21



Wie aus dem Stoff dieser Winternacht geschnitten, wachten die Berghänge über die Siedlung im Fjord, die jedes Jahr um ein oder zwei Häuser gewachsen war. Durch den Schnee wirkte der Widerschein aus den Fenstern noch heimeliger. Bis weit in die Nacht hinaus waren die Gesänge der Männer am Kaminfeuer zu hören, mühelos konnte Katya Harris volltönenden Bass ausmachen, Mokci ein geschmeidigeres Echo seines Vaters. Es war eine Ehre, dass Grischas Stimme sich darunter mischen durfte, tief und angenehm rau. Althergebrachte Lieder für die Jagd waren es, obwohl es morgen früh ins Eis gehen würde.

Nach zehn Jahren waren die Leute im Fjord längst Freunde geworden. Trotzdem hatte Katya sich davongestohlen, gleich nach dem Festmahl, jedes Jahr gleichermaßen Begrüßung und Stärkung für die kommenden Wochen.

Das Knirschen des Schnees unter ihren festen Stiefeln begleitete ein zweites, schwereres Paar Schritte.

»Willst du mir erzählen, was dich bedrückt?«, fragte Johann Silberberg in seiner deutschen Mundart, die behäbig geblieben war, obwohl er seiner Heimatstadt Mainz vor langer Zeit den Rücken gekehrt hatte.

Ihm war nichts vorzumachen, dafür war seine Beobachtungsgabe zu scharf. Vor allem kannten sie einander viel zu gut, seit Katya ein wissbegieriges Mädchen von dreizehn Jahren gewesen war.

»Hattest du je das Gefühl, voll und ganz versagt zu haben, Johann?«

»Fortwährend, liebe Katya. Die Wissenschaft von Eis und Schnee ist keine, die Ruhm oder Reichtum einbringt. Zumindest nicht, solange man damit nicht den Nordpol erobert.«

Erstaunt sah Katya ihn an. »Du warst doch so tief im Eis wie sonst kaum jemand.«

Johann Silberberg wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Ich habe keine neuen Territorien kartografiert und für eine Nation in Besitz genommen, keine fremden Völker bezwungen und keine Schätze im Inneren der Erde aufgespürt. Wie es aussieht, werde ich noch nicht einmal einen Verleger für mein Kompendium über Eis und Schnee finden.« Ein paar Schritte lang schien er dem Nachhall seiner eigenen Worte zu lauschen. »Eis und Schnee kommen und gehen mit jedem Winter«, fuhr er versonnen fort. »Selten willkommen, sind sie im besten Fall kaum der Rede wert. Und die Gegenden, in denen der Winter ewig währt, sind zu entlegen, zu leer, um wirkliches Interesse zu wecken. Wissensdurst allein ist nicht genug, solange er nicht mit einem höheren Nutzen verbunden ist oder Geld einbringt.«

Katya hatte lange nicht mehr auf diese Weise über das Eis nachgedacht, es tat gut, von Johann daran erinnert zu werden.

Vergnügt gluckste er in sich hinein. »Womöglich wäre es anders gekommen, wäre ich ein schneidiger Abenteurer, der seine Kräfte mit den Elementen misst, allein nur des Risikos wegen. Es sind doch immer die tollkühnen Narren, denen die Herzen zufliegen. Die den Beifall ernten. Nicht die selbstvergessenen Forschergeister, die eher ein bisschen unbeholfen durch das Leben tapsen.«

Katya schmunzelte. Es war eine besondere Nähe zwischen ihr und Johann, auch nachdem sie einander fast sechs Jahre nicht gesehen hatten. Mit zweiundfünfzig Jahren war er jetzt doppelt so alt wie sie. Im Licht der Sterne glänzte das Grau in seinem Bart wie Raureif. Die Nacht verwischte gnädig, was das Wiedersehen bei Tag schonungslos gezeigt hatte. Wie sehr seine Reisen durch die Winter der Welt an ihm gezehrt hatten, das Gesicht wie aus stark gegerbtem Leder und tiefe Falze unter den Augen, die er zu oft gegen die grelle Reflexion des Schnees zusammengekniffen hatte.

