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Katya rannte über die Brooksbrücke, doch gleich dahinter musste sie gegen die kreuz und quer umherirrenden Menschen ankämpfen, die ihr entgegenströmten, beladen mit Säcken und Taschen, eine Kommode auf den Schultern, ein gerahmtes Gemälde unter den Arm geklemmt. Unter den Rufen, den panischen Schreien war immer wieder Klirren zu hören, wenn etwas zu Bruch ging. Wer zu schwer zu schleppen hatte, warf seinen Ballast einfach an Ort und Stelle ab. Die Gasse war vollgestopft mit Schränken, Tischen und Stühlen, die ein Vorwärtskommen genauso erschwerten wie ein Umkehren. Dazwischen waren Fuhrwerke und Karren liegen geblieben, die ein Rad verloren hatten oder einfach unter ihrer Last zusammengebrochen waren, aufgescheuchte Hunde und Katzen liefen einem zwischen den Beinen herum, und Ratten.

Noch vor dem Ende der Mattentwiete stellte Katya fest, dass sie den Speicher nicht auf dem Weg erreichen würde, den sie hatte nehmen wollen. Einen Augenblick blieb sie stehen und sah über das Nikolaifleet hinweg direkt in das Herz der Hölle.

Wie ein schweres Gewitter war es, das auf der Stadt lag und Funken und Glut herabregnen ließ. Unter finsteren Rauchwirbeln zersprengte das Feuer Fensterscheiben und schoss in lodernden Fontänen aus den Häusern. Flammen leckten über die Dächer und zum Himmel hinauf, bevor das verkohlte Haus beim nächsten Wimpernschlag in sich zusammensackte und nichts als glosenden Schutt übrig ließ. Wie kleine Teufel glommen überall Flämmchen auf, tanzten durch die Luft und sprangen von Haus zu Haus, zündelten an den Holzpfeilern des Fleets, in dem sich hoffnungslos überladene Kähne ineinander verkeilt hatten und die Schiffer sich gegenseitig anbrüllten.

Das Schlimmste waren die Geräusche, das boshafte Knistern und Prasseln, ein bedrohliches Rauschen. Und der Geruch, nicht nur nach kokelndem Holz, sondern nach der Asche vollkommener Vernichtung.

Katya bog in die Katharinenstraße ab, wo die Bewohner ihre Dächer mit Wasser aus Eimern übergossen, und drängte sich dann zwischen den Menschen auf der Reimersbrücke hindurch. Ein Lächeln zuckte kurz auf ihrem Gesicht auf, als sie sah, dass wenigstens Sankt Katharinen noch stand, ihr Turm von einer Brandspritze vorsorglich nass gehalten.

Im nächsten Augenblick schrie sie auf, als eine Hand sie packte und zurückriss. Erschrocken starrte sie in Christians Augen, blau funkelnd vor Zorn.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, herrschte er sie an.

»Lass mich!«

Sosehr sie auch ruckte und zerrte, er ließ sie nicht los, packte nur fester zu. Erst als sie ihn vor das Schienbein trat, bekam sie sich frei und stolperte weiter, links und rechts an den ihr entgegenhastenden Menschen vorbei. Unwillig den Kopf schüttelnd, um Christians Stimme auszublenden, der ihren Namen brüllte.

Urplötzlich war der Weg vor ihr offen, da riss Christian erneut an ihrem Arm, dass ein stechender Schmerz durch ihre Schulter jagte.

»Herrgott, Katya, nimm doch Vernunft an! Du rettest den Speicher nicht mehr!«

Aus dem Augenwinkel konnte sie die Flammenwalze erkennen, die sich unerbittlich durch die Stadt fraß, über das hinweg, was einmal Sankt Nikolai und der Hopfenmarkt gewesen waren, und Verzweiflung schlug über ihr zusammen.

»Aber das Eis! Das Eis, Christian!«

»Das Eis wird es überstehen, sogar noch in der Hitze. Hast du mir nicht immer erklärt, dass Eis eine Ewigkeit hält, wenn nur genug davon da ist, auch unter sengender Sonne und im Feuer?«

»Nicht in dieser Hölle!«

Wie in einem Ofen waberte die Luft über ihre Haut und hinterließ einen öligen Film.

»Es ist zu heiß, Christian.« Katya bemerkte selbst, wie sich ihr Gesicht zu einer Fratze verzog, als sie zu weinen begann wie ein kleines Kind. »Und spätestens danach wird es schmelzen, danach wird nichts mehr da sein, was es davor schützt, sich einfach aufzulösen. Ich kann doch nicht zusehen, wie wir unser Eis verlieren.«

Es ging nicht um das Eis. Es ging um sie selbst, ohnmächtig und haltlos, wie sie sich fühlte, seit Pawel nicht mehr da war. Seit ihr Leben, wie sie es gekannt hatte, in Trümmern lag.

