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Sattes Abendlicht stahl sich durch die Ritzen oben unter dem Dach. Betje atmete tief den Duft von Mehl und Jutesäcken ein und einen Hauch von Salz, der wie die Aufregung in ihrem trockenen Mund schmeckte.

Noch immer stieg einem hin und wieder der Geruch von Rauch in die Nase, mehr als eine Woche nachdem der Speicher in der Deichstraße in Brand geraten war. Vielleicht auch nichts als Einbildung, eine Erinnerung, die sich in die Sinne geätzt hatte, in den Tagen des Feuers.

Neunundsiebzig Stunden lang hatten die Flammen gewütet, von der Nacht auf Donnerstag bis in den Sonntag hinein, als das letzte brennende Haus gelöscht werden konnte. Von der Deichstraße über Rödingsmarkt und Hopfenmarkt zum Nikolaifleet, bis zur Binnenalster und der Großen Bleichen hinauf war Hamburg abgefackelt, auch Sankt Petri und die Synagoge waren abgebrannt. Vier Dutzend Tote waren zu beklagen, soweit man wusste. Es hätte schlimmer kommen können.

Seither platzte der Kehrwieder aus allen Nähten. Von den Flüchtlingsströmen, die sich ab Freitagmorgen über die Brücken ergossen hatten, hatten nur wenige Menschen danach noch ein Zuhause gehabt, in das sie zurückkehren konnten. Auch Christian und Henny Petersen nicht. Katya hatte ihnen und den Kindern die große Wohnung überlassen und war mit Betje zu Arno gezogen. In ein gemeinsames Zimmer mit Thilo. Betjes Herz schlug jedes Mal freudig, wenn sie daran dachte.

Fast jeder, der konnte, machte ein oder zwei Zimmer frei für die Leute, die alles verloren hatten. Das war Hamburg, wenn es eng wurde, rückte man zusammen. Und genauso typisch war es, dass sie am Sonntag nach dem Dankgottesdienst in Sankt Katharinen die Bretter von den Schaufenstern des Gemischtwarenladens lösten, die Scheiben putzten und die Asche zusammenkehrten, die bis in den letzten Winkel verweht war, Toonbank und Waage polierten. Denn ab Montagmorgen wurde in Hamburg wieder gearbeitet, nahm man das alltägliche Leben genau dort wieder auf, wo es unterbrochen worden war. Emsiger und entschlossener als zuvor, während man in der Innenstadt bereits begann, den Schutt zu beseitigen.

Betje harrte weiter oben auf dem Dachboden aus und lauschte auf jedes Knarzen hinter der Tür zu Hannos Kammer, während sich ihr Magen nervös zusammenzog, ihr Herz bis in den Hals pochte. Sie atmete noch einmal durch, strich sich über ihre beste Bluse, den guten Rock und klopfte an.

»Betje.«

Ein Strahlen brach auf Hannos Gesicht hervor, und mit einem raschen Blick über ihre Schulter zog er sie herein. An die Tür gelehnt, küssten sie sich zärtlich. Wie sie es immer taten, in einem dunklen Winkel des Treppenhauses, im Kabuff hinter dem Laden. Heimliche Küsse, die sie beide mit einem Lachen durch den Tag gehen ließen.

Betje wollte mehr davon. Jedes Mal, wenn sie das Gesicht an seine Brust drückte und sein Herz schlagen fühlte. Wenn er seine Hände um ihre Taille legte und sein Atem über ihren Hals strich. Viel mehr wollte sie davon, deshalb war sie hier.

»So wohnst du also«, flüsterte sie zwischen zwei Küssen.

An Hanno vorbei ließ sie den Blick durch die Kammer schweifen, über den Tisch mit den aufgeschlagenen Büchern und die auf einer Leine trocknenden Hemden, weiter als bis zur Tür war sie noch nie gekommen.

»Manchmal besucht mich eine der Katzen«, murmelte Hanno an ihrem Ohr, und sie musste lachen.

Beherzt fasste sie ihn bei der Hand und zog ihn zu dem schmalen Bett unter der geöffneten Dachluke.

Hanno sperrte sich ein bisschen, sein Adamsapfel ruckte auf und ab.

»Was hast du vor?«

Betjes Gesicht ging in Flammen auf. In Worten brachte sie es nicht heraus, aber Hanno verstand sie auch so.