»Es scheint aber nicht so sehr das Geschäft zu sein«, bemerkte Johann, »das dir Kopfzerbrechen bereitet.«

Das war es tatsächlich nicht. Obwohl Katya die Bürde auf ihren Schultern trug, hier nicht nur wieder so viel gutes Eis wie möglich aus ihren beiden Seen zu ernten, sondern auch neues Eis zu finden, das es an Qualität und Menge mit dem anderen aufnehmen konnte. Von diesem Winter im Eidfjord hing ab, wie es mit Petersen & Voronin weitergehen würde. Ihren eigenen Lebensunterhalt galt es ebenso zu sichern wie den der anderen Eisbarone, den ihrer Angestellten und Arbeiter und nicht zuletzt das Zubrot, das sich das Hirtenvolk hier im Fjord mit dem Hamburger Eishandel verdiente.

Ein Erwartungsdruck, der für Katya mehr Ansporn als Hemmnis war. Auch wenn sie noch keinen Fuß dort hineingesetzt hatte, wusste sie in ihrem Rücken ein weites und leeres Land voller Seen, die gerade dabei waren zuzufrieren. Ihrem Spürsinn, ihrer Erfahrung konnte sie blindlings trauen. Zumindest, solange es um Eis ging.

Aufmerksam hörte Johann zu, während sie von Betje erzählte, deren zorniger Widerstand gegen Katya in den vergangenen Wochen neu entflammt war; eine kleine Furie, wann immer Katya sie ermahnte oder ihr etwas verbot. Viel zu selten waren die Momente, in denen das Mädchen so etwas wie Zuneigung zeigte. Wenn Katya abends auf dem Sofa vorlas und Betjes Kopf irgendwann an ihre Schulter sank, ihre Atemzüge das wohlige Schnurren einer Katze. Manchmal fasste sie Katya selbstverständlich bei der Hand, weil sie ihr etwas erzählen oder zeigen wollte, oder überraschte sie mit einem blumengeschmückten Kaffeetisch und noch warmem Zuckergebäck.

Und dennoch blieb Betje eine unerbittliche Anklägerin, die Katya schonungslos jeden Fehler vorhielt, den sie machte, jede ihrer Schwächen, jedes Versäumnis. Spannungen, in die inzwischen auch Thilo mit hineingezogen wurde, dem Betje es übel nahm, dass er nicht klar genug auf ihrer Seite stand und gegen Katya hielt.

Nicht einmal Hanno blieb verschont. Keiner Schuld war er sich bewusst gewesen, als er seinen besten Freund in den Holzverschlag hatte einziehen lassen. Der Miete wegen und weil Fiete es zu Hause zu eng geworden war mit sieben kleinen Geschwistern, einem unbeherrschten Vater und einer keifenden Mutter. Regelmäßig klopfte Hanno am Kehrwieder an die Wohnungstür, mit einem am Wiesenrand gepflückten Sträußchen für Betje, einem Haarband oder einem Tütchen Konfekt. Und musste dann doch immer mit hängendem Kopf von dannen ziehen, weil Betje sich in blindwütigem Trotz in ihrem Zimmer verbarrikadierte und sich weigerte, ihn zu sehen.

Wie das Mädchen sich selbst am meisten damit quälte, schnitt Katya ins Herz. Es verging kaum eine Woche, in der sie sich nicht wünschte, Betje hätte früher zu ihnen gefunden. Bevor sich dieses harte und zutiefst schmerzende Narbengewebe über der Wunde gebildet hatte, von ihren Eltern verlassen worden zu sein.

»Dennoch gibst du nicht auf«, versuchte Johann, Katya aufzumuntern.

Ihre Schritte am Ufer entlang waren zu einem Halt gekommen. Die Lage der Siedlung erlaubte keine langen Spaziergänge, nicht bei Nacht; jeder Weg, den man einschlug, endete unweigerlich am Wasser oder führte steil in die Berge hinein.

»Vielleicht habe ich bereits aufgegeben«, murmelte Katya.

Zwischen blankem Hass und fassungslosem Entsetzen hatte der Ausdruck in Betjes Augen geschwankt, als Katya ihr eröffnete, dass sie die kommenden Monate am Neuen Wall verbringen würde, bei den anderen Petersens. Ein Vorschlag von Henny, den Katya nach anfänglichem Zögern dankbar aufgegriffen hatte, sie hatte sich nicht anders zu helfen gewusst.

Sobald das Eis aus den beiden Seen nach Hamburg verschifft war, würde sie ins Landesinnere aufbrechen und bis weit in den März hinein in Norwegen bleiben, vielleicht länger. So lange wusste sie Betje bei Henny in bester Obhut. Es würde dem Mädchen guttun, einige Zeit frei zu sein von dem unentwirrbaren Knäuel aus Liebesbedürftigkeit und zorniger Abwehr, in das sie sich bei Katya und Thilo verstrickt hatte. In einer größeren Familie zu leben, die ihr zwar vertraut war, aber fremd genug, um nicht leichtfertig Machtkämpfe heraufzubeschwören. Vor allem von der Nähe Betjes zu Marie und Jette versprachen sich sowohl Katya als auch Henny einiges für die drei so unterschiedlichen Mädchen.