»Es tut mir leid, Katya. Es tut mir unendlich leid, was ich getan habe. Aber Pawel hat sich nun einmal dafür entschieden, das Geld zu nehmen.«

Katya schlug zu, so fest sie konnte, und als Christian nicht reagierte, nur ein Muskel in seinem Gesicht zuckte, gleich noch einmal.

Weg da! Weg da! Durch den dicken Rauch, der sich erstickend auf die Lunge legte, drangen energische Männerstimmen zu ihnen hindurch.

»Henny bekommt gerade unser Kind«, presste Christian zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und mir fällt nichts Besseres ein, als dir durch die halbe Stadt nachzulaufen, damit du nicht im Feuer umkommst. Gibt dir das gar nicht zu denken?«

»Armer Christian«, spottete Katya unter Tränen. »Du weißt ja immer genau, was das Beste ist, trampelst dabei auf allen herum und verstehst nicht, dass dich niemand dafür lobt!«

Christian packte so hart zu, dass er ihre Armknochen unter den Fingern fühlte. Er wollte sie schütteln, sie anbrüllen, damit sie ihm vergab. Sie bei der Hand nehmen und mit ihr durch das Feuer springen, in einen anderen Tag hinein.

Haut ab!

Schemenhaft nahm Christian die Umrisse zweier Männer wahr, ihre ruckartigen Armbewegungen von wütender Entschlossenheit. Aus reinem Instinkt heraus zerrte er Katya mit sich wie ein störrisches Maultier, so laut sie auch schrie und die Fersen in den Boden stemmte; beinahe genoss er es, der Stärkere zu sein und ihr wehzutun. Aus brennenden Augen konnte er dunkle und massive Konturen erkennen, vielleicht ein auf der Gasse stehender Schrank, es war ihm egal. Er schaffte es gerade noch, Katya dahinter zu Boden zu stoßen und sich über sie zu werfen, bevor ein lauter Knall die Luft zerriss und die Wucht der Sprengung ihnen um die Ohren flog, Steinchen, lose Latten und Metallsplitter auf sie einprasselten.

Ich habe doch immer nur dich geliebt , ging es ihm verzweifelt durch den Kopf.

Angespannt knabberte Betje an einem Fingernagel. Auf seinen Stock gestützt, stand Arno Petersen im Türrahmen und betrachtete mit ernster Miene Henny, die gekrümmt und stöhnend auf Katyas Bett lag. Thilo war bei ihr und hielt ihre Hand, die beiden Mädchen hatte Jordis nach unten in die Wohnung geholt und wollte sie solange beschäftigen.

»Mindestens zwei Stunden, sagst du?«, brummte Arno.

Hanno nickte und wischte sich mit dem Hemdsärmel über das schweißnasse Gesicht, völlig außer Atem war er.

»Fiete steht unten und hält Ausschau, falls der Doktor es doch früher schafft. Sind einfach zu viele Verletzte.«

Wenn er überhaupt kam, schien sein Gesicht zu sagen.

»Auch keine Hebamme zu fassen gekriegt? Keine von den Nachbarinnen?«

Hanno schüttelte betreten den Kopf. Arno gab einen missbilligenden Laut von sich.

»Ist bei meinen Jungs zwar schon eine Weile her, aber das dauert hier sicher keine zwei Stunden mehr. War einer von euch schon mal dabei, wenn ein Kind kommt?«

»Die Tante hat uns immer rausgeschickt«, erklärte Betje.

Hanno schluckte. »Nur bei Kälbern und Lämmern.«

Arno nickte entschlossen und schlug ihm auf die Schulter. »Wird’s tun.«

Während Thilo sich um einen beständigen Nachschub an heißem Wasser kümmerte, stützte Arno Petersen seine Schwiegertochter im Rücken. Betje, die Henny mit einem feuchten Tuch die Stirn abwischte, konnte nur über Hanno staunen. Als hätte er das schon ein Dutzend Mal gemacht, kniete er zwischen Hennys angezogenen Beinen, tastete fachmännisch auf ihr herum und sprach liebevoll mit ihr. Ab und zu riss er sogar einen Witz, der Henny zwischen zwei Wehen in einem Auflachen nach Luft schnappen ließ.