»Willst du das wirklich? Ist das nicht zu früh?«

Betje runzelte die Stirn.

»Wir kennen uns doch schon so lange.«

Ungläubig und wie trunken lächelte er, weich in den Knien und schwindelig im Kopf.

»Sollen wir nicht lieber noch warten?«, raunte er heiser, sein Körper spielte völlig verrückt.

Betjes Gesicht geriet in Bewegung, ihre Sommersprossen wie Schwärme von Sternschnuppen.

»Ich will dir aber ganz nahe sein.«

Hannos Finger verflochten sich mit ihren. »Das will ich auch, Betje.«

Lange lagen sie einfach nur beieinander, stumm vor Glück und mit sprechenden Augen, einem vielsagenden Lächeln. Mit kleinen Neckereien und innigen Küssen, die nach mehr verlangten. Mutig kamen sie sich vor, nach und nach die Körper zum Vorschein zu bringen, in die sie während der Jahre hineingewachsen waren. Die Geheimnisse zu erkunden, die jeder in sich barg, voller Staunen über den anderen und glücklich über die Freude in dessen Augen. Aufgehoben in einem lange gereiften Vertrauen und getragen von dem aufregend Neuen, sich als Mann und Frau zu entdecken.

Als ob Betje rücklings in einem warmen See trieb, so fühlte es sich mit Hanno an, dabei in den Himmel hinauflächelte, nichts als Sonnenlicht auf ihrer Haut und in ihrem Mund, und selig schloss sie die Augen.

Das erste blasse Licht des neuen Tages sickerte durch die Dachluke herein, ein verwaschener Rest der Nacht. Ein neuer Morgen. Eine neue Welt.

Hannos Kopfkissen brannte lichterloh. Er konnte sich nicht an diesen Locken Betjes sattsehen, nicht genug von ihrem Duft einatmen.

Was für ein Wunder. Ein unbeschreibliches, unfassliches Wunder.

Er war froh, dass er auf Betje gewartet hatte, all die Jahre, auf dieses wilde Mädchen in der Wiese. Dass sie zu ihm gekommen war und ihn bei der Hand genommen hatte, um ihm zu zeigen, wie es war, ganz ineinander zu versinken. Mit niemandem sonst hätte er das erleben wollen. Nur mit Betje.

Ein Lächeln zuckte über sein Gesicht. Sogar ihr Rücken war mit Sommersprossen übersät, ein ganzes Firmament, das sich mit ihrem schlafschweren Atem ausdehnte und wieder zusammenzog. Er wollte sie nicht wecken, er konnte aber nicht anders, er musste mit dem Finger die Sternbilder darauf nachzeichnen, sie mit seinem Mund zählen.

Sein Blick fiel auf die harten Grate ihrer verwachsenen Schulter. Mit einem wehen Gefühl im Herzen strich er sanft darüber und schmiegte sich dann enger an sie.

»Ich wünschte«, flüsterte er in ihr brennendes Haar, »ich könnte dir meinen Arm geben. Aber weil das nicht geht, werden meine beiden Arme immer da sein, wenn du sie brauchst. Immer, Betje. Das verspreche ich dir.«

Hanno pfiff vergnügt vor sich hin, während er die Möhren von verwelktem Kraut befreite und sorgsam stapelte und die neuen Kartoffeln von den gröbsten Erdklumpen befreite. Während er zum wiederholten Mal die Toonbank abrieb und die Bonbongläser im Regal akkurat ausrichtete.

»Da hat jemand heute Nacht wohl nicht allein geschlafen«, ließ sich Arno Petersen unter schweren Schritten und dem Klopfen des Stocks vernehmen.

»Wieso?«, murmelte Hanno verlegen, ein kleines Grinsen im Mundwinkel, das sich nicht unterdrücken ließ.

Arno Petersen zwinkerte ihm zu. »Ich war auch mal jung.«

Mit schuldbewusst eingezogenem Kopf kletterte Hanno die Leiter hinunter. Arno Petersen würde wahrscheinlich nicht so viel Verständnis zeigen, wüsste er, dass Hanno die Nacht mit Betje verbracht hatte, die für ihn wie eine eigene Enkeltochter war. Was Katya oder Thilo Petersen mit ihm machen würden, stellte er sich lieber erst gar nicht vor.

