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In Harris Schlitten wandte Katya den Kopf nach den Rentieren, die ihre kalte Fracht durch den Schnee zogen. Aus dem See herausgelöst, sah das Eis noch schöner aus, die geschnittenen Blöcke in der Sonne blinkend wie ein Mosaik aus Spiegelscherben. Katyas Herz schlug schnell und leicht, voller Stolz auf dieses Eis.

Ailos Zugtiere drängten sich neben die seines Schwiegervaters, und Grischa stemmte sich im Schlitten in die Höhe. Der Fahrtwind zerrupfte, was er und Harri sich gegenseitig zuriefen. Katya verstand jedoch die Art zu deuten, mit der Grischa den Kopf nach links und rechts neigte, wie um ein Spannungsgefühl abzuschütteln. Die Geste, mit der er sich den Nacken rieb, die Sorgenfalte zwischen den Brauen.

Katyas Blick wanderte an den Himmel, das leuchtende Blau des Nachmittags kaum getrübt von faserigen Wolkenbändern. Harri hatte davor gewarnt, dass das Wetter hier schnell umschlug. Daran geglaubt hatte wohl niemand mehr, verwöhnt von den strahlenden Tagen und klirrend klaren Nächten.

Ailo mischte sich ein, und jetzt wehten Wortfetzen zu Katya heran. In voller Fahrt debattierten sie zu dritt, wie schlimm es wohl werden würde und ob es sicherer wäre, ein Lager aufzuschlagen oder einfach weiterzufahren. Weniger als zwei Tagesreisen waren es noch bis zum Fjord und seinen Berghängen, in das geschützte Nest der Siedlung.

In der weiten Ebene gab es wenig, was ihnen Schutz bot. Harri zögerte ihren Halt so lange hinaus, bis eine Gruppe von Felsen in Sicht kam. Zu niedrig und zu locker verstreut, um Mensch und Tier vor dem Toben der Elemente komplett abzuschirmen, aber besser als nichts. Da pfiff ihnen der Wind schon um die Ohren und schleuderte ihnen nadelspitze Schneekristalle in die Augen.

Während sie mit geübten Handgriffen Zelte aufstellten und das kostbare Brennholz ins Trockene brachten, walzten sich bleierne Wolken über das Land und verschluckten die Sonne. Die Rentiere befreiten sie von ihrer Last und trieben sie zu einem wärmenden Kreis zusammen, taub vom Heulen des Windes und schon in einem dichten Schneetreiben, das ihnen die Sicht nahm.

»Wie lange wird der Sturm anhalten?«, fragte Katya, in einem der Zelte am kleinen Feuer zusammengekauert.

Grischas Blick war in sich gekehrt, als lauschte er sowohl in das Tosen hinaus als auch in sich hinein.

»Kommt darauf an«, antwortete er schließlich. »Wie schnell er sich selbst verzehrt. Sicher nicht vor morgen.«

Liebevoll fuhr er Katya über die Wange.

»Versuch zu schlafen. Das ist das Einzige, was wir momentan tun können.«

Mit einem tiefen Atemzug streckte er sich aus, so gut es ging. Nicht einmal die Hälfte der mitgeführten Zelte konnten sie aufstellen, ehe der Sturm zuschlug. Raum war Luxus, aber die drangvolle Enge würde sie warm halten, säßen sie länger hier fest.

Sie sah zu Harri, in der Hoffnung auf tröstliche Zuversicht, eine beruhigende Entschlossenheit. Nichts davon zeigte sich auf seinem Gesicht. Wie er mit Bihto und Ville am Feuer saß, erinnerten sie an drei Weise, die das Gewicht der Welt auf ihren Schultern trugen.

Wie bereitete man sich auf das vor, was zwar drohend in der Luft lag, dann aber doch unvorhergesehen über einen hereinbrach? Auf das Unwägbare, Unkontrollierbare, Übermächtige?

Vielleicht wie Johann, der in seine Notizen vertieft war und so seine eigene Art von Ordnung in das Chaos brachte. Mit einer Routine, die ebenso abgeklärt wie schicksalsergeben wirkte.

Sobald man eine arktische Welt betritt, hatte er einmal gesagt, kann eine Menge schiefgehen.

Bestimmt hatte er mehr Schneestürme gesehen und überstanden als sie alle zusammen.

Mit einem aufmunternden Nicken in Katyas Richtung steckte er sein Notizbuch ein und murmelte eine Entschuldigung, weil er Bihto aus Versehen anstieß, als er sich halbwegs bequem zurechtbettete.