Wäre da nur nicht immer der Gedanke an Katya gewesen, der Betjes Blick furchtsam zum Fenster wandern ließ. Zu den wabernden schwarzen Wolken, dem unheimlich glühenden Widerschein.

Bitte, lieber Gott. Mach, dass Katya nichts geschieht.

Beinahe hätte sie den Moment verpasst, in dem das Kind herausflutschte, in Hannos Hände hinein.

Ein Menschlein, so neu, dass die Haut noch ganz dünn war und wie von Politur glänzte und trotzdem Falten mit der Würde alter Jahre warf. Der rote Mund war trotzig aufgeworfen, die Stirn zornig gefurcht, der erste Schrei eine unmissverständliche Verkündung.

Ich bin hier!

»Halt mal kurz«, hörte sie Hanno sagen, während Henny an der Schulter ihres Schwiegervaters weinte. »Ich muss mich um Nabelschnur und Nachgeburt kümmern.«

Gehorsam rutschte Betje herüber und ließ sich das Neugeborene in die rechte Armbeuge legen, obwohl sie zitterte vor Angst, es fallen zu lassen. Dieses zerbrechliche Leichtgewicht, das doch so schwer wog. Im überwältigenden Geruch von Blut und Schweiß und Schleim und Rauch, der dick im Raum stand, band Hanno die Nabelschnur mit Zwirn ab und durchtrennte sie mit Katyas Stoffschere. Ein Rettungsseil, das dieses Kind nun nicht mehr benötigte. Mit offenen Armen schien es die Welt zu begrüßen, seine Miene voller Stolz, eine eigene kleine Person zu sein.

Mit großen Augen und offenem Mund besah Betje sich dieses neue Leben, das sich auf ihrem Arm regte, ein seliges Flattern in ihrem Bauch.

In Unterhemd und Unterrock kauerte Katya benommen auf dem Sofa ihrer guten Stube, ein Klingeln in den Ohren, Mund und Kehle wie mit Sand gefüllt, obwohl sie sich dunkel an Wasser in großen Gläsern erinnerte, das sie hinuntergestürzt hatte. Genauso vage war die Erinnerung daran, wie Christian ihr aufgeholfen hatte und sie sich aufeinander gestützt zurückschleppten, das Feuer hinter ihnen ein zornig brüllender Drache, dessen Hitze an ihnen leckte, mit glühenden Speicheltropfen Löcher in ihre Kleider und die Haut darunter sengte. Christians heisere Rufe im Treppenhaus hatten Thilo herabeilen lassen, der Katya die restlichen Stufen getragen hatte, während Betje nebenherlief und immer wieder fragte, ob ihr etwas wehtat.

Alles tat ihr weh, und gleichzeitig war alles wie taub.

Jetzt sog sie doch scharf die Luft ein, als Thilo eine Schramme in ihrem rußverschmierten Gesicht mit einer beißenden Flüssigkeit betupfte.

»Entschuldige.«

Das verstauchte Handgelenk hatte er ihr bandagiert, was mit dem blauen und auf die Größe einer Sellerieknolle angeschwollenen Knöchel war, musste der Doktor sich ansehen. Sofern er jemals kam.

»Du hättest einen guten Arzt abgegeben.«

»Mhm«, murmelte Thilo und widmete sich einer Brandblase an ihrem Hals. »Wäre ich auch gern geworden, wir hatten nur kein Geld dafür. Ich bin aber auch als Geschäftsmann zufrieden.«

Er nahm ihre Hand und drehte ihren Arm hin und her, um weitere Blessuren zu entdecken, die einer Behandlung bedurften. So nahe waren sie einander eine Ewigkeit nicht mehr gewesen.

Er fing ihren Blick auf und hielt ihn fest. »Ich hatte große Angst um dich.«

Katya nickte zittrig. Tränen schossen ihr in die Augen.

»Das war dumm von mir.«

»Eine kluge Frau darf auch einmal töricht sein.«

Ein kleines Lächeln entfaltete sich zwischen ihnen. Lange sahen sie einander in die Augen, forschend, fragend, tastend. Mit einem tiefen Atemzug legte Thilo die Hände um ihr Gesicht und seine Stirn an ihre.

»Auch wenn ich dir kein guter Ehemann gewesen bin … Auf einer Welt, in der es dich nicht gibt, möchte auch ich nicht sein.«

Wortlos überließen sie sich der behutsam flüsternden Ahnung, dass das zwischen ihnen größer und stärker sein konnte als reine Lust und Begehrlichkeiten. Etwas Unbezwingbares, Unauslöschliches, das zu kostbar war, um es leichtfertig aufzugeben.

