei Jahre älter als Betje war dieses Mädchen, und sehr hübsch. Wie eine von Jettes Puppen, auf den Namen Schneewittchen getauft. Die Worte der beiden gingen im Lärm und den Stimmen auf der Gasse unter, trotzdem sah es nicht nach zärtlicher Zweisamkeit aus. Wie flehend hing das Mädchen an Zacharias’ Arm, bis er es bei den Schultern packte und auf es einredete, verärgert und fast wütend.

Betje drückte sich eng an die Hausmauer, unsicher, was sie jetzt tun sollte. Auf Zacharias’ Gesicht flackerte es, und sie wusste, er hatte sie entdeckt; jetzt wegzulaufen wäre ihr albern vorgekommen. Mit Nachdruck und einer kurzen Bemerkung, die ermahnend wirkte, schob Zacharias das Mädchen von sich weg und ließ es stehen. Ein tiefes Schluchzen ruckte durch das Mädchen, bevor es sich über die nassen Wangen wischte und davonschlich.

Zacharias war nichts anzumerken, als er auf Betje zutrat. Das neue Kleid gefiel ihm, das sah sie ihm an. Betje sonnte sich in seinem Blick, und trotzdem versetzte ihr das, was sie gerade mit angesehen hatte, einen Stich.

»War das deine Freundin?«

Verblüffung glitt über Zacharias’ Gesicht, dann lächelte er spitzbübisch.

»Nein. Sie wäre es aber gern.«

Welches Mädchen wäre das nicht, dachte Betje, während sie neben Zacharias herging und immer wieder verstohlen zu ihm hinaufschielte. Seine Schlaksigkeit begann sich gerade zu breiten Schultern auszuwachsen, die Gesichtszüge zu einer wilden Schönheit, die seine Grübchen noch unwiderstehlicher machte.

»Ich muss kurz etwas erledigen«, sagte er und bog in einen der Hinterhöfe ein. »Dann hab ich Zeit für dich. Kannst ruhig mitkommen, ich hab nichts zu verbergen.«

Betje blieb dennoch lieber im Schatten der Mauer stehen. Den Kopf in den Nacken gelegt, steckte Zacharias zwei Finger in den Mund, und die Hausmauern warfen seinen grellen Pfiff vielfach zurück.

Es dauerte nicht lange, und drei kleine Jungen spritzten durch den Hof, die löchrigen Hosen und ausgefransten Hemden genauso dreckverschmiert wie ihre Gesichter. Verbissen rangelten sie darum, wer zuerst an der Reihe war, den Inhalt seiner Hosentaschen an Zacharias zu übergeben. Betje stand zu weit entfernt, um das Geld zählen zu können, das den Besitzer wechselte, aber es kam ihr viel vor, zehn oder zwanzig Mark bestimmt. Jedem der Jungen drückte Zacharias einen Anteil in die Hand, schnickte dem einen dabei an den Rand der Kappe, knuffte den anderen spielerisch zwischen die Rippen und begann eine vergnügte Rauferei mit dem dritten, bevor die drei Jungen lachend wieder auseinanderstoben.

»Wie du siehst, gehöre ich auch zu den Geschäftsleuten der Stadt«, verkündete Zacharias, als er zu Betje zurückkehrte.

Das war Betje neu. »Was für Geschäfte machst du denn?«

»Solche, die sich richtig lohnen.«

Sein Augenzwinkern ließ offen, ob er es ernst meinte oder im Scherz. Betje war verstimmt, obwohl sie nicht wusste, warum. Dass die Straße, durch die sie gingen, deutlich breiter war als die Gassen der Neustadt, lenkte sie jedoch ab. Überhaupt kamen ihr die Häuserblöcke mit ihren Wirtshäusern kein bisschen vertraut vor, viel hübscher und sauberer war es hier.