Katya tat es ihm gleich und suchte dabei unwillkürlich Grischas Nähe. Im Halbschlaf legte er den Arm um sie und drückte sie an sich. Wie er es schon getan hatte, als sie beide Kinder gewesen waren, aneinander Halt suchend und Trost findend.

Trotzdem konnte sie den Sturm nicht ausblenden, der um das Zelt herum kreischte und brüllte, auf die Planen aus Tierhaut einprügelte und daran riss. Ein eiskalter Drache, der ihnen zürnte, weil sie seinen glänzenden Schatz gestohlen hatten.

Der Tod kam lautlos im tosenden Sturm. Als die Sonne sich endlich durchkämpfte und sich eine begütigende Stille über die Ebene legte, hatte der Wind schon alle Antworten mit sich fortgetragen.

Nichts als Fragen blieben im frischen tiefen Schnee.

Was es gewesen war, das Tore nach draußen gezogen hatte, in den Schneesturm hinein, in dem man kaum die Hand vor Augen sah. Ob er geglaubt hatte, in der Enge des Zelts verrückt zu werden, oder seine Notdurft verrichten wollte oder aus irgendeinem anderen Antrieb. Tore, ausgerechnet Tore, das Stadtkind, unerfahren mit den wüsten Wintern jenseits der Berge. Weshalb Mokci niemanden geweckt hatte, als er ihn suchen ging, gegen jede Erfahrung und wider besseres Wissen. Warum sie das letzte Stück zurück ins sichere und warme Lager nicht mehr geschafft hatten, bevor ihnen die Kälte das Leben aus den Adern sog.

Arm in Arm wie Brüder, so hatten sie die beiden gefunden. Eisverkrustet und die Gesichter vom Frost verbrannt, Mokci bis zuletzt der Hüter über den Mann seiner Schwester, so hatte es ausgesehen.

Die Pulkas, die Lastenschlitten, wurden zu Bahren, die triumphale Rückkehr in den Fjord ein Trauerzug.

Nachdem Harri mit dem Leichnam seines Sohnes vorausgefahren war, Ailo mit dem seines jungen Schwagers, empfing sie kein großes Wehklagen. Das entsprach den Leuten im Fjord nicht. In geisterhaftem Schweigen trafen sie auf abgewandte Blicke aus geröteten Augen, auf Umarmungen, die Katya, Grischa und Johann außen vor ließen. Die Unheilsbringer.

Nur die Hunde heulten ihre Trauer zum Himmel hinauf.

»Ich kann das nicht weiter verantworten«, erklärte Harri spät an diesem Abend, seine Stimme brüchig.

Er war gealtert in diesen paar Tagen, das helle Haar fahl, tiefe Rinnen um den Mund und die Augen von verschossenem Blau.

Allein saßen sie mit ihm am Tisch. Während die Frauen sich zurückgezogen hatten, um Birra, Erva und Jaska Halt und Stütze zu sein und die Kinder zu trösten, bereiteten die Männer das Begräbnis vor, tapferer Krieger würdig, die in der Schlacht gefallen waren.

Für Katya und Grischa gab es darin keinen Platz, auch für Johann nicht. Nach all den Jahren waren sie wieder zu Fremden geworden.

»Die Gefahren, die im Eis lauern, sind kein Geld der Welt wert«, sprach Harri weiter. »Bei aller Freundschaft nicht.«

Katya schwieg. Es gab nichts, was sie hätte sagen können.

Birra und Harri hatten ihren Sohn verloren, Erva und Jaska ihre Männer. Der fünfjährige Morten würde ebenso ohne seinen Vater aufwachsen wie der kleine Jonne, der noch nicht einmal alt genug für eine bleibende Erinnerung an Tore war.

Der Schmerz, der sich durch die Gemeinschaft im Fjord fraß, war jenseits aller Worte.

»Nehmt euer Eis und geht.«

Katya nickte. »Die Albatros wird spätestens in ein paar Tagen wieder hier sein.«

Ohne ihr ins Gesicht zu sehen, schüttelte Harri den Kopf.

»Ailo wird euch gleich in der Früh nach Bergen bringen.«

»Ich bleibe«, beharrte Grischa.

Wortlos starrte Harri vor sich hin. Dann stand er auf, zog seine Jacke über und ging hinaus, mit den müden Schritten eines alten Mannes.

Die Stille danach war quälend.

»Versteht ihn nicht falsch«, begann Johann nach einer Weile behutsam. »Das ist seine Art zu trauern. Im Grunde weiß er, dass niemand daran Schuld hat. Am wenigsten ihr. Er macht sich selbst die größten Vorwürfe, Tore überhaupt mitgenommen zu haben. Wegen seiner Entscheidung, ein Lager aufzuschlagen, anstatt durch den Sturm hindurchzufahren, und daran trägt er schwer. Gebt ihm etwas Zeit.«

Seine Hand legte sich auf Katyas.