»Komm nach Hause, Thilo«, wisperte Katya irgendwann, und als er nickte, schlug ihr Herz leicht und frei.

Eine Bewegung am Rand ihres Gesichtsfelds ließ sie aufblicken. Christian war es, der mit seiner neugeborenen Tochter auf dem Arm im Flur auf und ab ging, ähnlich verrußt und blutverschmiert wie Katya und von Hanno nach Thilos Anweisungen notdürftig verarztet. Unschlüssig blieb er jetzt stehen. Erst auf einen kleinen Wink Katyas hin trat er ein und legte ihr das Bündel in die Arme.

Lächelnd vertiefte sich Katya in den Anblick des Neuankömmlings. Einen lichten Flaum auf dem Köpfchen wie der einer Aprikose, spiegelte sich in dem noch so frischen Gesicht die Ähnlichkeit mit Arno, Thilo und Christian wider. Eine kleine Petersen, durch und durch, bis hin zu dem entschlossenen Zug um den Mund, der zweifelnden Skepsis, mit der die opalhellen Augen Katya musterten; zwischen den Tuchfalten lugte eine geballte Faust hervor.

»Eine Kämpferin bist du«, flüsterte Katya. »Wolltest unbedingt auf die Welt kommen, gegen jede Wahrscheinlichkeit. Jetzt schon eine Draufgängerin, mitten im Feuer geboren. Deine Eltern können sich auf was gefasst machen.«

»Wir wollen sie Cathrin nennen«, sagte Christian, nicht nur heiser vom Rauch.

Katya nickte. Ein Friedensangebot, das war nicht misszuverstehen.

Sie hob den Blick zu Christian, der ihr heute wohl das Leben gerettet hatte, vielleicht waren sie damit quitt. Vergessen würde sie trotzdem nie, das wusste auch er, sie sah es in seinem Blick.

Fast förmlich und wie anerkennend nickten sie einander zu, der fehlgeleitete Ritter und seine schöne Dame ohne Gnade. Dann ging Christian, um nach Henny zu sehen, die nicht aufhören konnte zu weinen. Weil dieses Kind, das es nie hätte geben sollen und ihr eine solch schockierend leichte und schnelle Geburt beschert hatte, nicht nur wieder ein Mädchen war, sondern dazu noch mit einem hässlichen Mal am Hals gestraft.

Im schummrigen Laternenlicht des Treppenhauses saß Betje auf den Stufen, den Kopf an die Streben des Geländers gelehnt. Der einzige Ort gerade, an dem sie allein sein und ihren Tränen freien Lauf lassen konnte. Viel zu viel war heute auf sie eingestürmt, hatte sie überwältigt und aufgewühlt und erschöpft. Und noch immer brannte Hamburg, mit Einbruch der Dunkelheit ein solch schauriger Anblick durch die Fenster, dass sie froh war, ihm hier entfliehen zu können.

Hinter sich hörte sie Schritte die Treppen herunterspringen, hastig wischte sie sich über das Gesicht und richtete sich auf. Hanno war es, der sich neben sie setzte, eine Flasche und zwei Schnapsgläser in den Händen.

»Ich hab dich überall gesucht«, sagte er vergnügt. »Arno Petersen gibt uns einen aus. Er findet, du bist schon alt genug dafür.«

Während er ihnen eingoss, warf er ihr einen Blick zu. »Ist es wegen des Feuers?«

Der scharfe Dunst aus dem Glas trieb ihr erneut Tränen in die Augen. »Ja. Nein. Auch.«

»Du brauchst keine Angst zu haben«, versprach er. »Wir sind hier weit genug weg. Außerdem wacht Störtebekers Geist über den ganzen Grasbrook. Hat Pawel einmal erzählt.«

»Wo er wohl hin ist?«, fragte Betje betrübt, sie vermisste Pawel und fast mehr noch Pies.

Hanno zuckte mit den Schultern. Die Werkstatt leer vorzufinden war auch für ihn ein harter Schlag gewesen. Am nächsten Tag hatte er umso energischer die Kisten im Laden umhergewuchtet, bis seine Wut verraucht gewesen war.

»Wird das immer so sein«, murmelte Betje, ein Schluchzen in ihrer Kehle festgeklemmt, »dass die Leute, die man mag, einfach weggehen?«

Hanno drehte das Schnapsglas in seinen Fingern. Manchmal dachte er noch an seine Schwester Frauke, auf die gleiche Weise, wie er an seine Mutter dachte. Liebevoll und ein bisschen traurig, als jemand, der einmal zu seinem Leben gehört hatte, bis er ihn gehen lassen musste, weil das der Lauf der Dinge war. Manche Abschiede waren endgültig, manche Verluste unwiederbringlich.

