22



Im Lampenschein lauschte Thilo in die Stille der Wohnung. Erholsam war es, am Ende eines langen Tages im Kontor hierher zurückzukehren und nach einer schnellen Mahlzeit die Beine von sich zu strecken. Wie Balsam, seitdem hier niemand mehr wütete und stritt, unter Zornestränen schmollte und mit den Türen schlug.

Trotzdem fehlten sie ihm beide, Katya genauso wie Betje. Zwei ganz und gar verschiedene Gesichter der Weiblichkeit, um die sein Leben kreiste, meist in schwindelerregendem Tempo.

Jetzt war dieses Leben abrupt zum Stillstand gekommen.

Es hätte ihm nichts ausgemacht, sich weiter um Betje zu kümmern. Aber natürlich hatte Katya recht, er musste in der Firma über den Winter mehr oder weniger allein die Stellung halten und brauchte dazu noch für die Jahresabschlüsse einen freien Kopf. Ohne dauernd die Straßen nach Betje abzusuchen oder sich zu sorgen, dass ihr etwas zustieß, bis sie von allein wieder nach Hause kam.

Über Mittag war er am Neuen Wall gewesen, wie er es alle paar Tage tat, um nach Betje zu sehen. Vollkommen vertieft war sie in das Märchenbuch gewesen, aus dem sie vorlas, langsam und stockend, aber unverdrossen. Marie, die auch mit fünf Jahren zwischen ihren Schreianfällen nur selten einzelne Wörter von sich gab, hatte mit andächtiger Miene dicht neben ihr gesessen, die überschlanken Finger ebenso selbstvergessen wie zutraulich auf Betjes Arm. Auch die neunjährige Jette war ganz Ohr gewesen, während sie an ihrem Stickmustertuch stichelte, ihre rot getigerte Katze zu den Füßen, die träge blinzelte. Eine Szene wie aus einem Kinderbuch stammend, so idyllisch und harmonisch, dass Thilo versonnen vor sich hin gelächelt hatte.

Betje war das Blut ins Gesicht geschossen, sobald sie den überzähligen Zuhörer im Türrahmen bemerkte, war dann jedoch mit strahlenden Augen auf ihn zugelaufen. Zur Begrüßung hatte sie sogar den Arm um ihn geschlungen und das Gesicht an seine Brust gedrückt. Auf eine neue Weise hatte es zwischen seinen Rippen zu flattern begonnen, sanft und stolz zugleich; so musste es sich anfühlen, Vater einer Tochter zu sein.

Thilo starrte auf den leeren Briefbogen vor sich. Kein einziges Mal hatte Betje Anstalten gemacht wegzulaufen, die ganzen drei Wochen nicht. Katya hatte ein feines Gespür dafür gehabt, was dem Mädchen guttat. Andererseits würde es ihr vielleicht wehtun, wenn sie erfuhr, dass Betje bei Christian und Henny so viel ausgeglichener zu sein schien.

Mädchen und Frauen waren ihm immer ein Rätsel gewesen. Was sie fühlten und dachten und wollten. Was sie eigentlich meinten, wenn sie etwas sagten. Er schätzte sich glücklich, in Katya die eine gefunden zu haben, die dieselbe Sprache sprach wie er. Trotzdem war mit Betje eine Seite an ihr zum Vorschein gekommen, die er nicht immer verstand.

Unschlüssig schob er den Papierbogen vor sich auf dem Tisch herum. Womöglich war es doch noch zu früh, um einzuschätzen, wie es Betje auf Dauer am Neuen Wall gefallen würde. Ein wenig Zeit hatte er ja noch. Solange Katya am Voroninvatnet war, würden Briefe sie erreichen, wenn auch mit Verzögerung. Erst danach würde es keine Möglichkeit mehr geben, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, einige Wochen lang nicht.

Sein Blick wanderte zum Fenster, in die frühe Dunkelheit hinaus. Einer jener Winterabende in Hamburg, die von Schnee und Eis nichts als zähen grauen Matsch übrig ließen. Mit einem nassen Wind, der unangenehm unter die Haut kroch und Trostlosigkeit mit sich brachte. Ein Gefühl der Verlassenheit.

Seit ihrer Hochzeit vor mehr als drei Jahren war er keine Nacht von Katya getrennt gewesen. Jetzt war das Bett entsetzlich leer ohne sie. Er vermisste den Duft ihrer Haut und ihres Haars und ihre Stimme, wenn sie sich vor dem Einschlafen an ihn drückte, die meiste Zeit des Jahres mit kalten Füßen.

