19
Angestrengt starrte Betje auf die bedruckten Seiten vor ihr. Inzwischen kannte sie die einzelnen Buchstaben, aber noch immer fiel es ihr schwer, sie im Kopf zu Wörtern und ganzen Sätzen zusammenzufügen. Vor allem in Katyas Gegenwart. Betje wollte sie so unbedingt stolz machen, dass sich die schwarzen Zeichen in ihren Gedanken verhedderten.
»Es ist wie Rechnen, Betje.«
»Ist es nicht«, schoss Betje zurück, heftiger als beabsichtigt.
Die Rechenstunden, die Thilo ihr inzwischen gab, glichen einem flotten Spaziergang an der frischen Luft, die Zahlen Markierungen am Weg, die ihr die Richtung vorgaben und ihr halfen, sich zurechtzufinden.
Jede Zahl hatte ihren eigenen Charakter. Die Sechs war behäbig, die Vier spröde, die Drei eine sprungbereite Feder und die Fünf eine alte Jungfer. Die Acht glich einem Schneemann, und die Zwei einem der Schwäne auf der Alster. Ungerade Zahlen mochte Betje lieber, die erinnerten sie an sich selbst, und keine Zahl fand sie schöner als die Eins, die nur einen tüchtigen Arm hatte, aber so wichtig war; mit ihr fing doch alles erst richtig an.
Vergiss nur die Nullen dahinter nicht , hatte Thilo einmal gescherzt. Je mehr Nullen, desto besser .
Jede Zahl hatte ihren Nutzen, ihren Platz, einen Sinn. Die Muster und Regeln des Rechnens fühlten sich für Betje an, als würde sie vollkommen gewichtslos eine unendliche Treppe hinaufspringen, geradewegs in den Himmel hinein. Alles konnte sie im Kopf aus diesen Zahlen bauen, eine Hütte, ein turmhohes Speicherhaus, eine Kirche wie Sankt Nikolai, sogar einen Palast.
»Versuch es einfach weiter«, bat Katya.
Betje blinzelte, doch die Zeichen vor ihr blieben ein unüberwindlicher und undurchdringlicher Zaun. In ihrem Kopf begann es, zu rauschen und zu dröhnen.
»Thilo ist viel geduldiger«, warf sie Katya trotzig vor.
»Er hat das Glück, dass dir Rechnen so leichtfällt«, erwiderte diese gelassen. »Aber Lesen gehört genauso dazu.«
Betje tat Katya Unrecht, und das wusste sie auch, sie konnte nur nicht anders. Ständig saß ihr die Angst im Nacken, Katya würde zu dem Schluss kommen, Betje sei nicht nur dumm, sondern auch faul, und sie dann wegschicken. Hätte sie aber Lesen und Schreiben gelernt, würde sie vielleicht auf eine Schule gehen müssen, darüber hatten sie neulich beim Essen gesprochen. Allein beim Gedanken an andere Jungen und Mädchen, die von klein auf das gelernt hatten, womit Betje derzeit mühselig rang, brach ihr der kalte Schweiß aus.
Wie ein angriffslustiger Bulle senkte sie den Kopf und versetzte dem Buch einen Stoß.
»Ich kann das nicht.«
Katya blieb ruhig. »Natürlich kannst du.«
»Nein, kann ich nicht. Und ich will es auch nicht!«
Wie Feuer schoss es in Betje herauf; sie würde darin verbrennen, blieb sie auch nur einen Augenblick länger hier sitzen. Zornig fegte sie das Buch vom Tisch und schlug Katyas ausgestreckte Hand zur Seite, dann rannte sie aus dem Zimmer.
Krachend fiel die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss.
Seufzend hob Katya das Buch auf und trat ans Fenster. Wie ein Flämmchen züngelte unten auf dem Kehrwieder Betjes Zopf zwischen den Passanten hindurch. In Katyas Beinen zuckte es, dem Mädchen nachzulaufen, doch sie entschied sich dagegen. Sicher brauchte Betje jetzt nichts mehr, als allein zu sein, um Dampf abzulassen.
