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Hamburg schlief.
Kaum zu glauben, bei einer von früh bis spät so umtriebigen und lärmenden Stadt. Bestimmt war irgendwo noch der eine oder andere unterwegs, beseelt, aber mit Gewissensbissen nach einem verbotenen Stelldichein davonschleichend. Als Letzter aus einer Kaschemme hinausgekehrt und nun entweder nicht willens, heimwärts zu torkeln, oder schlicht nicht mehr dazu in der Lage.
Auf dem Ponton unterhalb des Baumwalls bekam Grischa davon nichts mit. Was auch immer in der Stadt jetzt noch vor sich gehen mochte, das Baumhaus , das sich hoch hinter Grischa auftürmte, schirmte ihn davon ab. Bei Tag Zollstelle und Schifferbörse, waren die Fenster jetzt dunkel, selbst für Gasthaus und Konzertsaal war es schon zu spät. Der Wachposten für die Schifffahrt war nachts unbesetzt, und sofern nicht spontan ein Krieg ausbrach oder ein großes Unglück die Stadt heimsuchte, würde auch kein Bedarf für die optische Telegrafenverbindung nach Cuxhaven bestehen.
Hier gab es keine schlaflosen Nachbarn, keine Nachtschwärmer und auch kein lichtscheues Gesindel, dem man unerwartet in die Quere kam. Noch nicht einmal ein Nachtwächter würde sich hierher verirren, um nach dem Rechten zu sehen. Die nahmen es mit ihren Rundgängen ohnehin nie so genau, dösig nach dem Tagwerk ihres eigentlichen Berufs.
Jedes gesprochene Wort, jede getroffene Vereinbarung würde hierbleiben, nichts davon je ans Tageslicht kommen, deshalb war er hier.
Still war es, bis auf das leise Schwappen des Wassers zu Grischas Füßen. Das Plitschen, wenn er eines der Steinchen hineinwarf, mit denen er sich die Zeit vertrieb.
In der teerschwarzen Nacht strahlte die scharfe Mondsichel umso heller und schälte Umrisse heraus. Boote und Kähne im Binnenhafen zu Grischas Linken, die großen Segler entlang der Kais zu seiner Rechten. Sogar die Silhouette des Kehrwieders am gegenüberliegenden Ufer ließ sich ausmachen. Ein wechselhaftes Licht war es in dieser Nacht, immer wieder verdunkelt von Wolkenfetzen.
Hexenmond hatte man in Russland so einen Mond genannt. Weil mit einer solchen Sichel aus Mondlicht die Hexen des Nachts umgingen, um die Fasern zu durchtrennen, die die Seele an den Leib banden.
Grischa war noch nie aufgefallen, wie sehr offenbar auch Hamburg die Nacht fürchtete. Sämtliche Landwege durch die verrammelten Tore abgeschnitten, die Einfahrten zu den inneren Häfen bei Einbruch der Dunkelheit mit Baumstämmen versperrt.
Für Grischa war die Nacht eine Zeit der Konzentration. Die Nacht kannte keine Zwischentöne, in ihr gab es nur Entweder-oder, Alles-oder-nichts. Und um alles oder nichts ging es jetzt. Auf eine Weise, die man nicht am helllichten Tag an einer Straßenecke besprach. Nicht gepflegt in einem Kaffeehaus oder bei einem Bier im Wirtshaus, schon gar nicht in den eigenen vier Wänden.
Manchmal brauchte es die einsame Dunkelheit, um Klarheit zu erlangen. Eine Entscheidung zu erzwingen.
Es hatte eine gewisse Ironie, dass sie damals, nach der Trauung von Christian und Henny oben im Baumhaus zum Essen gewesen waren. Bevor der harte Kern der Hochzeitsgesellschaft an die Kibbeltwiete weiterzog, wo eine angetrunkene Freundin Hennys an Grischas Arm hing und Thilo zur allgemeinen Erheiterung den Brautstrauß aus der Luft fischte, und Grischa einen Wimpernschlag lang so etwas wie Hoffnung verspürte, dass vielleicht auch Thilo Gefühle für ihn hegte.
Thilo, der jetzt in Grischas Wohnung unweit von hier auf und ab ging und bang auf den Ausgang dieser Nacht wartete.