Thilos Blick traf sich mit dem seines Spiegelbilds in der Fensterscheibe. Ein zweites Ich, das ihm fremd vorkam, durchscheinend blass und wie verwaschen, und ihn nicht aus den Augen ließ. Thilo wandte den Kopf ab.

Keusch war die Nähe mit Katya geworden, wenn auch nicht weniger innig. Er hätte gar nicht sagen können, wann sich diese leise Scheu zwischen ihnen eingeschlichen hatte. Es mochte an der zunehmenden Strenge liegen, die er an ihr beobachtete. An ihrer kühlen Willensstärke, die verbarg, wie sehr Betjes Verhalten ihr zusetzte. Viel zu zerbrechlich kam sie ihm inzwischen vor, als dass er sie mit seiner Lust überfallen wollte.

Sicher hatte auch der Schatten des so vergeblich ersehnten Kindes seinen Anteil, der beständig die Wand des Schlafzimmers entlanghuschte, sobald er Katyas Schulter streichelte, sie die Hand unter den Stoff seines Pyjamas schob.

An der Last enttäuschter Erwartungen trug man schwer. Selbst zu zweit.

Ein Klopfen an der Wohnungstür riss ihn aus seinen Gedanken. Vielleicht Christian, der manchmal abends am Kehrwieder nach Arno Petersen sah und danach noch auf einen Sprung bei Thilo vorbeikam. Für ein paar Worte unter vier Augen, die nichtssagend blieben; außerhalb der Firma hatte sich der gemeinsame Lebensweg der Brüder längst aufgespalten.

Verblüfft blickte Thilo den jungen Mann vor der Tür an, der die Kappe vom dunklen Haarschopf zog und höflich grüßte. Breitschultriger war er, als Thilo ihn von jenem Herbstabend in Erinnerung hatte, seine Züge prägnanter. Mit Siebenmeilenstiefeln schien er in den vergangenen drei Monaten dem Burschenalter davongeeilt zu sein.

»Zacharias. Guten Abend.«

Verlegenheit stieg in Thilo auf, nachdem in diesem Haushalt so viel über Zacharias geredet und geschimpft und gestritten worden war; wie zwei Krähen waren Katya und Betje seinetwegen aufeinander losgegangen.

Thilos Eindruck war ein anderer, nach der guten halben Stunde, die er mit Zacharias an jenem Abend über einem Kaffee zusammengesessen hatte, der bis auf wenige Schlucke unangetastet geblieben war. Ein nachdenklicher junger Mann schien er, der spürte, dass Betje oft unglücklich mit sich selbst war, und der sich deshalb ernsthaft um sie sorgte wie um eine jüngere Schwester.

Katya hatte davon nichts hören wollen, Thilo sogar diese kleine Geste der Gastfreundschaft übel genommen. Zum ersten Mal in all den Jahren, die sie sich kannten, waren sie in Streit geraten. Eine Unstimmigkeit, wegen der sie sich zwar wieder ausgesöhnt hatten, die aber nie aus der Welt geschafft worden war.

»Betje ist nicht da«, erklärte Thilo.

»Ich weiß.« Zacharias nickte. »Ich wollte zu Ihnen, Herr Petersen.«

Fragend runzelte Thilo die Stirn. Zacharias knetete zaudernd die Kappe in den schlanken Händen, obwohl um eine selbstbewusste Haltung bemüht.

»Ich habe ein bisschen Geld gespart und will damit ein Geschäft anfangen. Ein richtiges. Vielleicht könnten Sie mir ein paar Ratschläge geben? Wo Sie doch selbst ein erfolgreicher Geschäftsmann sind.«

Unwillkürlich wanderte Thilos Blick in das abendlich finstere Treppenhaus, kaum vom Lichtschein in seinem Rücken erhellt.

»Jetzt?«

Bittend sah Zacharias ihn an. »Falls es Ihnen nicht allzu viel ausmacht.«

Vor Thilo stand nicht die Natter, die sich in ein Vogelnest hineinzuschlängeln versuchte, die Katya in Zacharias sah. Wie verloren wirkte dieser junge Mann vor der Türschwelle. Durchnässt und fröstelnd auf der Suche nach einem wärmenden Leuchtfeuer, das ihm den Weg aus Kälte und Dunkelheit wies.