Betje war oft so in der letzten Zeit, Thilo gegenüber auf kindlich zärtliche Art anhänglich, widerborstig und streitlustig bei Katya. Dabei war sie überzeugt gewesen, das Mädchen hätte sich endgültig eingelebt, nach einem Vierteljahr hier am Kehrwieder. Glücklich schien sie, geradezu aufgeblüht. Voller Zutrauen in sich selbst, je besser sie nähen und kochen und backen lernte, obwohl sie immer langsamer sein würde als andere, bestimmte Kniffe und Hilfsmittel benötigte, manche Dinge jemand anderem überlassen musste. Betje hatte Spaß daran, stundenweise unten im Gemischtwarenladen auszuhelfen, und jedes Mal kam sie mit glänzenden Augen wieder herauf, zeigte stolz die Groschen vor, die sie verdient hatte, und sprudelte begeistert hervor, was sie dort alles geschafft und von Arno Petersen und Kees gelernt hatte. Ihren eigenen Gemüsehandel schien sie genauso wenig zu vermissen wie ihr altes Leben in der Neustadt; Hanno kam regelmäßig sonntags zum Essen, und manchmal brachte Betje ein Stück von dem Kuchen, den sie ganz allein gebacken hatte, bei Pawel vorbei.
Nur wenn sie mit Katya allein war, wurde es schwierig. Schon morgens, wenn Katya ihr die Locken bürstete und zum Zopf flocht, gab sie sich pienzig bis unwillig. Umso mehr, wenn Katya sich bemühte, ihr Lesen und Schreiben beizubringen.
Sehnsüchtig dachte Katya an jenen Tag im vergangenen Jahr zurück, als Betje aus eigenem Antrieb aus der Neustadt herübergekommen war und an die Wohnungstür geklopft hatte. Blass unter den Sommersprossen und blankes Entsetzen im Blick, weil sie am Morgen Blut auf ihrem Unterrock entdeckt hatte. Behutsam hatte Katya das Wissen und den Trost weitergegeben, die sie selbst einst von Silja Guðmundsdóttir bekommen hatte. In dieser besonderen Blutsverwandtschaft, die Frauen und Mädchen als Mütter und Töchter zusammenbrachte, waren sie einander nähergekommen; jetzt schienen sie sich weiter und weiter voneinander zu entfernen.
Nachdenklich drückte Katya die Stirn an die Fensterscheibe. Um Betjes willen hatte sie sogar darauf verzichtet, den vergangenen Winter in Norwegen zu verbringen. Noch einmal würde sie sich das nicht leisten können. Petersen & Voronin war zwar nicht zusammen mit der Maiden of the Seas untergegangen, dümpelte jedoch seitdem mehr schlecht als recht dahin. Um die Firma aus den roten Zahlen zu bringen, brauchten sie Eis, viel mehr Eis, und gutes Eis noch dazu. Betje aus einer Umgebung zu reißen, an die sie sich gerade gewöhnt hatte, um sie in die frostige Wildnis des Voroninvatnet mitzunehmen, erschien ihr genauso wenig eine gute Idee, wie das Mädchen mehrere Monate lang aus den Augen zu lassen. Eine Entscheidung, die umso schwerer auf ihr lastete, je länger sie damit zögerte.
Natürlich hatte sie gewusst, dass es eine Herausforderung sein würde, sich nicht um ein Baby zu kümmern, sondern um ein halbwüchsiges Mädchen, das in seinem Leben wenig Gutes erfahren hatte. Trotzdem hatte sie es sich leichter vorgestellt.
Mit einem weiteren Seufzen löste sie sich vom Fenster und ging in die Küche, um Brot zu backen. Betje würde hungrig sein, wenn sie nach Hause kam.
Drückende Stille lag über der guten Stube der Petersens. Seit Thilo aus dem Kontor nach Hause gekommen war, saßen Katya und er vor ihren Tassen mit Tee, der längst kalt geworden war. Angespannt lauschten sie auf jedes Geräusch im Treppenhaus, sprachen sich mit Blicken, einem Händedruck Mut zu.
Sankt Nikolai schlug die volle Stunde. Die fünfte, seit Betje davongelaufen war.
Katya schob den Stuhl zurück. »Ich gehe sie suchen.«
»Lass mich das machen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Auf mich ist sie wütend. Ich glaube nicht, dass sie freiwillig nach Hause kommt, bevor sie und ich das aus der Welt geschafft haben. Aber falls doch, wäre es gut, wenn du dann hier wärst.«
Sie küsste Thilo auf die Wange und lief hinaus, um sich eine Jacke überzuziehen, der Abend hatte einen kräftigen Wind mitgebracht. Thilo blickte zum Fenster. Die Dämmerung kroch dicht und dunkel heran und laugte alle Farben aus.