»Fahr nach Hause. Lass die Wunden heilen. Wir kümmern uns hier um alles, Grischa und ich. Nicht nur deshalb, damit ihr auch weiterhin an euer Eis kommt.«

Dieses eine Mal machte es Katya nichts aus, den Männern das Feld zu überlassen. Für den Augenblick war es ihr egal, was aus den beiden Seen und deren Eis werden würde. Sie wusste nicht, wie sie den Fjordleuten jemals wieder unter die Augen treten konnte, ohne von ihrem Schuldgefühl überrollt zu werden.

Nach einer schlaflosen Nacht dämmerte der Tag trübe herauf, der Himmel bleich wie Knochen. Trotz ihrer warmen Kleidung fröstelte Katya, die am Ufer stand und darauf wartete, dass Ailo einen der Kähne aus dem Winterschlaf holte.

»Waren wir zu gierig?«, flüsterte sie in den Wind hinein.

Grischa sah sie überrascht an, bevor sein Blick in die Ferne wanderte, zu den verschneiten Hängen beiderseits des Fjords. Ungeachtet seines stürmischen Wesens kamen seine Antworten nie aus dem hohlen Bauch heraus, nahm er die Dinge selten auf die leichte Schulter.

»Sie wussten um die Gefahr«, gab er zu bedenken. »Sie leben damit seit vielen Generationen. Mit der Wucht von Eis und Schnee in den langen Wintern, mit Unwettern und Blitzschlägen auf den Weiden des Sommers. Ein Leben in Sicherheit wird es nie geben. Schon gar nicht hier.«

Katyas Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Für Tore. Für Mokci. Für all die Menschen hier, denen so viel genommen worden war, an Liebe, an Glück, an gemeinsamer Zeit. Einer Zukunft beraubt, die sich gerade erst am Horizont abgezeichnet hatte.

»Harri hat recht. Das ist es nicht wert.«

»Für uns hätte es auch anders ausgehen können. Immer schon.«

Katya nickte, das wusste sie. Ihr langer Weg vom großen See in Russland, nach Norden und bis ans Ende der Welt, hätte jederzeit ein jähes Ende nehmen können, hätten sie nicht immer wieder das reine Glück auf ihrer Seite gehabt.

»Trotzdem ist es ein Unterschied, ob man sein eigenes Leben aufs Spiel setzt oder das anderer. Unser Geschäft mit dem Eis sollte keine Menschenleben kosten. Dafür ist jeder Preis zu hoch.«

»Willst du lieber wieder für Fritz Bergmann Tischtücher nähen und besticken?«

Hinter den Häusern der Siedlung lagerte das Eis, das ein so großes Leid über die Gemeinschaft gebracht hatte, bereit, um auf der Albatros nach Hamburg verschifft zu werden. Für dieses Jahr war der Handel gesichert. Was danach kommen mochte, war unsicher wie nie; auch die Zukunft der Eisbarone war im Schneesturm verweht.

»Es muss noch einen anderen Weg geben.«

»Lass es mich wissen, wenn du etwas gefunden hast, mit dem wir ebenso gutes Geld verdienen können.«

Zum ersten Mal standen sie auf verschiedenen Seiten, Bruder und Schwester, Herausforderung im Blick. Es war Grischa, der als Erster nachgab und die Kluft zwischen ihnen überwand, indem er Katya in seine Arme schloss.

»Hab eine gute Fahrt«, murmelte er an ihrer Schläfe, wie entschuldigend. »Ich komme nach, sobald ich kann.«

Seine Reise würde nicht direkt nach Hamburg führen, sondern erst weiter in den Norden; jetzt war die Zeit dafür gekommen. Ruhiger schien er geworden, seit Elli, seit Aurora. Seitdem er wusste, dass er einen Sohn mit Silja hatte. Vielleicht nur die Ruhe vor dem Sturm, wer wusste das bei Grischa schon zu sagen.

Zärtlich strich Katya ihrem Bruder über die Wange.

»Grüß Silja von mir. Und Magnus.«

Sie bückte sich nach ihrem Gepäck, das spärlich war und doch so schwer wog wie ihr Herz. Der Gedanke, womöglich nie wieder hierher zurückzukehren, zu den Leuten im Fjord und zu ihrer Hütte am See, war unerträglich. Dennoch trugen ihre Stiefelschritte sie schnell zum Wasser und in den wartenden Kahn. Sie wollte nach Hause, zu Thilo und zu Betje. Um sich vor den Schrecken und dem Unglück dieses Winters zu verstecken und all das zu beweinen, was verloren war.

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