»Wo gehen wir hin?«

Seine Grübchen tanzten übermütig. »Spaß haben.«

Unvermittelt endete die Stadt an einem der Tore, die morgens geöffnet und abends wieder geschlossen wurden, zu den Klängen des Türmers von Sankt Michaelis. Hier waren es sogar gleich vier Durchgänge, durch die sich Fußgänger und Pferdekarren hinein- oder hinausfädelten. Betje zuckte zusammen, als sich Zacharias’ Hand um ihre schloss.

»Damit du mir nicht verloren gehst«, sagte er mit lächelnden Augen.

Federleicht schwebte Betje an Zacharias’ Hand an den geöffneten Metallgittern vorbei, hin zu einem offenen Feld, auf dem sich die Flügel von Windmühlen drehten und Schafe grasten.

Zacharias wusste eine Menge über die Vorstadt von Sankt Pauli zu erzählen. Der strenge Geruch jenseits des Millerntors kam von der Trankocherei und vom Teer, der in den kleinen Werften am Wasser gebraucht wurde. Die Hütten und Buden, die sich unter dem Himmel zusammenkauerten, gehörten Leuten, die lieber in der Nähe ihrer Arbeit wohnen wollten. Wie die Reepschläger, die auf eigens dafür geebneten Bahnen die endlos langen Taue zusammenzwirbelten, die später auf Schiffen ihre Verwendung fanden. Andere Leute waren mit ihren Habseligkeiten hierher umgezogen, weil es ihnen in Hamburg zu eng und zu stickig geworden war.

»Ich habe mir auch schon überlegt, ob ich das machen will«, erzählte Zacharias. »Hier draußen, da redet einem keiner rein. Kein Vermieter, kein Nachbar, kein Gesetzeshüter. Hier ist man wirklich ganz und gar frei.«

»Wie in Amerika«, fiel es Betje gerade noch rechtzeitig ein.

»Ja.« Zacharias’ Grübchen blitzten auf. »Wie in Amerika.«

Musik schwappte ihnen entgegen und Stimmengewirr, und dann tauchten sie in einen lebhaften Trubel ein, in dem Betje die Augen und Ohren übergingen. Zwischen bemalten Zelten und bunt geschmückten Karren priesen Marktschreier ihre Waren an und Schausteller ihre Attraktionen, bummelten Vergnügungssüchtige umher, während sich gleich mehrere Leierkastenmänner misstönend einen Wettstreit lieferten. So etwas hatte es in Ostfriesland nicht gegeben.

»Der Spielbudenplatz«, rief Zacharias ihr über den Radau hinweg zu. »Gefällt es dir?«

Betje kam nicht dazu, ihm zu antworten. Ein Bursche in Zacharias’ Alter, rotgesichtig und die Haare hell und struppig wie Werg, tauchte wie aus dem Nichts neben ihnen auf und packte Zacharias an der Schulter. Mit herzhaften Rückenklopfern begrüßten sich die beiden und brüllten sich über den Lärm hinweg gegenseitig ins Ohr. Bei Betje kamen davon nur unverständliche Bruchstücke an, und doch schien es eben genau um sie, Betje, zu gehen. Das schloss sie daraus, wie sich die Rosinenaugen des Burschen auf sie richteten, unverhohlen neugierig und wie abschätzig, ein Grinsen auf dem grobschlächtigen Gesicht.

Lächerlich kam sie sich vor, ihre Linke in die Tasche des Kleides gesteckt, damit es vielleicht nicht so auffiel, dass sie einen lahmen Arm hatte. Ein kleines Mädchen noch, trotz ihrer dreizehn Jahre, das die Aufmerksamkeit missverstand, die ihr ein Achtzehnjähriger schenkte.

Erst der rügende Knuff, mit dem Zacharias den anderen Burschen wegschickte, und das Lächeln, mit dem er sie erneut bei der Hand nahm, machte es wieder gut.

