9



Grischa driftete aus tiefem Schlaf herauf, Kopf und Glieder schwer. Nicht von Wein, Bier oder Schnaps, sein Rausch war ein anderer gewesen. Lächelnd wanderte sein Blick über das nussdunkle Haar, die Rinne des Rückgrats hinab bis zu den Grübchen über den Pobacken.

Hart und kalt waren Ellis Augen gewesen, während sie sich zwischen den angetrunkenen Gästen des Wirtshauses bewegte. Erst als sie Grischa auf der Türschwelle entdeckte, ein Paket unter dem Arm, war ihr Blick weich geworden.

Elli fragte nie, wie lange er dieses Mal blieb, in wessen Armen er die übrigen Nächte verbrachte, und Grischa vergalt es ihr mit aller Zärtlichkeit und Leidenschaft. Über das vergangene Jahr war sie zu seinem Heimathafen geworden, wann immer er aus Norwegen, Indien oder England nach Hamburg zurückkehrte, für ein paar Tage oder einige Wochen.

In der Kammer nebenan kiekste Ellis Dreijähriger und klapperte mit dem neuen Blechspielzeug, leise ermahnt von seiner Großmutter. Grischa hatte anfangs gezögert, ihnen Geschenke zu machen, er wollte nicht missverstanden werden. Doch Elli und ihre Mutter schienen sich aufrichtig über Kattun und Musselin und Leinen zu freuen, die er ihnen mitbrachte, über Kaffee und Tee und Konfekt und die Sachen für den Kleinen.

Wenn er bei Elli war und mit Tristan spielte, bekam Grischa eine Vorstellung davon, wie es wäre, sesshaft zu sein, mit Frau und Kind. Er kostete gern ab und zu davon, doch auf Dauer ernährte es ihn nicht. Er war noch nicht so weit, auch mit sechsundzwanzig Jahren nicht.

Nach der kurzen Nacht war der Morgen viel zu früh gekommen, mit Hufschlägen und Räderknirschen, Möwenkreischen, Kirchenglocken und Rufen, die von unten durch das geöffnete Fenster schwappten. Der neue Tag war freundlich, aber kühl, roch harzig. Der Herbst kündigte sich an.

Grischa widerstand der Versuchung, sich noch einmal von Ellis Armen und Beinen umschlingen zu lassen, dünn wie die Ranken einer Kletterbohne. Sich in ihrem Duft nach Butterbrot und grünen Birnen zu verlieren. Behutsam breitete er das Leintuch über ihre nackte Haut und schob sich aus dem Bett. Die Kirchenglocken hatten ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er spät dran war.

»Musst du schon gehen?«, murmelte Elli schläfrig.

Bereits in Hemd und Hosen, beugte Grischa sich über sie und küsste sie aufs Ohr, wo sie besonders kitzlig war. Ihre Nase kräuselte sich vergnügt.

»Meine Schwester heiratet doch heute.«

Betje stellte den nahezu kahlen Besen in die Ecke, strich sich die Locken aus dem Gesicht und sah sich um. Dem Ruß von Feuerstelle und Öllampe war nicht dauerhaft beizukommen. Fortwährend sickerte der feuchtklebrige Schmutz der Stadt durch die Ritzen im Holz, aber sie hatte ihr Möglichstes getan. Allzu genau brauchte sie es auch nicht zu nehmen, im Schatten der Nachbarhäuser spendete das enge Fensterchen nur wenig Licht. Trotzdem war Betje mit ihrem Werk zufrieden. Sie kam gut zurecht, seit sie sich so viel Zeit lassen konnte, wie sie brauchte, und niemand sie schalt, weil sie sich ungeschickt anstellte.

Dies war ganz ihr Reich, ihres und Hannos. Auch wenn es nicht mehr als ein Bretterverschlag war, der an einer Hausmauer unweit von Pawels Werkstatt klebte, gerade groß genug für zwei Strohsäcke, einen kleinen Tisch und zwei Stühle. In der Neustadt war Wohnraum knapp; sie konnten von Glück sagen, dass sie sich die Behausung nicht mit einem Dutzend fremder Menschen teilen mussten oder als Schlafgänger lebten, die sich für ein paar Groschen in anderer Leute Betten legen durften, solange diese bei der Arbeit waren.