Schritte kamen die Stufen vom Baumhaus herab, selbstsicher und energiegeladen. Ein schlanker und groß gewachsener, junger Mann, der forsch ausschritt, seiner Ausstrahlung bis in die Fingerspitzen und Zehen bewusst, sogar in der Nacht.
Verblüfft sah Grischa zweimal hin, doch er war es, der schöne junge Mann aus der Hafenschenke, dieses Gesicht vergaß man nicht so leicht. Mit dem eleganten Bärtchen um den Mund wirkte er verwegener, als Grischa ihn in Erinnerung hatte, ein forscher Kavalier, ein Weltmann in spe. Grischa verfluchte sogleich die Erregung, die durch ihn hindurchschoss und sich mit beißender Eifersucht mischte.
Er atmete tief durch, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
»Zacharias? Grischa Voronin.«
Zacharias ignorierte Grischas ausgestreckte Rechte.
»Der russische Liebhaber.« Genüsslich ließ Zacharias die Worte auf seiner Zunge tanzen. »Thilo hat mir von Ihnen erzählt.«
Grischa ging nicht darauf ein. »Zacharias also. Und wie weiter?«
Er hatte nicht glauben können, dass Thilo diesen jungen Mann in sein Bett gelassen und ihm Unsummen in den Rachen gestopft hatte, ohne je nach dem Nachnamen zu fragen.
»Zacharias genügt. Haben Sie das Geld?«
»Ich mache dir ein anderes Angebot. Dreitausend Mark und eine Schiffspassage erster Klasse, wohin du willst. Im Gegenzug hören wir nie wieder einen Mucks von dir, und du lässt dich auch nie wieder hier blicken.«
Zacharias war in Versuchung, das sah Grischa ihm an. Doch die Gier, die in seinen Augen aufblitzte, war stärker.
»Sechstausend Mark. Und dann sehen wir weiter.«
Grischa schüttelte den Kopf. »Dreitausend und die Überfahrt. Friss oder stirb.«
Zacharias’ Augen wurden schmal. »Sechstausend. Für den Anfang. Ich habe mir dieses Geld sauer verdient. War nicht immer ein Vergnügen, dafür meinen Arsch hinzuhalten.«
Grischa genoss es, den Trumpf auszuspielen, den Albrecht ihm unwissentlich zugesteckt hatte.
»Es gibt Orte«, sagte er leise, fast schon sanft, »wo sie solche von deinem Schlag Benimm beibringen. Wer sich an jungen Mädchen vergreift und sie anschaffen schickt und kleine Jungs noch dazu, der hat da nicht viel Gutes zu erwarten.«
Nur kurz flackerte es in Zacharias’ Augen auf, dann lächelte er.
»Du wirst mich nicht ans Messer liefern können, ohne auch Thilo die Schlinge um den Hals zu legen. Womöglich dir selbst. Dafür werde ich sorgen. Ich bin gut darin, Geschichten zu verkaufen.«
So arglos, wie er jetzt dreinblickte, glaubte Grischa ihm das sogar.
»Hat irgendetwas davon gestimmt, was du Thilo erzählt hast?«, hakte Grischa nach. »Von deiner trinkenden Mutter und deren prügelnden Männern?«
»Was dich nachts besser schlafen lässt.«
Stumm musterte Grischa den jungen Mann vor sich, wie er kokett den Kopf neigte. An eine Katze erinnerte er, die ihre Beute lange beobachtet und ihre Schwachstellen sucht. Die das lustvolle Spiel mit Zähnen und Klauen genoss und den Gnadenstoß bis ins Unendliche hinauszögert.
»Was jedoch mich brennend interessiert«, fuhr Zacharias leichthin fort, »wie war das für dich, dass Thilo deine Schwester bestiegen hat? Hat dich das eifersüchtig gemacht? Wie oft hast du dir die beiden zusammen vorgestellt?«
Grischa kannte dieses Spiel. Ein Wettstreit, wer die derbste Beleidigung erfand, den anderen am tiefsten kränkte. Seine großen Brüder in Russland hatten sich darin überboten, und auf fast jedem Schiff fing über kurz oder lang einer der jungen Matrosen damit an. Ein Brusttrommeln der Unreifen, Unsicheren. Die Arroganz der Jugend, die sich einen Platz auf der Leiter zu erstreiten suchte.