In der guten Stube fiel es Zacharias schwer, bei einem Tee die richtigen Worte zu finden. Erst der Wein, den Thilo ausschenkte, lockerte allmählich seine Zunge.

Von seiner Mutter erzählte er, die noch ein halbes Kind gewesen war, als sie ihn bekommen hatte. Jede Arbeit verlor sie sofort wieder und stromerte stattdessen tage- und nächtelang auf der Gasse umher, während Zacharias sich selbst überlassen blieb. Sie trank oft und viel und schlug dann blindlings zu. Im Rausch hatte sie einmal beinahe das Zimmer zur Untermiete abgefackelt; nur weil der Rauch Zacharias geweckt hatte, konnte er das Schlimmste verhindern. Nach einem Vater hatte er sich immer gesehnt, nach einem richtigen. Nicht so einer wie die groben Kerle, die seine Mutter ständig nach Hause brachte und die ihn anbrüllten und herumschubsten und prügelten. Einer hatte sogar versucht, sich an dem Jungen zu vergehen.

»Da bin ich getürmt«, raunte Zacharias heiser. »Einfach zur Tür hinausgerannt, ohne etwas mitzunehmen. Zehn war ich da.«

Das Grinsen, das auf seinem Gesicht aufflackerte, war bestimmt tapfer gemeint, geriet jedoch wackelig.

Hinter Thilos Brustbein zog es sich schmerzlich zusammen. »Und Sie sind nie wieder zurück?«

Über Zacharias’ markantes Gesicht zuckten schale Erinnerungen, widerstreitende Gefühle.

»Ab und zu. Um nach ihr zu sehen. Ihr was zu essen vorbeizubringen und so.«

Er machte eine kleine Pause und starrte in das Weinglas vor sich, einen bitteren Zug um den Mund.

»Sie hat nie gefragt, ob ich zurückkommen will«, flüsterte er. »Überhaupt, wie es mir geht. Ob ich zurechtkomme.«

Dass das Schicksal ungerecht war und oft genug die falschen traf, hatte Thilo selbst am eigenen Leib erfahren.

»Wie sind Sie denn zurechtgekommen?«

Zacharias wiegte den Kopf hin und her. »Erstaunlich gut. Sobald ich gelernt hatte, dass man dort draußen keine Schwäche zeigen darf. Dass man sich selbst der Nächste sein muss.«

Er trank einen großen Schluck Wein, wie um Mut zu schöpfen, und brauchte dann doch einige Augenblicke, um weitersprechen zu können.

»Ich bin nicht stolz darauf, wie ich mein Geld verdient hab, Herr Petersen. Ich hab geklaut und geraubt und noch Schlimmeres.« Er fuhr sich über das Gesicht, als könnte er seine Verfehlungen von sich abwischen. »Ich hab immer gewusst, dass das falsch ist. Ich hab nur keinen Weg da hinaus gefunden. Glauben Sie mir das?«

In seinen dunklen Augen, so fremdartig, so fesselnd, schimmerte es feucht.

Man musste schon blind und taub zugleich sein, um die giftigen Blüten nicht zu bemerken, die im Sumpf der Armut wucherten. Die erstickenden Schlingpflanzen, die es so schwer machten, sich dort herauszukämpfen, und manchmal sogar unmöglich. Thilo unterdrückte den Impuls, den jungen Mann tröstend bei der Schulter zu fassen.

»Natürlich.«

Zacharias’ Aufatmen klang zittrig. Unwillig und fast schon zornig rieb er sich über die Augen.

»Ich will das nicht mehr. Ich will mein Geld ehrlich verdienen und anständig leben. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Ich wusste nicht, wen ich sonst um Hilfe bitten sollte.«

»Was für ein Geschäft schwebt Ihnen denn vor?«

»Wenn ich das so genau wüsste.« Zacharias zuckte mit den Schultern. »Vielleicht irgendein Handel? Im Verkaufen bin ich ganz gut, glaube ich.«

Thilo schmunzelte, und auch Zacharias zeigte ein kleines Lächeln, das seine Grübchen tanzen ließ. Unvermittelt wurde er wieder ernst, seine Augen dunkle Brunnen. So tief, dass einem schwindelig werden konnte, blickte man zu lange hinein.