»Nimm einen Schirm mit!«, rief er ihr nach, doch die Wohnungstür war bereits hinter Katya zugeklappt.
Unter den massigen Wolken frischte der Wind auf, während Katya die Geschäfte entlang des Binnenhafens abklapperte, die Arbeiter am Kai, Nachbarn und zufällige Passanten nach Betje fragte. Der Kehrwieder war klein, in nicht einmal einer halben Stunde umrundet. Unter den ersten Tropfen lief Katya über die Brooksbrücke, und gleich hinter der Deichstraße öffneten sich die Schleusen des Himmels.
Böen trieben den Regen in Bahnen vor sich her und fegten im Handumdrehen die Gassen leer. Hinter den Fenstern flammten Lichter auf, in dieser eigentümlichen Dunkelheit, die Tag und Nacht zugleich war. Das finstere Labyrinth aus Hauswänden brachte für Katya die Erinnerung an einen anderen Lauf durch die Nacht zurück, in einer anderen Stadt, vor vielen, vielen Jahren, mehr als ein halbes Leben her.
Hier irgendwo hatten vor ein paar Wochen zwei Kahnschiffer die Leiche eines Mädchens aus dem Fleet gefischt. Ein sehr hübsches Mädchen, wie Schneewittchen, hatte Frau Hansen im Gemischtwarenladen erzählt. Katya war gerade unten gewesen, um Kartoffeln zu holen. Ob jemand ihm Gewalt angetan hatte oder ein Unglück geschehen war, hatte sich nicht mehr sagen lassen. Womöglich hatte das Mädchen sich auch ertränkt, hatte Frau Hülskötter beigesteuert, obdachlos und schwanger, nachdem sie von zu Hause ausgerissen und auf die schiefe Bahn geraten war.
Nicht einmal fünfzehn Jahre alt war dieses Mädchen geworden.
Außer Atem und mit bang pochendem Herzen, klopfte Katya an den Holzverschlag. Als darin alles still blieb, zog sie sacht die Lattentür auf. Dahinter war es dunkel, Hanno war nicht da.
Umso lauter rief Katya weiter nach Betje, die Rufe einer Vogelmutter nach ihrem aus dem Nest gefallenen Küken.
Ganz in der Nähe antwortete ein Hund, nicht weniger dringlich und unverkennbar heiser. Pies, natürlich, vielleicht hatte Betje bei Pawel Zuflucht gesucht. Katya hastete weiter durch die dunkle Gasse, in der sich ein blasser Lichtkeil öffnete. Als ein schwarzer Schatten sprang Pies ihr entgegen und warf sich voller Ungestüm gegen sie. Katya rieb ihm kräftig über den Kopf und blickte dann zu der Silhouette im Türrahmen.
»Ist Betje bei Ihnen?«
Pawel schwieg, öffnete nur die Tür ein Stück weit. Als Katya zögerte, packte er sie kurzerhand am Arm und zerrte sie ins Trockene.
»Stundenlang ist sie draußen herumgeirrt«, herrschte Pawel sie an. »Sie können froh sein, dass ich sie unweit von hier aufgelesen habe.«
Katya nickte, den Vorwurf hatte sie verdient.
»Ich konnte auch Hanno nicht finden«, erwiderte sie.
»Er ist sechzehn«, knurrte Pawel. »Jungs in dem Alter ziehen nun mal um die Häuser, bei Wind und Wetter.«
Nebenan rief Betje fragend Katyas Namen, weinerlich und fast furchtsam. Katya schüttelte Pawels Hand ab und drängte sich an ihm vorbei.
Ein kräftiger Geruch nach Suppe hing in der Luft. Klein und blass hatte Betje sich in dem schmalen Bett verkrochen, die Augen rot geweint. Erschöpft wirkte sie, sogar ihre Sommersprossen schienen im Widerschein von Feuer und Lampenlicht ausgeblichen.
»Bist du böse auf mich?«, fragte Betje mit der dünnen Stimme eines viel jüngeren Kindes.
»Nicht allzu sehr. Hauptsächlich habe ich mir Sorgen gemacht.«
Aus dem vertraulichen Du, gegen das sich Betje bei ihr bislang gesträubt hatte, schöpfte Katya den Mut, ihr über die Wange zu streicheln.