»Oder hättest du sie am liebsten selbst gevögelt?«, hetzte Zacharias weiter. »Ich könnt’s verstehen. Das ist eine scharfe Braut. Gibt sich kalt wie ein Fisch, aber zeigt man ihr erst einmal, wo’s langgeht, jault sie dabei bestimmt wie eine läufige Hündin.«
Es traf Grischa wie ein Schock, als er begriff, wie jung Zacharias noch war. So jung, wie er schon lange nicht mehr war mit seinen einunddreißig Jahren.
Jetzt sah auch er die Ähnlichkeit, von der Albrecht gesprochen hatte. Zacharias war das, was aus Grischa hätte werden können. Wäre er in Russland geblieben oder auf seinem langen Weg von Sankt Petersburg über die Nordmeere nach Hamburg irgendwo gestrandet. Hätte er nicht so viel vom Glück gesehen, selbst im Unglück noch.
Dünn wie ein Haar war der Schicksalsfaden, an dem sich schied, was für ein Mensch man wurde.
»Sag schon, du toller Hengst«, legte Zacharias nach. »Warst du womöglich schon auf deiner Schwester drauf? Das macht ihr doch so in Russland. Oder hast du’s dort lieber mit Schafen und Ziegen getrieben?«
Fluchend versetzte Grischa ihm einen Stoß vor die Brust. »Geh dich abkühlen.«
Mit rudernden Armen stürzte Zacharias vom Rand des Pontons ins Wasser und ging unter wie ein Stein. Erst einige Herzschläge später kam er prustend an die Oberfläche. Das Lachen, das eben noch aus Grischa hervorgebrochen war, verstummte jäh, als der junge Mann panisch auf das Wasser eindrosch und gurgelnd um Hilfe rief.
Grischa knurrte Verwünschungen gegen sich selbst, während er sich Jacke und Stiefel herunterzerrte und hinterhersprang. Sein Herz setzte für einen Schlag aus, und die Luft blieb ihm kurz weg, so kalt war das Wasser. In kraftvollen Zügen schwamm er zu Zacharias und packte ihn unter den Achseln.
»Schon gut«, schnaufte er, als Zacharias sich in seinen Armen wand. »Ich hab dich. Alles in Ordnung.«
Etwas Hartes bohrte sich in seinen Arm. Wie eine Messerklinge.
Verwirrt lockerte er seinen Griff. Einen Wimpernschlag lang trafen sich ihre Blicke, und Grischa verstand. Zacharias konnte sehr wohl schwimmen, und alles, was zwischen ihm und Thilos Geld stand, war Grischa. Dann warf sich Zacharias auf ihn und drückte ihn in die kalte nasse Dunkelheit hinunter.
Atmen, er konnte nicht atmen, wie Blei lag der Druck auf seiner Brust, während er blind und kältestarr um sich schlug und trat. Er war größer und kräftiger als Zacharias, doch das Wasser schien dieses Ungleichgewicht aufzuheben, sogar umzukehren. Der einzige Halt, den er fand, war an Zacharias. Der ihm jedes Zerren, jeden Boxhieb mit unbarmherziger Gewalt vergalt und ein zweites Mal zustach.
Weich wie Schlingpflanzen strich etwas über Grischas umhertastende Hand. Mit aller Kraft packte er das Haarbüschel, zog sich daran hoch und stemmte sich auf Zacharias’ Schädel in die Höhe. Keuchend und hustend brach er aus dem Wasser hervor und sog tief die Luft in seine Lunge. Zacharias unter ihm quetschte ihm den Brustkorb, rammte sich in Weichteile und gegen Knochen. Grischa biss die Zähne zusammen, ein Brüllen in den Ohren, ein schmerzhaftes Pochen in den Schläfen. In diesem Ringen um die Oberhand, das von einer schrecklichen Sinnlichkeit war, einer todbringenden Erotik und doch nichts als reiner Instinkt.
Das Einzige, was zählte, war, sich nicht wieder hinunterziehen zu lassen, über Wasser zu bleiben, einen Atemzug und noch einen und noch einen.
Alles Gewicht fiel von Grischa ab, plötzlich war er leicht und frei, und die Wellen der Elbe schaukelten ihn schwerelos hin und her.
Grischas Rufe nach Zacharias schallten über das Wasser, das im Mondlicht ölig glänzte und still war, so unglaublich still. Wieder und wieder schöpfte er Luft und tauchte hinab in die Finsternis, fischte blindlings darin herum und musste doch ein ums andere Mal mit leeren Händen wieder aufsteigen, seine ruckartigen Atemzüge an der Oberfläche wie ein Schluchzen.