»Sie helfen mir doch, ja?«

Vor Thilo saß ein aufgeweckter und zielstrebiger junger Mann, der darum rang, seinen Platz in der Welt zu finden. Reif für sein Alter, wusste er um seine Fehler und Missetaten und sehnte sich nach Läuterung. Ihn trieb der gleiche Hunger nach mehr vom Leben um, der damals die vier Eisbarone zusammengebracht hatte. Wie hätte Thilo da Nein sagen können?

In Grundzügen umriss er für Zacharias, was er daraus gelernt hatte, im Gemischtwarenladen seines Vaters aufzuwachsen. Die bescheidenen Anfänge des Eishandels schilderte er, der lange nichts als ein verrückter Traum gewesen war. Ein Schlingern zwischen Versuch und Irrtum, über Stolpersteine und Schlaglöcher hinweg.

»Aber Sie haben es geschafft«, warf Zacharias ein.

Seine unverhohlene Bewunderung war Thilo unbehaglich, und doch fühlte er sich geschmeichelt.

»Geschafft hat man es immer nur für den Augenblick«, wehrte er dürr ab. »Wer sich auf dem Erfolg ausruht, befindet sich schon auf dem Weg in die Pleite.«

Angefeuert vom Aufglimmen in Zacharias’ Augen, entwarf Thilo beispielhafte Kalkulationen auf dem Briefbogen, der für Katya gedacht gewesen war, und holte zwischendurch neues Papier, um die Grundlagen der Buchhaltung zu skizzieren, über denen sie die Köpfe zusammensteckten.

Für einen Mann hatte Zacharias erstaunlich lange und dichte Wimpern, kohlschwarz wie sein dicker Haarschopf. Ein verwirrender Kontrast zu seinem Profil, im Zwielicht von einer gefährlichen Schärfe. Unter Zacharias’ Weinatem lagerte etwas Dunkleres, Stärkeres, wie gerösteter Kaffee und Zwiebeln, fast schon ein Hauch wie von Schwarzpulver.

Thilo riss sich zusammen und versuchte, sich wieder auf die Notizen vor sich zu konzentrieren. Doch auch Zacharias’ Blick verlor zunehmend seinen Brennpunkt; die Stirn gerunzelt, schien er sich immer weiter in sich selbst zurückzuziehen.

»Wenn Sie Fragen haben, nur zu«, sagte Thilo behutsam. »Ich erkläre es auch gern noch einmal, falls es eben zu schnell ging.«

Zacharias nickte, obwohl es den Anschein hatte, als hätte er gar nicht recht zugehört. Er holte tief Luft.

»Ich bin nicht ehrlich zu Ihnen gewesen, Herr Petersen.«

»Inwiefern?«

Zacharias’ Gesicht begann zu glühen, vielleicht nicht einmal so sehr vom Wein und der winterwarmen Stube allein.

»Ich bin nicht nur wegen des Geschäfts hier. Sondern Ihretwegen. Ich kann nicht aufhören, an Sie zu denken.«

Seine Hand, die sich auf Thilos Knie stahl, brannte durch den Hosenstoff hindurch. Erinnerungen an seine Zeit mit Grischa schlugen über Thilo zusammen. Ein Echo der Fantasien, die ihn zuweilen im Schlaf heimsuchten, während Katya ahnungslos neben ihm schlummerte und von ihrem gemeinsamen Kind träumte.

Mit einem Räuspern entzog er sich Zacharias. »Sie sind noch sehr jung. Da ist manches verwirrend.«

Zacharias’ Augen verhärteten sich.

»Ich bin neunzehn. Und ich weiß, was ich fühle.«

Als ob die Schatten an der Wand sich nach ihm reckten und ihn umschlingen wollten, so kam es Thilo vor. Die Zahlen vor ihm versprachen Halt und Sicherheit, auf dem massiven Tisch, den Katya für ihr gemeinsames Heim ausgesucht hatte.

»Ich bin ein glücklich verheirateter Mann, Zacharias.«

Eine Weile blieb es still. Umso lauter dröhnte Thilos Pulsschlag, rauschte das Blut in seinen Ohren.

»Ich gehe dann wohl besser«, hörte er Zacharias tonlos flüstern.

Wortlos stand Thilo auf, um ihn zur Tür zu bringen, und keiner sah dem anderen in die Augen.

Im Dunkel des Treppenhauses drehte Zacharias sich noch einmal um.

»Darf ich trotzdem wiederkommen?«

Загрузка...