Betje angelte unter ihrem Strohsack das winzige Bündel hervor, das sie dort verwahrte. Drei Mark und zwölf Pfennig lagen vor ihr auf dem Boden, als sie das Tuch entfaltet hatte. Jeden Tag zählte sie aufs Neue ihr Erspartes, halb in der Angst, es könnte sich über Nacht in Luft aufgelöst haben, halb mit dem heißen Wunsch, es könnte sich stattdessen von selbst vermehrt haben.

Achtzig Mark kostete der Platz auf einem Schiff nach Amerika, hatte Pawel gesagt, für Kinder die Hälfte. Und dann hätte sie in den sechs Wochen der Überfahrt noch nichts gegessen. Kein Geld, um danach weiterzukommen, auf der Suche nach ihren Eltern und den Geschwistern.

Drei Mark und zwölf Pfennig. Mehr hatte sie nicht zur Seite legen können, in dem halben Jahr, das sie nun schon in der Stadt war.

Hamburg war teuer. Was Hanno bei Pawel verdiente, reichte gerade für die Miete und um ihre Mägen leidlich zu füllen. Es half, dass sie alles, was sie sonst noch brauchten, aus Pawels Werkstatt bekommen konnten und ab und zu sogar dort aßen. Jedes Mal war es ein Freudentag, wenn Hanno irgendwo eine Speisekammer entrümpelte, als Dankeschön für das Ausmisten hier mal ein Glas Eingemachtes geschenkt bekam, dort mal eine Wurst oder ein paar Äpfel. Allzu oft jedoch blieb Betje nichts anderes übrig, als ein paar Groschen des mühselig zusammengekratzten Geldes wieder abzuzwacken, um davon Brot zu kaufen.

36 Mark und 88 Pfennig fehlten ihr noch. Mindestens. Und auch nur, solange sie noch als Kind durchging. In etwas über einem Jahr, mit zwölf, wäre es damit vorbei. Es sei denn, es würde ihr gelingen, sich jünger zu schummeln.

Das Gefühl von Hoffnungslosigkeit, das sich ihr aufdrängte, erstickte sie im Keim. So schnell gab sie nicht auf, sie wusste ja, wie sie zu ein paar Pfennigen kommen konnte. Eilig zog sie sich die Männerjoppe über, die trotz der Mottenlöcher wärmer war als das Schultertuch, das sie früher zu Hause getragen hatte, zögerte jedoch, in die Holzpantinen zu steigen.

Schließlich entschied sie sich dagegen, trat barfuß nach draußen und zerrte die wackelige Lattentür hinter sich zu.

Ein alter Mann, der Backenbart weiß und flauschig wie Schönwetterwolken, schleppte sich vorwärts, indem er seine beiden Gehstöcke abwechselnd aufsetzte und sich in unendlicher Langsamkeit daran durch die Gasse zog. Betje sah ihn oft, immer an dieser Ecke, sodass sie nicht wusste, ob er jeden Tag hier vorbeikam oder es einfach nicht schaffte, sich wirklich von der Stelle zu bewegen. In einem hastigen Schlenker wich sie einem anderen Mann aus, der auf unsicheren Beinen von einer Seite zur anderen torkelte, nach Pisse und Schnaps stank, dabei hatte der Türmer von Sankt Michaelis gerade erst das Morgenlied geblasen.

Mit schnellen Schritten fädelte Betje sich zwischen den Häusern hindurch, die an die Waben eines Bienenstocks erinnerten. Sie kam an Brettverschlägen vorüber, die an den Mauern wucherten wie Pilze an einem faulenden Baumstamm. Hier gab es viel zu zählen: die Fensterreihen der schiefen Häuser und die Türen, die im Kommen und Gehen der Leute auf- und wieder zuklappten, und die Sprünge im Mauerwerk. Die Hemden und Blusen und Leintücher derer, die sich welche zum Wechseln leisten konnten und sie zum Trocknen aus den Fenstern hängten. Umherstrolchende Katzen und ihre Widersacher, die fetten Ratten, gleichermaßen in Angst und Schrecken versetzt von den bitterbösen Angreifern aus der Luft, den Krähen. Die Handkarren und Kiepen derjenigen, die etwas zu tun hatten, die Tabakspfeifen der Männer und die Körbe der Frauen und den Stundenschlag des Michels.

»Moin!«, krächzte es unweit von Betje.