»Wonach ist dir, Lakritz, Mäusespeck, gebrannte Mandeln? Wenn es dir hier zu laut ist, können wir auch zum Trichter zurückgehen. Das ist der Holzpavillon, an dem wir vorhin vorbeigekommen sind, und dort trinken wir eine Limonade. Was meinst du?«

Den Geschmack von Zuckerkringeln noch im Mund, saß Betje neben Zacharias im Gras. Hier oben auf dem Hügel war es schön, der Lärm des Spielbudenplatzes zu einem munteren Plätschern gedämpft, das sich mit dem Rauschen in den Baumkronen über ihnen mischte. Wenn Betje den Kopf weit genug drehte, konnte sie auf Hamburg blicken, die Dächer und Kirchtürme putzig wie die einer Spielzeugstadt. Vor ihr dehnte sich die Elbe aus, mächtig und weit, durchkreuzt von unzähligen Segelschiffen und von Dampfern, die dunkle Rauchwolken hinter sich herzogen.

Ungleich spannender müsste es sein, mit einem dieser neuen und modernen Schiffe nach Amerika zu reisen, schnell wie der Wind. Darin waren sich Zacharias und Betje einig, bevor ihre wortreiche Begeisterung nach und nach in Schweigen auströpfelte. Nur ihre Blicke blieben im Zwiegespräch, erwartungsvoll und ein bisschen verlegen.

»Ich bin gern mit dir zusammen«, sagte Zacharias schließlich leise. »Du redest nie so dummes Zeug wie andere Mädchen. Klug und dazu noch hübsch, das trifft man selten.«

Betje spürte, wie sie bis unter die Haarwurzeln rot anlief. »Ich bin nicht hübsch.«

»Doch, bist du«, widersprach Zacharias mit ernster Miene. »Auf eine ungewöhnliche Art. Ich kenne einige Jungs, die vollkommen verrückt nach dir wären.«

Betjes ganzes Gesicht stand in Flammen. Zacharias zögerte, dann strich er mit dem Fingerknöchel über ihren Ärmel; traurig klang er. »Ich hatte schon Angst, du wolltest mich nicht mehr sehen. Hast dich rar gemacht in der letzten Zeit.«

Rar gemacht . Niemand drückte sich so gewählt aus wie Zacharias.

»Daran lag es nicht, ganz und gar nicht«, beteuerte Betje hastig. »Ich war nur viel bei den Petersens.«

Ihr Herz flatterte auf wie ein Schmetterling, als sie an die Neuigkeit dachte, die sie von dort mitbrachte.

»Sie haben mich gefragt, ob ich bei ihnen wohnen will.«

Fast beiläufig hatten sie es zur Sprache gebracht, beim Sonntagsessen mit Betje und Hanno, und dennoch hatte sich einige Herzschläge lang etwas Feierliches über den Tisch gesenkt.

Ein Schatten legte sich auf Zacharias’ Gesicht.

»Dann werde ich dich überhaupt nicht mehr sehen. Die lassen dich bestimmt nicht mehr von der Leine, wenn du einmal dort bist.«

»So sind sie nicht«, widersprach Betje, war sich aber gar nicht so sicher.

»Doch. Reiche Leute sind so.«

»Ich weiß nicht einmal, ob sie wirklich so reich sind.«

Wenn sich die Familie Petersen gesammelt am Tisch einfand, kam früher oder später die Rede auf das Geschäft, das noch immer unter dem Verlust des einen Schiffs im vergangenen Jahr litt. Mehr Eis zu beschaffen, lautete Grischa Voronins hartnäckig vorgebrachter Vorschlag, den Thilo Petersen jedes Mal in Grund und Boden stampfte, indem er vorrechnete, was sie dafür erst an Löhnen und Transportkosten ausgeben müssten und für zusätzlichen Lagerraum, während sie noch das Darlehen abbezahlten.

Betje fand es merkwürdig, ein Geschäft auf Eis zu begründen. Gefrorenes Wasser aus den Seen hoch oben im Norden der Welt, das zu einem Teil bereits weggeschmolzen war, bis es sein Ziel erreichte und trotzdem noch Geld einbrachte. Mit den Stoffen, die sie im Speicher bei den Mühren einmal hatte besichtigen dürfen, mit dem Kaffee und den Gewürzen konnte sie mehr anfangen.