»Ich hatte große Angst um dich, weißt du«, fügte sie hinzu.
Betje schwankte zwischen Stirnrunzeln und der Andeutung eines Lächelns. Katya überließ es ihr, einen Weg aus diesem Zwiespalt zu finden. Sie streichelte einfach weiter, bis sich Betjes Gesicht von allen Zweifeln leerte und nichts als leises Glück übrig blieb.
Pawel konnte den Blick nicht von Katya Petersen lösen, die tropfnass auf der Bettkante saß, eine stetig wachsende Pfütze zu ihren Füßen. Eine Nixe, die vor Sorge um ihr Menschenkind aus dem Wasser an Land gekommen war.
Pies gab ein Fiepen von sich. Den Kopf schräg gelegt, zeigte er sein breitestes Hundegrinsen, als ob ihm ein besonderes Schelmenstück gelungen wäre, sein Hecheln wie eine Aufforderung an Pawel, sich zusammenzureißen und ein Mal nett zu sein.
Pawel wandte sich ab, um Holz nachzulegen und Wasser aufzusetzen.
Wohlig streckte Katya die bloßen Füße dem Feuer entgegen. In Unterrock und Unterhemd, eine Decke um die Schultern gelegt und ihr triefendes Haar ausgewrungen, wärmte sie ihre Hände an einer Tasse Tee, eine Mischung herber Kräuter. In knappen Sätzen hatten sie und Pawel sich gegenseitig ihre Lebenswelten umrissen, der Altwarenhändler und die weit gereiste Geschäftsfrau, seither schwiegen sie. Nur das Trommeln und Rauschen und Gurgeln des Regens war zu hören, Betjes tiefe Atemzüge und das Schnaufen von Pies, der sich vor dem Bett ausgestreckt hatte, um dem schlafenden Mädchen nahe zu sein.
Verstohlen beobachtete Pawel Katya Petersen. Ganz unbefangen hatte sie sich aus Jacke, Rock und Bluse geschält, damit die nassen Sachen am Feuer trocknen konnten; keine Scham hatte sie dabei gezeigt, keine Spur von Koketterie. Immer wieder drehte sie sich zu Betje um, das Gesicht mal weich, mal eine besorgte Furche zwischen den Brauen.
Er konnte sich nicht erinnern, wann eine Frau seine Gedanken zuletzt derart beschäftigt hatte.
»Warum liegt Ihnen so viel an dem Mädchen?«, fragte er.
»Warum liegt Ihnen denn so viel an ihr?«
»Machen Sie das immer, eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten?«
»Nur wenn ich das Gefühl habe, dass jemand mich in die Enge treiben will.«
Ihr Tonfall war unverändert leicht, aber mit unüberhörbaren Spitzen und Graten darin. Vor ihm saß eine Frau, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ, dabei aber niemals laut wurde noch auf einen verführerischen Augenaufschlag zurückgriff.
An dieser Selbstsicherheit rieb Pawel sich wie ein Braunbär seinen Rücken an einem rauen Baumstamm. Er fragte sich, wie ihr Ehemann damit umging; unschlüssig, ob er sich Herrn Petersen als Pantoffelhelden vorstellen sollte oder als Mann von besonders starkem Charakter. Und gerade als er glaubte, er hätte Katya Petersen durchschaut, schlug sie überraschend einen versöhnlichen Ton an.
»Betje ist ganz anders als ich«, sagte sie leise. »Und doch erinnert sie mich an mich selbst, früher einmal.«
Die zarte Wehmut, die in diesen Worten mitschwang, kroch Pawel unter die Haut.
»Ist Ihr Leben derart armselig, dass Sie durch ein Kind noch einmal von vorn anfangen wollen?«
Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Vielleicht.«
Katya drehte die Tasse zwischen den Händen. Feines Porzellan war es, mit Vergissmeinnicht bemalt, Pawels Tasse zierten Herbstblätter und ein Goldrand. Trotzdem war seine Bettwäsche genauso nachlässig geflickt wie der Riss im Ärmel seines Hemdes.
In seinen eigenen vier Wänden, am heimeligen Feuer, war auf seinem Gesicht eine Jungenhaftigkeit zu erkennen, die er bei Tageslicht nicht mit nach draußen nahm. Erst hier fiel ihr auf, wie unausgewogen sein Mund war, die obere Hälfte sparsam und geradezu geizig, die Unterlippe voller Großzügigkeit. Sie hätte gern gewusst, ob sich diese beiden Seiten bei ihm jemals aussöhnten.