Auch diesen Burschen sah sie bei Wind und Wetter hier sitzen, gleich, ob morgens, mittags oder abends. Klapperdürr in löchrigen Hosen und zerschlissener Jacke, ein Messer in der Hand, mit dem er an einem Stück Holz herumschnitzte. Sein hohlwangiges Gesicht war unter der Mütze eigentümlich in die Länge gezogen, die schielenden Augen tief eingesunken. Betje grüßte schüchtern zurück, wie sie es jedes Mal tat, seit sie begriffen hatte, dass er nichts anderes von ihr wollte. Ein breites Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, bevor er weiter jedem, der seines Weges kam, heiser den Gruß entgegenrief, in der Hoffnung auf ein wenig Aufmerksamkeit.

Es gab viele hier wie ihn und Betje, krumm und schief gewachsen. Fiete, zum Beispiel, der ein langes und ein kurzes Bein hatte und mit dem Hanno manchmal am Sonntag, der Pawel heilig war, auf der Gasse saß. Oder die kleine Anna mit der Hasenscharte, die rotznasig durch die Gassen irrte und von der keiner so recht wusste, wo sie hingehörte. Lahm oder blind, manche bestimmt taub oder stumm, andere sichtlich schwerfällig oder durcheinander im Kopf: Für wen es auf der Welt keinen anderen Platz gab, der fand hier eine Mauerritze. Ein merkwürdiges Gefühl für Betje, plötzlich eine unter vielen zu sein, und doch nützte es ihr nichts. Hier, wo die Not an jeder Ecke lauerte, war damit kein Geld zu holen.

Betje lief weiter, zwischen hohen Häusern hindurch und über die Brücken der Fleete. Verwunderlich war es, dass diese Stadt, so klobig und klotzig, nicht einfach im Wasser versank. Dass sie nicht im Schlamm einknickte, der bei Ebbe den Gestank von Gülle verbreitete. Selbst bei Flut roch es streng aus manchen Fleeten; die Ausdünstungen dessen, was die Menschen und ihre Gewerbe hinterließen, konnte auch noch so viel Wasser nicht wegspülen.

Die Kirche von Sankt Nikolai zeichnete sich mächtig gegen den Herbsthimmel ab. Von einer grauen Strenge, die auf dem freundlichen Marktplatz mit seinen schmucken Häusern geradezu hartherzig wirkte. Nach der stillen Marsch war die Stadt immer noch überwältigend laut für Betje. Besonders hier, wo die Marktschreier ihr Gemüse und Obst anpriesen, ihren Schellfisch und Hummer, die Mundarten des Nordens wie das Brodeln in einem Kochtopf.

Zwischen den Schankwirtschaften auf der einen Seite des Platzes und den feinen Bürgerhäusern auf der anderen suchte Betje sich eine Stelle, wo es nicht allzu sehr nach den Abfällen von Fisch und Fleisch stank. In einigem Abstand zu den Krämerläden und dem Wollwarenhändler und dem Uhrmacher, dem Tabakgeschäft und der Steinzeughandlung ließ sie sich nieder, denn die Geschäftsleute wurden schnell böse, wenn sie vor ihren Türen herumlungerte. An die Hauswand gelehnt, drapierte Betje ihren lahmen Arm so in den Schoß, dass er gänzlich kaputt aussah, und sank mitleidheischend in sich zusammen.

Hanno mochte es nicht, wenn sie betteln ging. Das hatte sie ihm angesehen, als sie ihm erklärte, woher sie das Geld hatte. Gesagt hatte er jedoch nichts, er wusste ebenso gut wie Betje, dass es keine Arbeit gab für ein Mädchen, das noch nicht einmal tatkräftig beide Blusenärmel hochkrempeln konnte. Sogar für einen kräftigen Dreizehnjährigen wie ihn war es schwer, mehr als ein paar Groschen zu verdienen, Hanno hatte sich umgehört. Sie konnten von Glück sagen, dass er bei Pawel untergekommen war.

Betje schämte sich selbst dafür, hier wie ein Häuflein Elend zu sitzen. Doch wenn die Leute sowieso glotzten, konnten sie auch ruhig etwas dafür springen lassen. Es war leichter, seit sie gelernt hatte, dass sie mehr erwarten konnte, wenn sie die Augen demütig niederschlug, anstatt den Menschen ins Gesicht zu sehen.

Während sie darauf wartete, dass ein mildtätiger Herr ein paar Pfennige hinwarf oder eine herzensgute Frau ihr eine Birne oder Zwetschge schenkte, hatte Betje alle Zeit der Welt. Sie zählte die Schuhe und Stiefel, die an ihr vorübereilten, und die verwilderten Hunde, die sich zähnefletschend um die Reste von Fisch und Fleisch zankten.

»Uns leev Herrgott Segen«, murmelte sie, sobald eine Münze neben ihren schmutzigen Füßen landete.