»Ich nicht«, sagte er jetzt im Brustton der Überzeugung. »Ich bleibe. Für immer.«

»Aber wenn morgen nichts mehr von Hamburg übrig ist?«

»Irgendetwas bleibt immer übrig. Und irgendwer muss die Stadt doch wieder aufbauen, und diese Leute brauchen dann auch was zu essen.«

Mit einem feinen Klingen stieß sein Glas an das Betjes.

»Vergiss nicht, du und ich haben heute ein Kind auf die Welt geholt!«

Beide stürzten sie den Schnaps hinunter. Hanno keuchte auf und hämmerte sich mit der Faust aufs Brustbein, während Betje mit wässrigen Augen erstickt hustete. Ihre Kehle fühlte sich verätzt an, aber die glühende Spur, die der Schnaps durch sie hindurchzog, bevor er warm im Bauch landete, mochte sie. Noch mehr dieses weiche Gefühl, das sich bald darauf in ihrem Kopf einstellte.

»Weißt du, was ich heute gedacht habe?«, flüsterte sie nach einer Weile, wie verschämt, überhaupt solche Gedanken zu haben. »Wenn ich je ein Kind kriege … Wie soll ich das denn versorgen, mit nur einem Arm?«

»Na ja«, meinte Hanno sachlich, »das Kind wird ja auch einen Vater haben.«

»Aber wenn der mich nicht mehr will, sobald das Kind da ist?«

»Dann bin ich ja auch noch da.«

Betje musste aufstoßen. »Was sagt dann deine Frau dazu?«

Hannos Gesicht wurde heiß.

Er musste an Lotte denken, die im Laden immer die Besorgungen für ihre Großmutter machte, weil die ein offenes Bein hatte. Lotte war irrsinnig hübsch, die grünen Augen strahlend im herzförmigen Gesicht, die Zöpfe unter der Haube glatt und glänzend wie die Kastanien im Herbst. Lustig war sie, ein ganz famoses Mädchen. Warum hätte er nicht mit ihr am Wasser spazieren gehen sollen, mal am Sonntag, mal nach seinem Feierabend, vorletzten Sommer, als Betje noch fort gewesen war.

Du küsst gut , hatte Lotte in dem dunklen Winkel unter der Treppe gehaucht. Magst du noch mit hochkommen? Meine Mutter kommt erst spät, ihre Herrschaft hat Gäste.

Ihr Finger, der unter seinem Hemdkragen entlangstrich, hatte ihm wohlige Schauder über den ganzen Körper geschickt.

Natürlich war er versucht gewesen, die Wölbungen unter Lottes Bluse weich an seiner Brust, ihre Hüfte anschmiegsam unter dem Rock. Trotzdem hatte er sie losgelassen und verlegen den Kopf geschüttelt, er hatte an Betje denken müssen.

Ist sie hübscher als ich? , hatte Lotte mit weiblichem Spürsinn erraten, den Kopf schräg gelegt.

Eine jener Fangfragen, die Mädchen so gern stellten und bei denen man als Mann nur verlieren konnte. Nach gewöhnlichen Maßstäben war Lotte bestimmt hübscher als Betje, aber Betje war eben Betje, deshalb hatte er geschwiegen.

Ich hoffe, sie ist es wert, hatte Lotte dann gesagt, ihn auf die Wange geküsst und war die Treppen hinaufgesprungen. Hanno hatte geseufzt, sich verstohlen die Hose bequemer zurechtgezogen und war mit glühenden Ohren nach Hause gegangen, aber mit reinem Gewissen.

Er wandte den Kopf. Betje sah ihn noch immer an und wartete auf seine Antwort, ihre Wimpernbögen wie Kupferspäne, die Sommersprossen so dicht, dass ihre Haut im Lampenschein geheimnisvoll schimmerte.

Hanno beugte sich vor und legte seinen Mund auf ihren. Das Erstaunen in ihren Augen sprang auf ihn über, als sie diesen Kuss erwiderte, ihre Zungenspitze ihm sogar entgegenkam, und hinter dem Schnapshauch schmeckte sie genau so, wie er es sich immer vorgestellt hatte, als würde er nach einem heftigen Regenguss durch einen sonnigen Wald laufen.

Mit einem tiefen Atemzug löste er sich von ihr und strich ihr mit dem Zeigefinger über die Wange.

»Mehr hab ich dazu nicht zu sagen, Betje Hermanns«, flüsterte er.

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