Nur für drei, höchstens vier Monate , hatte Katya versprochen. Dann bin ich zurück, und du kommst wieder zu uns .

Betje hatte ihr kein Wort geglaubt, das hatte Katya ihr angesehen. Wie ein geprügelter Hund war sie durch die Wohnung geschlichen und bei den Mahlzeiten am Tisch gesessen, schließlich hatte sie ihre Kleider zusammengepackt. Nichts, was Katya noch sagte oder tat, konnte Betje davon überzeugen, dass dies keine Strafe für ihre Aufsässigkeit war und sie sie auch nicht im Stich lassen würden. Es hatte Katya innerlich zerrissen.

Katya legte den Kopf in den Nacken und sog die klare Nachtluft ein. Nach Hamburg, wo sogar der Winter dem Wechselspiel von Ebbe und Flut unterworfen schien, empfand sie die reglose kalte Stille des Fjords umso erholsamer. Hier konnte sie endlich aufatmen.

Die Wahrheit war, dass sie Betje abgegeben hatte wie eine bockige Ziege, die zu viel Aufruhr im Stall verursachte. Damit sie selbst ihr Heil in der Flucht suchen konnte, wenn auch nur auf Zeit. Jede Art von Frieden, den sie hier in Norwegen finden mochte, würde unweigerlich von einem Gefühl der Schuld getrübt sein. Nicht einmal der Zuspruch, den Silja ihr in ihren Briefen geschickt hatte, konnte daran etwas ändern.

Nirgendwo hatte sie je mehr versagt als bei Betje, aber beileibe nicht bei ihr allein.

Sie konnte den Blick nicht vom Mond lösen, der seine schimmernde Bahn durch den Fjord zog. Kein praller und satter Mond war es in dieser Nacht und auch keine schlanke Sichel, die sich selbst genügte. In der Mitte entzweigeschnitten war dieser Mond und wie unvollständig.

»Hast du eigentlich Kinder?«, fragte sie.

Sie hatte Johann nie zuvor danach gefragt, es hatte nie eine Rolle gespielt.

»Zwei Söhne. Schon lange groß und selbst Väter. Und genauso von mir enttäuscht wie ihre Mutter.«

Katya nickte vor sich hin. Jeder schien ganz selbstverständlich Kinder in die Welt zu setzen. Auch hier im Fjord Mokci und Erva, Nasti und Ailo. Sogar Jaska, längst nicht mehr das scheue Mädchen, das damals die Fremden mit großen Augen bestaunt hatte und inzwischen Tores Frau, trug mit offenem Lachen den strammen Jungen umher, den sie im Frühling zur Welt gebracht hatte.

Nur Katya wartete noch vergebens.

Eine Sehnsucht, die ausgerechnet Henny nicht verborgen geblieben war. Vermutlich gab es keine zwei Frauen, die gegensätzlicher waren als Katya und Henny, und was sie gemeinsam hatten, hatte sie lange Zeit mehr getrennt, als dass es sie verband.

Mit Hennys Wochenbett war jedoch einiges anders geworden. In einer unerwarteten Schwesternschaft waren sie einander da begegnet, als die beiden Mütter Maries. Seitdem ließ Henny nichts unversucht, Katya eine gute Freundin zu sein. Nicht nur, was Betje anging, sogar zu ihrem Arzt hatte sie Katya mitgenommen. Nachsichtig geschmunzelt hatte dieser im Anschluss an die Untersuchung und Katya auf väterliche Weise für eine Ungeduld gerügt, die ihr an sich selbst fremd war.

»Ist es das, weswegen du dich grämst?«, fragte Johann behutsam. »Dass sich noch kein Kind angekündigt hat? Du bist doch so jung, Katya, und praktisch noch frisch verheiratet. Und dein Mann steht auch gerade erst so richtig in Saft und Kraft.«

Mit seinem Handschuh strich er ihr zärtlich über die Wange. Wie er es in einer anderen Winternacht getan hatte, zehn Jahre zuvor. Als Katya noch ein junges Mädchen gewesen war und ihn gebeten hatte, sie die Liebe zu lehren. Im Rückblick ein naives Begehren, das sie dennoch einige Jahre danach, erwachsen und gereift, für sich eingefordert hatte.