Dafür hatte sie noch keine Worte im leichten und klaren Zungenschlag Hamburgs, der ihr Ostfriesisch zu verdrängen begann.

Vom Weißbäcker her duftete es verlockend, und aus dem Gewürzladen wehten fremdartige Gerüche herüber. Betjes Magen zog sich knurrend zusammen, während sie von üppigen Mahlzeiten träumte und von Amerika.

Inmitten der braven Hausfrauen, die an den Ständen und Karren ihre Körbe mit Kartoffeln und Eiern füllten, entdeckte Betje ein bekanntes Gesicht. Kühn geschnitten, mit Linien und Winkeln, denen man hierzulande nicht häufig begegnete. Kohlschwarz ringelte sich das Haar unter der Kappe hervor, und in den dunklen Augen funkelte es, während der Bursche sich in geschmeidigen Schritten zwischen den Leuten hindurchdrängte.

Zacharias’ Vater soll ein Seemann gewesen sein, hatte Hannos Freund Fiete erzählt, aus Spanien oder Portugal. Womöglich sogar ein Pirat, hatte er atemlos hinzugefügt, und Hanno hatte gelacht.

Es war unmöglich, Zacharias nicht zu kennen, der durch die Gassen der Neustadt streifte wie ein Prinz durch die Wälder seines Reichs. Meist war er von einer ganzen Blase Kinder umringt, die sich darum drängelten, dass er ihnen mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuhörte oder ihnen eine Geschichte erzählte. Mal zauberte er einem von ihnen ein Bonbon hinter dem Ohr hervor, mal zog er eine Kupfermünze aus den Haaren eines anderen. Manchmal steckte er mit anderen Burschen die Köpfe zusammen, ein vergnügter Haufen, der ruppig und lautstark miteinander herumalberte und raufte.

Jeder schien Zacharias zu mögen. Vor allem die Mädchen. Ab und zu hatte er eines in seinem Alter bei sich, immer wieder ein anderes. Hübsche Mädchen, die scheu seine Hand hielten, sich rotwangig und mit schimmernden Augen an ihn schmiegten. Einmal hatte Betje beobachtet, wie er in den Schatten einer Mauer ein solches Mädchen küsste, ihre Zungen emsig am Werk. Iih .

Fasziniert hatte es sie trotzdem.

Betje wusste nicht, warum, aber es wäre ihr peinlich gewesen, ausgerechnet von Zacharias beim Betteln erwischt zu werden. Hastig sammelte sie die Münzen in ihre Schürzentasche und sprang auf die Füße. Keinen Augenblick zu spät; die Hände in den Taschen seiner ausgebeulten Hose, schlenderte Zacharias auf Stiefelsohlen heran.

»Moin, Betje.«

Fünfzehn oder sechzehn mochte er sein, schwer zu sagen, hoch aufgeschossen, wie er war, die Stimme schon tief.

Misstrauisch runzelte Betje die Stirn. »Woher weißt du, wie ich heiße?«

»Mir entgeht nichts in den Gängen der Stadt.« Zacharias hatte ein schönes Lächeln, beiderseits seines kräftigen Mundes zeigten sich dabei Grübchen. »Und es gibt nicht viele Mädchen mit Haaren wie Herbstlaub.«

Betje stieg das Blut ins Gesicht, verlegen rieb sie mit einem Fuß über den anderen. Seit niemand mehr ihre roten Locken stutzte, kräuselten sie sich bis auf die Schultern, wilder als je zuvor.

»Wolltest du auch gerade da lang?«

Zacharias’ Kopf ruckte in Richtung der Marktbuden auf der anderen Seite des Platzes, einladend geradezu. Es schien ihn nicht zu stören, dass sie noch ein Kind war und einen lahmen Arm hatte.

Betje nickte, ohne nachzudenken, nur um nicht zugeben zu müssen, weshalb sie wirklich hier war. Als wäre es das Natürlichste auf der Welt, bummelte sie neben Zacharias an den Aalfrauen vorbei, an den aufgestapelten Kohlköpfen, den Kartoffelbergen und den Käselaiben.

»Wo bist du her?«, fragte Zacharias.

»Aus Ostfriesland.«

»War ich noch nie. Wie ist es da?«

Betje erzählte von den weiten Wiesen und Feldern unter dem offenen Himmel und dass man in der Marsch manchmal förmlich spüren konnte, wie das Wasser im Boden zum Himmel aufstieg und sich zu Regenwolken ballte.