Im Kontor war es auch gewesen, dass sie eine Auseinandersetzung zwischen Katya und Christian Petersen mit angehört hatte. Um den anstehenden Besuch eines Kunden war es gegangen. Sie könne sich bei den Geschäften nicht nur die Sahnestücke herauspicken, hatte Christian Petersen Katya vorgehalten, und sie hatte schnippisch geantwortet, sie habe eben auch ein Kind zu versorgen, genau wie er, und überhaupt sei es an der Zeit, dass er wieder seinen eigentlichen Aufgaben in der Firma nachkam.

Betje hatte an die Katzen und Kater auf der Gasse denken müssen, bei denen nie genau herauszuhören war, ob sie nun Krieg führten oder einander umwarben. Ein komischer Gedanke bei Katya und Christian Petersen. Umso lieber hatte Betje sich dann wieder in den Anblick des Abakus im Flur vertieft, während es ihr in den Fingern juckte, die Holzkugeln daran zu verschieben, um herauszufinden, ob sich damit wirklich so gut rechnen ließ, wie Thilo Petersen gesagt hatte.

»Auf jeden Fall können sie sich ein gutes Leben leisten«, sagte Betje zu Zacharias. »Und ich soll auch etwas davon haben, finden sie.«

Die Arme locker auf den angezogenen Knien, grub Zacharias nachdenklich mit der Hacke seines Stiefels eine Furche in den Erdboden.

»Pass nur auf, dass sie dich nicht als Dienstmädchen ausnutzen, für lau. Oder Schlimmeres. Feine Leute sind so, glaub mir.«

Zweifelnd sah Betje ihn an. Sie half gern im Haushalt, sie hatte ja auch etwas davon, und für die Wäsche und den Großputz bezahlten die Petersens zwei Frauen. Und trotzdem rührte Zacharias an dem Misstrauen, das ihr ohnehin im Nacken saß wie ein lästiges Ziepen. Warum ihr, ausgerechnet ihr, etwas so Gutes widerfahren sollte.

»Sobald sie eigene Kinder haben, kräht dann sowieso kein Hahn mehr nach dir«, fuhr Zacharias fort. »Weiß ich aus Erfahrung.«

Betje blinzelte in den Himmel, an dem die Wolken dahinglitten wie eine Spiegelung der Segelschiffe unten im Fluss. Möwen zogen ihre Kreise, gleichgültig dem Flug der Enten gegenüber, der immer etwas Gehetztes hatte, als wären sie auf der Flucht.

Der Tag, der eben noch so schön gewesen war, schien jetzt verdorben.

»Nicht erschrecken«, hörte sie Zacharias flüstern. »Du hast da etwas im Haar.«

Es kribbelte auf ihrer Kopfhaut, den ganzen Rücken hinunter, als Zacharias zart über ihre geflochtenen Locken fuhr. Das flaumige Samenschirmchen einer Pusteblume war es, das er ihr auf der Fingerkuppe hinhielt.

»Wünsch dir was.«

Gehorsam blies Betje es davon, obwohl sie doch schon wunschlos glücklich war. Sie öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, obwohl sie gar nicht gewusst hätte, was es zu sagen gab. Zacharias legte ihr den Finger auf die Lippen.

»Nicht. Sonst geht dein Wunsch nicht in Erfüllung.«

So nahe war er ihr, dass sie die Bartspuren in seinem Gesicht erkennen konnte und wie tief seine dunklen Augen blicken ließen. Aufregend roch er, das Gefühl seines Fingers auf ihrem Mund wie ein Versprechen.

»Vergiss mich nur nicht«, murmelte er.

Wie könnte Betje Zacharias auch jemals vergessen. Am allerwenigsten diesen Tag, diesen Moment.

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