»Haben Sie auch einen Nachnamen, Pawel?«
»Nachnamen bedeuten im Gängeviertel nichts. Das wüssten Sie, wenn Sie von hier wären.«
Pawels Akzent, der die Laute härtete und verschliff, war ihr nicht vertraut, und doch rührte er damit an ihren Wurzeln. Auf eine Art, die sie spüren ließ, dass manche dieser Wurzelfasern haltlos in der Luft hingen, vielleicht schon dabei waren auszutrocknen. Ein eigentümliches Gefühl von Heimweh stieg in ihr auf, nach einem Land, in dem sie nie wirklich gelebt hatte.
»Wo ich herkomme, war es genauso.«
Mit einem Grunzen stemmte Pies sich auf die Beine und schüttelte sich. Seine Krallen klackerten über den Boden, als er auf Katya zutapste und schnuppernd den Kopf in ihren Schoß legte.
»Sie müssen mich nicht mögen, Pawel. Im Grunde ist es mir auch gleich, was Sie von mir halten. Ich finde es nur ungerecht, dass Sie sich ein Urteil über mich bilden, ohne mich überhaupt zu kennen. Vor allem Betje gegenüber.«
Katya Petersen hatte recht mit dem, was sie sagte, und lag doch meilenweit daneben.
An eine Elster erinnerte sie ihn, mit ihrem scharfen Blick, ihren Farben, genauso schlank und von naturgegebener Eleganz wie diese von den Menschen oft missverstandenen Vögel. Als Junge in Polen hatte er einmal ein gerade flügge gewordenes Elsterküken aus den Fängen einer Katze gerettet, unter hohem Blutzoll seinerseits, und gesund gepflegt. Srokas Lieblingsplatz war auf seiner Schulter gewesen, wo immer er hinging, zwischen den Bienenstöcken seines Vaters, über die Felder und durch die Wälder. Sie mochte es, mit Stöckchen und Steinen zu spielen, und antwortete sogar, wenn er mit ihr sprach. Als sie von einem ihrer Ausflüge nicht wieder zurückkehrte, hatte es ihm das Herz gebrochen.
»Sie bringen das Mädchen vollkommen durcheinander, merken Sie das nicht?«, fuhr er Katya Petersen an. »Sie können nicht alles mit Ihrem Geld kaufen.«
»Glauben Sie, das weiß ich nicht?«
Katya Petersen streichelte Pies nicht so, wie die meisten Frauen es taten, als ob sie ein Leintuch glatt strichen. Ihre schlanken Finger gruben sich tief in das Fell, kraulten und kneten kräftig, zogen zärtlich an seinen Ohren. Der Hund schielte zu Pawel, halb schuldbewusst, dass er sich von dieser Fremden hemmungslos verwöhnen ließ, halb mit milder Nachsicht, als hätte er einen Burschen im Flegelalter vor sich.
»Ich bin nicht reich geboren worden«, fuhr Katya fort. »Genauso wenig habe ich ins Geld hineingeheiratet. Ich habe immer gearbeitet und hatte auch einfach Glück. Falls es das ist, was Sie mir übel nehmen, wüten Sie besser gegen den Herrgott oder das Schicksal oder woran Sie glauben. Nicht gegen mich.«
Pawel trank schweigend von seinem Tee. Er genoss dieses Gefecht mit Worten, das seinen Verstand herausforderte und seine widerstreitenden Gefühle nicht minder.
»Wissen Sie, was ich mir für Betje wünsche?«, fügte Katya hinzu, ganz in Pies’ hingebungsvollen Hundeblick versunken. »Dass sie so viel wie möglich von der Welt kennenlernt, um ihren eigenen Weg zu finden. Um später einmal auf eigenen Füßen zu stehen, stark und unabhängig und frei. Was ohnehin schwer genug ist für ein Mädchen.«
Als eine gezierte und dünkelhafte Dame hatte Pawel sich Katya Petersen anfangs vorgestellt. Eine, die ein Kind aus der Gosse auflas, ihm Schleifen in die Haare band wie einem Schoßhündchen und es überall vorzeigte, um für ihren Großmut bewundert zu werden und sich ihr Seelenheil zu sichern.