»Klingt schön«, kam es nachdenklich von Zacharias. »Friedlich. Anders als hier.«

Sein Blick wanderte über die Äpfel und Birnen und Gurken, die an den Ständen ausgebreitet lagen; eine freundliche Erinnerung daran, dass es jenseits der Stadttore ein altes Land mit saftigen und grünen Böden gab.

»Ich bin ewig nicht mehr zu Hause gewesen«, sagte Zacharias nach einer kleinen Pause. »Ich weiß nicht mal recht, was das ist, ein Zuhause.«

Zacharias’ Mutter soff, hatte Fiete zu berichten gewusst, und dass sie sich für ein paar Groschen fremden Männern anbot. Betje wusste nicht genau, was sie sich da runter vorstellen sollte, aber Hannos betretenes Schweigen hatte darauf schließen lassen, dass es nichts Gutes war.

»Ist auch für mich nicht leicht, über die Runden zu kommen, weißt du«, fügte Zacharias hinzu.

Dass er sehr wohl gesehen hatte, wie sie bettelte, ließ Betjes Gesicht erneut heiß werden. Sein ehrliches Eingeständnis, selbst harte Zeiten zu kennen, obwohl er immer ein weißes Hemd trug, eine gute Jacke, machte es jedoch weniger schlimm.

Für einen Wimpernschlag leuchtete es in seiner Hand rot auf, bevor sie wieder in seiner Hosentasche verschwand. Ungläubig blinzelte Betje zwischen der Apfelkiste und Zacharias hin und her, unsicher, ob ihre Augen ihr gerade einen Streich gespielt hatten.

»Hier. Für dich.«

Den Apfel, den er ihr ein paar Schritte weiter hinhielt, räumte jeden Zweifel aus. Betje schüttelte erschrocken den Kopf.

»Warum nicht?«

Verführerisch glänzte der Apfel in Zacharias’ Burschenhand und duftete wie eine ganze Blumenwiese. Betje schluckte den Speichel hinunter, der sich in ihrem Mund sammelte.

»Der ist gestohlen.«

»Was glaubst du, wer es nötiger hat – du oder die da?«

Betje schielte über ihrer Schulter zu der Obstfrau, die adrett in Bluse, Rock und Schürze ein Schwätzchen hielt, weder verhärmt noch notleidend aussah.

»Trotzdem.«

Zacharias ließ nicht locker. »Ist ganz leicht, mit ein wenig Übung. Auch mit nur einer Hand.«

»Solange ich ehrlich bleiben kann«, erwiderte Betje entschieden, »bleibe ich auch ehrlich.«

Zacharias betrachtete den Apfel, den er zwischen den Fingern drehte, wie schuldbewusst.

»Ich wäre gern so anständig wie du.« Er zuckte mit den Schultern. »Bin ich aber nicht.« Krachend biss er hinein.

In Betjes Beinen kribbelte es. Am liebsten wollte sie einfach kehrtmachen. Doch die Art, wie Zacharias durch das Leben ging, übte einen unwiderstehlichen Sog auf sie aus. Sie hatte das Gefühl, sich bei jedem Schritt neben ihm ein bisschen mehr zu strecken, dem jungen Mädchen entgegen, das sie einmal sein würde.

»Willst du irgendwann zurück nach Ostfriesland?«, fragte Zacharias zwischen zwei Bissen.

Betje schüttelte den Kopf. Um keinen Preis hätte sie zugegeben, dass sie ein paarmal daran gedacht hatte. Als sie sich zwar nicht hungrig zum Schlafen auf den Strohsack bettete, aber doch mit dem nagenden Gefühl eines halb leeren Magens. Wenn sich der Schlechtwetterhimmel erdrückend auf die Dächer der Stadt legte wie der Deckel eines Tontopfs und Betje fast die Luft zum Atmen nahm. Sobald der Nebel durch die Gassen quoll und eine graue Hoffnungslosigkeit ihr bis ins Mark kroch.

»Ich will nach Amerika.«

»Ich auch!«

Zacharias’ Lachen, das aus seinen Augen glänzende Kohlesplitter machte, war ansteckend. Lebhaft und warm, entlockte es auch Betje ein Lächeln.