Arno Petersen räusperte sich und kramte in der Kasse herum.

»Du weißt hoffentlich, dass davon die kleinen Kinder herkommen.«

Die Kiste mit dem Lauch in den Händen, blieb Hanno wie vom Donner gerührt stehen. Daran hatte er tatsächlich nicht mehr gedacht, vollkommen betrunken von Betjes Nähe und ihren Küssen, ihrem Duft und ihrer Haut auf seiner.

Einen Wimpernschlag lang sah er sie vor sich, kleine Jungen und Mädchen, die hier durch den Laden sprangen, die Haarschöpfe kupfern und erdbeerblond und rotbraun, mit Betjes Augen und dem kecken Grübchen im Kinn, und sein Herz zuckte glücklich auf.

Kinder, denen er dann erzählen könnte, dass er ihrer Mutter auf einer Wiese in Ostfriesland begegnet war, eines frühen Morgens, sie schlief noch, zusammengerollt wie ein Fuchsmädchen aus dem Märchen. Dass sie ihm als Allererstes einen Faustschlag ins Gesicht versetzt hatte und er da schon hätte wissen müssen, dass sie die Richtige war.

Das Grinsen in seinem Mundwinkel dehnte sich über sein ganzes Gesicht aus.

»Da hätte ich nichts gegen einzuwenden.«

Er setzte die Kiste ab, die ihm plötzlich so schwer vorkam wie der Gedanke, der ihn eben überfallen hatte.

»Ich würde lieber heute als morgen heiraten, Herr Petersen. Nur fehlt mir dazu das Geld. Allein komme ich gut zurecht, aber Kinder kosten eine Menge.«

Mit hochgezogenen Brauen holte Arno Petersen den Hocker hinter der Toonbank hervor, auf dem er sich inzwischen immer mal ausruhte, und ließ sich umständlich darauf nieder.

»Dir gefällt’s hier, nicht?«

Hanno nickte begeistert. »Ich könnte mir keine schönere Arbeit vorstellen.«

Das Holzbein von sich gestreckt, ließ der Gemischtwarenhändler den Blick gedankenverloren durch den Raum schweifen.

Er verging keine Woche, in der er nicht einen Schwank erzählte, der sich einmal hier im Laden zugetragen hatte. Am liebsten mochte Hanno die abenteuerlichen Schilderungen seiner Schmuggelfahrten ins dänische Altona, damals unter Napoleon, mit denen Arno Petersen den Laden über die Hungerzeit gerettet hatte. Der Laden war sein Lebenswerk, Hanno stellte es sich großartig vor, später im Alter auf das zurückzublicken, was man geschaffen und geschafft hatte.

»Ich habe immer meine Jungen hier gesehen«, ließ Arno Petersen sich jetzt leise vernehmen. »Später mal. Dass sie ihn wieder groß machen, nach den dürren Jahren. Stattdessen haben sie ein noch viel größeres Geschäft gegründet.«

In den Stolz auf seine Söhne mischte sich hörbar Wehmut. Derart nachdenklich erlebte Hanno seinen Dienstherren häufiger in den letzten Tagen. Geradezu melancholisch, als wäre mit Hamburg, wie sie es gekannt hatten, auch etwas von seiner Lebenskraft in Asche und Rauch aufgegangen.

»Willst du den Laden übernehmen?«, fragte Arno unvermittelt.

Hanno konnte ihn nur anstarren, das jähe Aufbranden eines Glücksgefühls allzu schnell von der schnöden Realität eingeholt.

»So viel Geld kann ich nicht aufbringen, Herr Petersen.«

»Dann zahlst du es nach und nach ab. Habe ich damals auch so gemacht, war ungefähr in deinem Alter. Wenn du’s richtig anfängst, bist du in ein paar Jahren aus dem Schneider. Ich helf dir auch dabei.«

Hannos Herz schlug wie wild. Als sein Dienstherr die Rechte ausstreckte, musste er nicht lange überlegen.

»Ich sag Thilo Bescheid«, fügte Arno Petersen hinzu, als er sich auf seinem Stock in die Höhe stemmte. »Der kümmert sich um den Vertrag. Und sag endlich Arno zu mir.«

An der Hintertür drehte er sich noch einmal um.

»Ist noch zu früh für Schnaps?«

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