Die Nacht hatte alles verschlungen, auch den Mond. Arme und Beine aus Eisen, paddelte Grischa Hilfe suchend durch die kalte Schwärze, die ihn immer wieder lockte, einfach loszulassen und Zacharias in die Tiefe zu folgen.
Jemand rief nach ihm, weit draußen in der Nacht. Mit schlackernden Muskeln zog er sich durch das Wasser vorwärts, auf diese Stimme zu, die Rettung sein mochte oder Untergang, aber ihm Halt gab mitten im schwarzen Nichts.
Seine Hand stieß an die Kante des Pontons, und dann waren zwei andere Hände da, stark genug, ihn über die Kante zu zerren. Willenlos ließ Grischa sich in Thilos Arme ziehen und drückte das Gesicht in seine Halsbeuge, weil alles andere keine Rolle mehr spielte. Nur noch, dass Thilo da war.
Trocken gerieben und in einer frischen Hose, ließ sich Grischa von Thilo die Schrammen mit dem Whiskey betupfen, den Albrecht einmal mitgebracht hatte. Fachmännisch besah sich Thilo die Stichwunden in Grischas Arm und Schulter, bevor er zu Nadel und Zwirn griff, mit dem Grischas Reinemachefrau zwischendurch einen abgerissenen Knopf annähte.
»Ist nicht allzu tief«, murmelte Thilo, die Augen konzentriert halb zusammengekniffen. »Wird aber wohl trotzdem eine hübsche Narbe geben.«
»Woher kannst du das?«
»Mach ich auch zum ersten Mal«, erklärte Thilo, seine Worte im selben Rhythmus, mit dem er Nadel und Faden durch Grischas Haut zog. »Aber das Prinzip kenne ich noch von Vadders Bein. Darum habe ich mich ja gekümmert, damals, nachdem Mutter nicht mehr da und Christian so krank war.«
Die Stirn in Falten gelegt, verknotete er die Enden des Zwirns.
»Zacharias …«, begann er zögerlich und hob dann vorsichtig die Augen.
Grischa schluckte und deutete ein Kopfschütteln an. Thilo nickte und senkte seinen Blick wieder.
»Er war nirgends mehr zu finden«, sagte Grischa dennoch, wie um es selbst zu begreifen.
Thilo nickte weiter vor sich hin, sein Gesicht fortwährend in Bewegung, während er die zweite Stichwunde vernähte, die eine eigene Geschichte erzählte.
»Katya darf es nie erfahren«, flüsterte er nach einer Weile.
»Nein, nie. Auch Christian nicht. Und sonst auch niemand.«
Zärtlichkeit schimmerte in ihren Augen auf. Für Katya, die sie beide liebten, jeder auf seine Weise, aber auch für den anderen.
Wie ein Aufatmen ging es durch Thilo hindurch. Er rang sichtlich um Worte, brachte jedoch keinen Ton heraus. Stattdessen traten ihm Tränen in die Augen, und auch Grischas Augen wurden feucht. Unbeholfen strich Thilo über Grischas nackte Schulter, legte Grischa die Hand auf Thilos Wange. Zögerlich zog einer den anderen an sich, hielten sie sich aneinander fest und ließen ihren Tränen freien Lauf.
Um den Jungen weinten sie, der Zacharias gewesen war, und um den Mann, der er hätte sein können. Etliche Tränen galten ihnen selbst. Den jungen Männern von früher, die so unbeschwert, so himmelstürmend verliebt gewesen waren und noch nichts von dem Kummer ahnten, wenn einer zu sehr liebte und der andere seine Freiheit noch mehr liebte. Um die gemeinsamen Jahre trauerten sie, und um die Jahre, die verloren waren.
Mehr als nur ein paar Tränen vergossen sie in dieser Nacht.
Als Thilo sich in den frühen Morgenstunden wieder anzog, während Grischa noch im Bett lag, drehten sie einander den Rücken zu, blicklos und schweigend. Alles war gesagt, der letzte Rest an Sinnlichkeit verraucht und alle Liebe aufgebraucht.
Was blieb, war ein Geheimnis auf dem Grund der Elbe. So erdrückend schwer, dass jeder es allein zu tragen hatte.