»Ich habe schon fast das Geld für die Überfahrt zusammen«, erzählte Zacharias, überschäumend vor Begeisterung. »Aber das reicht nicht. Man kann da nicht als armer Schlucker hin, weißt du? Auch wenn das Geld dort auf der Straße liegt, musst du etwas hermachen, um es wirklich zu was zu bringen. Aber bald, bald bin ich so weit. Und dann sag ich goodbye , elendes Gängeviertel!«

In hohem Bogen schleuderte er den Apfelgriebsch in das Fleet, sodass die Tauben von den Mauervorsprüngen schwirrend aufflogen. Beiderseits der Brücke waren die Häuser so hoch, dass sie das Licht des Tages aussperrten und die Schiffer unten in den Kähnen im Halbdunkel werkeln mussten.

Zacharias wusste viel über Amerika zu erzählen. Ein weites und raues Land sollte es sein und so wild, dass es jede Schwäche unbarmherzig bestrafte. Das einzige Gesetz dort war das Gesetz des Stärkeren, und wer sich gegen alle anderen durchzusetzen verstand, wurde mit grenzenloser Freiheit belohnt, mit Macht und Reichtum. Keinen Augenblick zweifelte Betje daran, dass Zacharias es schaffen würde, so gewitzt, wie er war, so selbstsicher und wagemutig.

»Wir können ja zusammen nach Amerika fahren«, schlug er irgendwann vor.

Betje konnte nur nicken. Ihr Herz pochte heftig, während die Möwen in halsbrecherischem Sturzflug über das Fleet hinwegschossen, um dann über die Dächer aufzusteigen. Was für ein Gefühl musste das sein, die Enge hinter sich zu lassen, den Schmutz und die Not, und sich leicht und frei geradewegs in den blauen Himmel aufzuschwingen.

Hier in Hamburg war ihr das Meer so nahe wie nie zuvor in ihrem Leben, und doch blieb es unerreichbar weit entfernt.

»Spürst du das?«, fragte Zacharias. »Wie die weite Welt hier hereinschwappt und uns lockt?«

Betje sah nur, wie das schlammige Wasser dahintrieb und die Schiffer sich darin gegen die Strömung abmühten. Das rußgeschwärzte Mauerwerk und die verzogenen Balken, den Sprung in einer Fensterscheibe. Trotzdem nickte sie erneut. Das Zusammensein mit Zacharias war ihr zu wertvoll, sie wollte es nicht verderben.

Mit einem übermütigen Grinsen ging Zacharias weiter über die Brücke. Betje zögerte. Jenseits dieses Fleets war sie noch nie gewesen. Zumindest soweit sie es wusste. Zwischen den unzähligen Wasserwegen und endlosen Häuserfluchten kam sie sich in Hamburg manchmal vor wie eine Maus in einem endlosen Kornfeld.

Eine Wasserträgerin stapfte daher, angestrengt das Schulterjoch mit den beiden vollen Eimern im Gleichgewicht haltend. Unten bellten sich die Schiffer gegenseitig Anweisungen zu, fluchten und rissen Witze. Hinter einem geöffneten Fenster keiften zwei Frauen miteinander. Solange andere Leute in der Nähe waren, konnte Betje sich bestimmt in Sicherheit wähnen.

Zacharias rief nach ihr, in der Hand einen zweiten rot leuchtenden Apfel, den er irgendwo hervorgezaubert hatte. Seine dunklen Augen glommen kurz auf, bevor er den Apfel an seinen Mund drückte, wie es die Männer mit den Würfeln beim Glücksspiel taten, und ehe Betje es sich versah, warf er ihn in ihre Richtung. Betje, die ihr Leben lang bei den Ballspielen der anderen Kinder außen vor gewesen war, reckte sich danach, wider besseres Wissen. Zu ihrer eigenen Überraschung fing sie den Apfel auf, unbeholfen und beinahe über ihre Füße stolpernd. Allein ihre schmutzigen Fingernägel, die sich in das Fruchtfleisch gruben, verhinderten, dass er ihr sogleich wieder aus der Hand glitt. Aber sie fing ihn, und verblüfft lachte sie auf.

»Siehst du, ist ganz leicht«, rief Zacharias. »Sogar mit nur einer Hand!«

Eine seiner Brauen hob sich in seinem schönen fremdartigen Gesicht, auf freundliche Art listig.

»Was ist das für ein Gefühl, einfach die Hand auszustrecken und zuzupacken, wenn du etwas haben willst?«

Betjes Antwort war ein glückliches Lächeln; als ob sie weitaus mehr zu fassen bekommen hatte als einen Apfel, so fühlte es sich an. Unter dem Stundenschlag von Sankt Nikolai schloss sie zu Zacharias auf, um mit ihm zusammen mehr von der Welt zu entdecken, die Hamburg war.

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