Es verblüffte sie immer wieder, wie sehr der Altersunterschied zwischen ihnen sich mal auszudehnen, mal zu schrumpfen schien, je nachdem, auf welcher Etappe ihres Lebenswegs sie sich begegneten. Den Lehrer und seine Schülerin hatten sie vor langer Zeit hinter sich gelassen; einen Wimpernschlag lang Liebende gewesen, waren sie einander Vertraute geworden. Auf eine Art, die tiefer ging als die gemeinsame Leidenschaft für Eis und Schnee.

Johann war womöglich schon so lange mit Frau Silberberg verheiratet wie Katya auf dieser Erde war, zweifellos kannte er die Gezeiten einer Ehe. Wie empfindlich die lustvolle Intimität gestört wurde, sobald plötzlich ein Kind mit im Haus war, sei es ein Neugeborenes, sei es ein halbwüchsiges Mädchen, das seine Augen und Ohren überall zu haben schien. Wenn Schwierigkeiten und Sorgen und überlange Tage so stark auslaugten, dass der eine schon tief und fest schlief, bis der andere aus dem Badezimmer zurückkam. Welche Erleichterung es war, sich nach einer Unstimmigkeit in die Arme des anderen zu schmiegen, Abbitte zu leisten und sich gegenseitig zu versichern, dass wieder alles gut war. Gar nicht nach mehr zu verlangen, weil jeder Schritt weiter womöglich den gerade abgelegten Groll wieder hervorholte. Den leisen Kummer, dass der andere die Dinge nicht genauso sah wie man selbst.

Mit Umarmungen und zärtlichen Küssen zeugte man jedoch kein Kind. Der romantische Eifer aus der ersten Zeit ihrer Ehe war ihr und Thilo abhandengekommen, und Katya wusste nicht einmal, ob sie es vermisste, nach all dem Hoffen und Bangen und der ständig wiederkehrenden Enttäuschung.

Johann hätte all das bestimmt verstanden, vielleicht auch einen Rat gehabt. Aber gerade Johann konnte sie es nicht erzählen, der sie immer schon mehr geliebt hatte als sie ihn, auf eine bedingungslose, geduldige und genügsame Weise.

»Du bist nicht jemand, der leichtfertig aufgibt«, stellte Johann fest, einen warmen Glanz in seinen braunen Augen. »Falls du überhaupt jemals aufgibst.«

In der Siedlung begann einer der Hunde in die Nacht hinaus zu heulen, und nach und nach stimmte das ganze Rudel mit ein. Ihre Weise, die Ankunft der Gäste aus dem Süden zu feiern und ihren Seelenverwandten auf der anderen Seite des Sees davon zu erzählen.

Rufe von einer unbestimmten Sehnsucht, und auf wohlige Weise stellte es Katya unter dem Pelzkragen der Männerjacke die Härchen im Nacken auf.

Pawel kam ihr in den Sinn.

Sie hatte den Schirm zurückgebracht, zur überwältigenden Freude von Pies, und war auf einen Tee geblieben. Wiedergekommen war sie dann wegen einer Porzellanschale, die ihr in der Werkstatt aufgefallen war, ein anderes Mal wegen einer Vase und danach wegen eines geschnitzten Schmuckkästchens. Um einen guten Preis dafür auszuhandeln und nach der Herkunft dieser Dinge zu fragen.

Pawels Eisaugen tauten auf, wenn er deren Geschichten erzählte, seine Stimme weich und doch griffig wie die gewalkten Wollstoffe Norwegens. Wie ein Zauberer kam er Katya vor, der Schönheit dort entdeckte, wo andere nur alten Plunder sahen. Der dem Gebrauchten, Abgenutzten und Kaputten ein zweites Leben schenkte, seine kräftigen Hände, die liebkosend über die vernarbten Oberflächen strichen, von einer unerwarteten Sinnlichkeit.

Das vielstimmige Heulen der Hunde ging in unruhiges Jaulen und Winseln über. Jetzt konnte auch Katya die Aufbruchstimmung fühlen, die sich durch die Nacht kräuselte.

»Morgen fahren wir erst einmal hinaus und holen dein Eis«, sagte Johann. »Danach wird sich alles Weitere finden.«

Katya wünschte, alles im Leben hätte die symmetrische Struktur von Eis. Eine solche kristallklare Ordnung.

Загрузка...