Fast wünschte Pawel, es wäre tatsächlich so.
»Wie großzügig von Ihnen.«
Tiefgrün schillerten ihre Augen, ein Zeichen von Zorn, das hatte er schnell herausgefunden. Dieses betörende Farbenspiel war der Grund, weshalb er nicht aufhören konnte, zu sticheln und zu höhnen.
»Sie sind anmaßend, Pawel. Anmaßend und selbstherrlich. Wie gut, dass ich mit Ihnen nichts weiter zu schaffen habe.«
Liebevoll klopfte sie Pies auf den Hals und stand auf. Pawel tat gar nicht erst so, als würde er den Blick abwenden. Unverfroren sah er zu, wie sie wieder in ihren Rock stieg und sich die Bluse überzog. Sie war zu dünn, zu wenig fraulich, vielleicht auch schlicht von zu kühlem Wesen, als dass es wollüstig gewirkt hätte. Und doch fühlte es sich an wie nach einem erotischen Stelldichein. Eines, das sich allein in seinem Kopf abgespielt hatte.
Neid war ihm von Natur aus fremd, aber in diesem Moment wollte er es ihrem Ehemann nicht gönnen, jeden Tag in den Genuss dieses Anblicks zu kommen. Mit ihr über irgendwelche Nichtigkeiten zu streiten und es anschließend wiedergutzumachen. Zu wissen, dass man sein ganzes Leben in der Nähe einer solchen Frau verbringen durfte, war ein unverschämtes Glück.
»Danke für den Tee«, sagte Katya, während sie ihr Haar wieder zu einem Knoten wand.
Seine Finger krampften sich um den Becher. Grobe und rissige Hände hatte er, den Schmutz und den Staub anderer Leute in den Riefen und unter den Nägeln. Während sie so makellos und rein war wie frisch gefallener Schnee in einem dunklen Wald.
»Darf Betje heute Nacht bei Ihnen bleiben?«, fragte Katya. »Sie soll selbst entscheiden, was sie will, am hellen Tag, ausgeschlafen und mit klarem Kopf. Falls sie wieder zu uns kommen möchte … Würden Sie sie vielleicht begleiten? Ich ersetze Ihnen auch gern die Auslagen und was Ihnen womöglich an Verdienst entgeht.«
Sie schnürte ihre Stiefeletten zu und richtete sich auf, abwartend.
»Geht es bei Ihnen immer nur um Geld?«, gab Pawel rau zurück, in dem vergeblichen Versuch, den nächsten Augenblick hinauszuzögern, den übernächsten.
»Nein. Aber ich weiß, was Arbeit wert ist.«
Um Pawels Mund zuckte es, und es war ihm egal, dass sie es sah.
Pies’ Winseln erstarb, schwanzwedelnd blickte er hoffnungsvoll zwischen Katya und Pawel hin und her. Mach, dass sie bleibt.
»Ich gebe Ihnen einen Schirm mit.«
Im Schein der Lampe in seiner Hand glänzten Katya Petersens Augen auf, als er ihr den Weg durch die Werkstatt leuchtete. Aufmerksam wanderte ihr Blick über die Schemen darin und kehrte doch immer wieder zu Pawel zurück. Forschend, als versuchte sie, eine Verbindung zwischen ihm und den zusammengesammelten Gegenständen herzustellen.
»Wenn Sie so viel reisen«, sagte Pawel, den größten, den schönsten Schirm in der Hand, »wie wollen Sie sich überhaupt um Betje kümmern?«
Ein Funken Heiterkeit glomm in ihren Augen auf, im Zwielicht wie ein Mondstrahl, der sich in einen nächtlich stillen See verirrte.
»Würden Sie mich das auch fragen, wenn ich ein Mann wäre, Pawel?«
Im Schutz des Schirms trat sie hinaus in die regennasse Dunkelheit und stieg mit gerafften Röcken über die Bäche hinweg, die durch die Gasse gurgelten.
Mit einem missbilligenden Laut blickte Pies zu Pawel auf, seine Augen ein einziger Vorwurf.
»Ich konnte sie ja schlecht festbinden«, knurrte Pawel.
Beleidigt trollte sich der Hund auf schweren Pfoten. Pawel zog die Tür hinter sich zu, die Leere, die Katya Petersen hinterließ, Erleichterung und Verlust zugleich.